Vor 80 Jahren überfiel die Sowjetunion ohne Kriegserklärung das benachbarte Finnland. An diesen Krieg wurde in der Sowjetunion faktisch nicht erinnert, man erinnert im Westen nicht besonders daran, die Kriegsteilnehmer wurden nicht in sowjetische Schulen eingeladen und sie werden auch nicht in Universitäts-Auditorien eingeladen, um über die Lehren des Krieges zu sprechen. Kollegen aus der ukrainischen BBC-Redaktion haben eine erstaunliche Geschichte über die letzte lebende Teilnehmerin des Finnlandkriegs in Kiew ausgegraben. Das ist die 101-jährige Jekaterina Tolstaja, die nach diesem Krieg zur Invalidin wurde und am Krieg gegen Deutschland teilgenommen hat. Sie hat keine Invalidenrente für Kriegsveteranen bekommen und zwar deshalb, weil der Finnlandkrieg nicht Teil des Großen Vaterländischen Krieges war. Und eine solche Rente beantragen konnte sie erst nach 2015, als das Gesetz über die Dekommunisierung beschlossen wurde und in der ukrainischen Gesetzgebung der Begriff des Zweiten Weltkriegs auftauchte.
Es nicht schwer zu erklären, warum man an den Finnlandkrieg nicht erinnerte. Die Sowjetunion hat diesen Krieg nicht gewonnen, Finnland wurde keine weitere Sowjetrepublik, wie man sich das vorstellte. Die westlichen Länder, die zwei Monate vor Beginn dieses Krieges Deutschland für den Überfall auf Polen den Krieg erklärt hatten, halfen Finnland praktisch nicht, um die UdSSR im Krieg nicht auf die Seite Deutschlands zu ziehen. Aber auch Deutschland half Finnland praktisch nicht, weil dieses Land nach dem Molotow-Ribbentrop-Pakt gemeinsam mit den baltischen Ländern dem Einflussbereich der Sowjetunion zugeteilt worden war. Finnland war praktisch dem Schicksal ausgeliefert und daran zu erinnern ist unangenehm.
Zumal dem Fehlen des „Winterkriegs“ im Gedächtnis auch die Fortsetzung des Geschehens hilft. Im Zweiten Weltkrieg war Finnland mit Deutschland verbündet, seine Truppen eroberten Gebiete, die nach dem „Winterkrieg“ an die UdSSR übergeben wurden und beteiligten sich an der Belagerung Leningrads. Nach dem Umschwung im Krieg entkam Finnland auf wundersame Weise der sowjetischen Besatzung, dafür befand es sich über Jahrzehnte außenpolitisch unter dem Einfluss des Kremls, faktisch opferte es seine außenpolitische Souveränität zugunsten der Bewahrung der Freiheit. Aus dieser Situation konnte es erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entkommen. Woran sollte man also erinnern?
Aber es gibt etwas, woran man erinnern sollte. Die Geschichte des „Winterkriegs“ ist eine echte Schlacht der Illusionen von beiden Seiten, die bis heute nicht beendet ist. Beginnen wir damit, dass unter den Historikern bis heute die Ansicht besteht, dass man, wenn Helsinki auf Stalins Forderungen eingegangen wäre, die Grenze weiter von Leningrad weg zu verlegen und Moskau das geforderte Gebiet übergeben hätte, einen Krieg hätte verhindern können. Und diese Ansicht hält sich bis heute auch im Kreml. 2013 erklärte Putin, dass die UdSSR im Krieg gegen Finnland einfach „einen Fehler von 1917 wieder beheben“ und die Grenze von Leningrad weg verlegen wollte (erinnert das an etwas?). Es ist klar, dass 1939 viele so dachten, dass wenn man einen Fortschritt in den Verhandlungen erzielt hätte, es keinen Krieg gegeben hätte.
Aber das ist eine fehlerhafte Sichtweise, der ein völliges Unverständnis der Motive der sowjetischen Entscheidung zugrunde liegt. Nach der Übereinkunft Stalins und Hitlers sollte Finnland Teil der Sowjetunion werden. Doch darin unternahm Stalin im Unterschied zum rücksichtslos handelnden Hitler nur vorsichtige Schritte, die keinen Krieg voraussetzten. Das heißt, sie erforderten Spezialoperationen von Truppen, darin war Stalin Putin ähnlich. Der Einmarsch in Polen war übrigens auch eine Spezialoperation, das Land war durch die Invasion Hitlers ausgeblutet, die polnische Armee erwartete keinen Hieb in den Rücken. Die UdSSR „rettete“ nur die ukrainische und belorussische Bevölkerung vor dem Krieg in den eroberten Gebieten.
Mit den baltischen Ländern einigte sich die Sowjetunion. Im Unterschied zu Helsinki machten Tallinn, Riga und Kaunas Zugeständnisse an Moskau und ließen die Errichtung von sowjetischen Militärbasen auf ihrem Territorium zu. Diese Stationierung erfolgte genau an den Tagen, in denen die UdSSR Finnland überfiel. Das Kontingent der Roten Armee in Lettland war übrigens zum Beispiel genauso groß wie die lettische Armee. Und tatsächlich erwies es sich als Besatzungskontingent. Darum konnten, als acht Monate später die zweite Etappe der Spezialoperation zum Anschluss von Lettland, Litauen und Estland an die UdSSR begann, die Regierungen dieser Länder Moskau nichts mehr entgegensetzen: der Besatzer befand sich nicht nur an der Grenze der baltischen Staaten, sondern im Inneren ihres Territoriums, in Paldiski, Haapsalu, auf den Inseln Saaremaa und Hiiumaa, in Liepai Ventspils, Priekule, Pitrags, Novoj Vilejka, Alitus, Prienai, Gaižiūnai, Vilnius. Praktisch im Moment der kommunistischen Staatsstreiche in den Ländern des Baltikums waren sie schon besetzt. Und nach diesem Szenario verfährt Putin, indem er die Entscheidung zur Annexion der Krim trifft, offensichtlich nicht 2014, sondern viel früher – als sich die Schwarzmeer-Flotte in ein Besatzungskontingent verwandelte.
