Sich darauf einigen, uneinig zu sein
Im November wandte sich vor dem Hintergrund einer weiteren Verschärfung der ukrainisch-polnischen Beziehungen eine Gruppe von politischen Experten beider Seiten, zu denen auch der Autor dieser Zeilen gehört, mit einem Aufruf an die Politiker. Sein Wesen besteht darin, das Grundrecht beider Seiten anzuerkennen, unterschiedlicher Meinung und in Geschichtsfragen uneinig zu sein, dabei aber gleichzeitig weiterhin Lösungen für bilaterale Fragen im Hinblick auf die Zukunft zu suchen. Die Expertengruppe, die von der International Renaissance Foundation (Ukraine) und der Stefan Batory Foundation (Polen) initiiert wurde, hat bereits eine Liste von Empfehlungen für politische Entscheidungsträger beider Seiten herausgegeben, die weiterhin relevant sind. Unterdessen induziert die Dynamik der Ereignisse weitere Überlegungen.
Die polnisch-ukrainischen Beziehungen durchleben die möglicherweise schwierigste Periode seit der ukrainischen Unabhängigkeit und der Befreiung Polens aus dem sowjetischen Machtbereich. Die Widersprüche sind nicht zufälliger Natur und werden nicht schnell ausgeräumt werden, selbst wenn es einen politischen Willen auf der Ebene der Staatsoberhäupter gäbe, da sie die tiefen Prozesse der Evolution der nationalen Identität, die Positionierung beider Völker, oder vielmehr ihrer führenden Schichten, in einer sich verändernden Welt berühren.
Der Unterschied zwischen der Gegenwart und dem vorherigen „Goldenen Zeitalter“ der ukrainisch-polnischen Beziehungen, das ein Vierteljahrhundert andauerte und in den positiven Beziehungen der beiden Völker während der gesamten historischen Periode beispiellos war, wird durch zwei symmetrische Tendenzen gekennzeichnet, die sich parallel entwickelt haben.
Auf der Seite der polnischen Elite sehen wir eine Verdrängung des „Giedroyc-ischen“ Verständnisses [Jerzy Giedroyc, polnischer Intellektueller, einer der geistigen Väter des damals neuen polnisch-ukrainischen Verhältnisses, A.d.Ü.] der Beziehungen mit den östlichen Nachbarn, vor allem den Ukrainern, und den Aufstieg der „kresy-schen“ Ostpolitik [vgl. Kresy, gemeint sind die Sentimente um die verlorenen ehemaligen polnischen Ostgebiete, A.d.Ü.] Polens. Aus dem Partner auf Augenhöhe wird dabei ein Mentor und „Zivilisator“ und aus dem Advokaten [Polen wurde vormals als „Advokat“ der ukrainischen Westintegration bezeichnet, A.d.Ü.] ein Staatsanwalt. Die Unterstützung hört auf, bedingungslos zu sein und wird abhängig von der Bereitschaft der Ukraine, die in Polen vorherrschende historische Vision zu teilen, zumindest, was den Zweiten Weltkrieg betrifft. Wofür brauchen wir dieses korrupte und – was die Reformen betrifft – hoffnungslose Kyjiw, wenn es nicht bereit ist, uns bei der Verbreitung unserer Sicht von Polen und Europa zu helfen? Das Verständnis der fundamentalen Bedeutung einer unabhängigen Ukraine für die sichere Zukunft Polens (unabhängig von historischen Narrativ) nimmt stetig ab.
In der Ukraine sehen wir einen Versuch, „in den Westen zu springen“ – die Vorstellung verbreitend, dass die Rolle Polens als Brücke oder „Advokat“ der Ukraine für die Beziehungen mit dem Westen gar nicht notwendig ist. Wozu brauchen wir dieses unzuverlässige und einflusslose Warschau, wenn wir direkt mit Berlin, Brüssel, London, Washington reden können und dort schneller Verständnis finden als durch die Vermittlung der derzeit dominierende Gruppe kompromittierter und undemokratischer Euroskeptiker, die bei weitem nicht überall im Westen willkommen sind? Die Anerkennung der fundamentalen Bedeutung Polens für die europäische Zukunft der Ukraine nimmt immer verschwommenere Züge an.