Mit Finnland wollte Stalin analog verfahren. Wir wissen nicht, wie die neuen Forderungen des Diktators gelautet hätten, wenn die Finnen seinen Vorschlag zur Grenzverlegung angenommen hätten. Es ist offensichtlich, dass das bei weitem nicht das Ende der Geschichte gewesen wäre. Die Position der finnischen Regierung war geschwächt, dann wäre es möglich gewesen, die Einrichtung von Militärbasen zu fordern, ein Kontingent zu stationieren, den Umsturz und die Vereinigung mit der UdSSR vorzubereiten.
Aber die Finnen waren nicht einverstanden. Und dann beschloss man im Kreml, dass die nächste Phase der Spezialoperation unverzüglich umsetzen müsste. Die Rote Armee marschierte in Finnland ein,um die finnischen Arbeiter und Bauern von der Knechtschaft der Bourgeoisie zu befreien. In den besetzten Gebieten wurde eine Kollaborations-Regierung mit dem Namen „Finnische Demokratische Republik“ gebildet unter der Führung des Leiters der Kommunisten Otto Kuusinen, der sich mit der Bitte um militärische Hilfe an die UdSSR wandte… Das heißt, das ganze Szenario der Vereinigung Finnlands mit der UdSSR – nach dem zukünftigen baltischen Muster – wurde am 30. November 1939 in Gang gesetzt.
Finnland half – ohne Übertreibung – einzig die Selbstaufopferung seiner Bevölkerung. Ein leichter Spaziergang wurde es für Stalin nicht, der Krieg zog sich hin und hörte auf, eine Spezialoperation zu sein. Aber wir sollten nicht vergessen, dass dieser Krieg im März 1940 nicht mit einem unstrittigen Sieg der Finnen endete. Die finnische Regierung musste in die Unterzeichnung des Moskauer Vertrags einwilligen, der die Grenzen des Landes bedeutend veränderte.
Es schien, dass es ein Sieg sei, wenn man einen Teil seines Gebiets opfert, um die Souveränität zu bewahren. Immerhin wurde Finnland im Gegensatz zu Lettland, Litauen und Estland kein Teil der UdSSR, nicht vor und nicht nach dem Zweiten Weltkrieg.
Doch das war noch lange nicht das Ende. In der Sitzung des obersten Rates der UdSSR am 31. März 1940 wurde die Umbildung der ASSR Karelien, die früher zur RSFSR gehörte, zur Karelisch-Finnischen SSR beschlossen und wurden dieser neuen Sowjetrepublik die den Finnen entrissenen Gebiete übergeben, wobei es auf diesem Gebiet keine finnische Bevölkerung gab, da sich keine Finnen fanden, die unter der Besatzungsmacht leben wollten.
Und zum Präsidiumsvorsitzenden des obersten Sowjets der Karelisch-Finnischen SSR wurde… richtig, das Oberhaupt der Kollaboranten-Regierung der „Finnischen Demokratischen Republik“ Otto Kuusinen. Seine Frau erzählte in ihren Memoiren, dass sich dieser Mensch, der sich nach dem Krieg bis zum Posten des Mitglieds des Präsidiums des ZK der KPdSU und Sekretär des ZK für Ideologie „hochdiente“, nur von einem träumte – Präsident Finnlands zu werden. So bestand die Karelisch-Finnische SSR bis 1956 und war die Hülle, die Finnland in der Zukunft schlucken sollte. Stalin rückte von seinen Ansichten gegenüber Finnland nicht ab, genauso wie Putin heute nicht von seiner Sicht auf die Ukraine abrückt.
Nur, dass schon nach etwas mehr als einem Jahr nach der Unterzeichnung des Moskauer Friedensvertrags bereits der Zweite Weltkrieg [sic!] begann und Stalin dann nicht mehr nach Finnland zumute war. Und nach dem Sieg in diesem Krieg dachte er schon nicht mehr an den Anschluss von Territorien, sondern an imperiale Einflussbereiche. Und die Situation, dass die baltischen Staaten wieder in die Sowjetunion zurückkehrten und Finnland Teil der Sphäre des bolschewistischen Imperiums wurde, passte Stalin sehr gut.
Übrigens, wenn die Finnen 1939 aufgegeben hätten, hätte es keinen Einflussbereich und keine „Finnlandisierung“ gegeben. Es hätte eine Karelisch-Finnische SSR gegeben, die ihre Unabhängigkeit im Jahre 1991 zurückerlangt hätte.
Daran sollten die Länder denken, die um ihre Souveränität kämpfen und sich gegen die russische Aggression auflehnen. Man darf sich nicht ergeben, man darf keine Zugeständnisse machen und man darf auch nicht denken, dass das Ende eines Krieges den Verzicht des Kremls auf seine Vernichtungspläne für den ukrainischen oder georgischen Staat bedeutet.
Die Ukraine wird nur standhalten, wenn sie kämpft, sogar wenn sie auf sich allein gestellt ist. Andernfalls wird für ihre Zukunft niemand auch nur eine müde Hrywnja geben.
30. November 2019 // Witalij Portnikow, Journalist
Quelle: Lewyj Bereg
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