Beide Tendenzen sind nach Ansicht des Autors falsch, sie müssen in Diskussionen überwunden, aber als objektiver Faktor des gegenwärtigen historischen Moments betrachtet werden.
Die Geschichte hat begonnen, eine unverhältnismäßige Rolle in den Beziehungen beider Länder zu spielen.
Auf der ukrainischen Seite wird die Kristallisierung der nationalen Identität durch den Konflikt mit Russland beschleunigt und radikalisiert. Im Rahmen dieser Identität spielen die Symbole, die den Kampf um nationale Befreiung und Unabhängigkeit verkörpern, eine wichtigere Rolle als früher. Historisch stand ein bedeutender Teil dieser Charaktere in Gegnerschaft zu Polen, jedoch ist in der gegenwärtigen ukrainischen Realität die ehemalige „antipolnische“ Bedeutung dieser Symbole vollständig verschwunden. Etwa ist es bei diesem derzeitigen ukrainischen „Mainstream-Ding“ vollkommen kompatibel, mit Polen zu sympathisieren und gleichzeitig Bandera zu respektieren, während es jedoch in einem Mainstream-Polen tiefe kognitive Dissonanzen und Missverständnisse erzeugt.
Auf der anderen Seite erlebt Polen seinerseits eine Renaissance der nationalen Identität. Ein integraler Bestandteil dessen ist die Kanonisierung einer bestimmten Wahrnehmung tragischer Geschichte, insbesondere der Wolhynien-Tragödie im Jahr 1943, die von den meisten Polen als Völkermord betrachtet wird. Das heutige Polen begnügt sich nicht mehr mit der Formel der Versöhnung, die bis vor kurzem für solche historischen Konflikte universell schien: „Wir vergeben und bitten um Vergebung.“ der jedwede Handlungen politischer Führer, die darauf abzielen, die polnischen Opfer zu ehren, werden vom polnischen Mainstream als unaufrichtig und unangemessen angesehen, wenn sie nicht auch von der Bereitschaft begleitet werden, ihre eigenen Ansichten über historische Ereignisse zu anzupassen (wie etwa im vergangenen Jahr, als Präsident Poroschenko persönlich das Denkmal für die Opfer der Wolhynien-Tragödie ehrte).
Anders als in der Ukraine, wo es einen spezifischen historischen Grund für ein scharfes nationales Gefühl – einen Konflikt mit Russland – gibt, ist in Polen nicht alles so offensichtlich. Vielen in der Ukraine sind die Gründe für die scharfe Wende Polens zu einem konflikthaften Paradigma im Verständnis der polnisch-ukrainischen Beziehungen unverständlich. Um es in der Sprache des Kinos auszudrücken, versteht man in Kyjiw oft nicht, warum aus dem Polen „Mit Feuer und Schwert“ das Polen „Wolhynien“ wurde, und das ganz besonders während der schweren Prüfungen, denen das Schicksal der Ukraine derzeit unterzogen wird (im Gegensatz zu Polen, wo man ein friedliches und sattes Leben führt). Darin liegt die akute Zurückhaltung begründet, in die Logik des Nachbarn einzutauchen.
Der Mangel an Verständnis für die Ursachen kann jedoch keine Entschuldigung für Blindheit oder das Ignorieren des Offensichtlichen sein. Polen wird ebenso wenig in die Tage Kwasniewskis zurückkehren können wie die Ukraine in die von Kutschma oder Janukowytsch.
Ob unsere polnischen Freunde es wollen oder nicht, die Ukrainische Aufstandsarmee (UPA), ihre ideologischen Führer und Kommandeure sind ein integraler Bestandteil der gegenwärtigen „Mobilisierungs“-Version der ukrainischen Identität gegen die aggressive Politik Russlands. In einer unmittelbaren historischen Perspektive, solange der ukrainisch-russische Konflikt andauert (und er wird lange andauern), gibt es keinen Grund zu erwarten, dass die Identitäts-Verkörperung des bewaffneten Unabhängigkeitskampfes zur Zeit des Zweiten Weltkriegs aus der ersten Reihe des neuesten heroischen Pantheons der Ukrainer verschwinden wird.
Ebenso sollten die Ukrainer nicht erwarten, dass die Polen der vorherrschenden ukrainischen Interpretation der UPA-Geschichte zustimmen oder von ihrer Wahrnehmung der Wolhynien-Tragödie von 1943 als absichtlichen Völkermord an der Zivilbevölkerung Polens durch Ukrainer (und nicht als symmetrischen ethnischen Konflikt und gegenseitig provozierter ethnischer Säuberung, wie das von der ukrainischen Seite gesehen wird) abgehen.
Mittelfristig ist es durchaus möglich, eine gewisse gemeinsame Vision widersprüchlicher Seiten der Geschichte zu bilden. Sie kann als Ergebnis eines langen Dialogs von Historikern entstehen, wie es in den 50 Jahren des letzten Jahrhunderts zwischen Deutschland und Frankreich geschah. Auf den Erfolg dieses Prozesses wird man jedoch höchstwahrscheinlich noch eine ganze Weile warten müssen.
Früher entschied man üblicherweise ganz richtig, „die Geschichte den Historikern“ zu überlassen, Formate wurden für den historischen Dialog etabliert, wo Professionelle von beiden Seiten versuchten, wenn gemeinsame Positionen nicht erreicht werden konnten, dann doch wenigstens die jeweilige Position für die andere Seite möglichst klar und verständlich zu machen.
Tatsächlich hat die Ukraine das Modell des Instituts des nationalen Gedenkens von Polen abgeschaut – eine Institution, die das „offizielle“ historische Narrativ formt, sich um Archive und Erhaltung von Gedenkstätten kümmert. Der Dialog zwischen diesen beiden Institutionen sollte fortgesetzt werden, wobei beide Parteien vermeiden sollten, Druck auf die Personalpolitik des jeweils anderen auszuüben.
In der Zwischenzeit sollten die ehrwürdigen Institutionen, die auf beiden Seiten das nationale Gedächtnis pflegen, nicht die Rolle der Außenministerien übernehmen. Historiker sollten nicht De-facto-Schlüsseldiplomaten werden und unabhängig Entscheidungen treffen, die einen erheblichen Einfluss auf die gesamten polnisch-ukrainischen Beziehungen haben können. Gleichzeitig dürfen Diplomaten nicht die Rolle von professionellen Historikern einnehmen.
Unter den gegenwärtigen Bedingungen ist es notwendig, den historischen Dialog fortzusetzen, ihm aber gleichzeitig den entscheidenden Einfluss auf die bilateralen Beziehungen der politische Ebene zu nehmen. Historiker sollten langfristig die Mission auf sich nehmen, wo es möglich ist, eine gemeinsame historische Denkweise bei kontroversen Fragen zu entwickeln, und wo nicht, von parallelen, nicht verfeindeten Konzepten. Fehlender Erfolg dieses Dialogs darf jedoch nicht dazu führen, dass die gesamte Agenda der polnisch-ukrainischen Beziehungen untergraben wird.
Gleichzeitig wäre es eine gute Idee, die Erhaltung und Ehrung von Gräbern von Ukrainern in Polen und von Polen in der Ukraine als eine politische (und nicht historische) Frage auf diplomatische Ebene zu heben und zu lösen.
Mögen die Polen ruhig mit dem Begriff der „Besetzung“ (wie es auf einem Schild im Lwiwer Museum „Gefängnis auf Lackiego“ steht) für die Rolle Polens in der westlichen Ukraine der Jahre 1918-1919 nicht einverstanden sein, genauso wie die Ukrainer mit dem „Völkermord“ in Bezug auf Wolhynien im Jahr 1943 nicht einverstanden sind. Nur kann das nicht zur Rechtfertigung dafür werden, dass beide Seiten nicht in der Lage sind, eine konstruktive Agenda für die bilateralen Beziehungen der Zukunft und einen würdigen Platz beider Völker in Europa und der Welt zu schaffen.
22. November 2017 // Oleksandr Sushko
Quelle: Dserkalo Tyzhnya