Wahrscheinlich haben schon alle diesen Begriff gehört – „innere Okkupation.“ Ich habe ihn kürzlich auf einem kleineren Treffen im Zentrum der ukrainischen Hauptstadt gehört. Freilich war dieses Treffen als große, sehr große Zusammenkunft geplant, aber die inneren Okkupanten hatten ganz niederträchtig die breiten Massen der Ukrainer in den Urlaub geschickt. Daher war es den patriotischen Kräften nicht gegeben, das volksfeindliche Regime zu überwältigen.
Doch woher kommt überhaupt dieser Begriff? Schauen wir in die Geschichte.
Vor langer Zeit unterschrieb Simon Petljura mit Josef Piłsudski einen Vertrag, gemäß dem Ostgalizien und Westwolhynien unter polnische Herrschaft fielen. Dafür half Polen der Ukrainischen Volksrepublik, Kiew zu befreien – und sogar Browary… Lange dauerte es freilich nicht und die Bolschewiki vertrieben die polnischen und ukrainischen Truppen und die Ukrainische Volksrepublik hörte faktisch auf, im geografischen Plan zu existieren. Ostgalizien und Westwolhynien verblieben damit Bestandteil Polens. Viele Historiker bezeichnen diese Periode als „polnische Besatzung.“ Im Prinzip kann man sie auch so behandeln, aber zunächst müsste man erst einmal, mindestens, Petljura beschuldigen und den weiter oben erwähnten Vertrag denunzieren.
Nichtsdestotrotz führte sich die polnische Republik auf den Gebieten der heutigen Westukraine auf wie ein Elefant im Porzellanladen. Sie hinterließ eine wunderbares Beispiel, wie man sich in einer komplizierten Situation nicht verhalten sollte. Die ukrainische Bevölkerung wurde in der Tat gedemütigt (wenn auch nicht so stark wie im benachbarten Rumänien oder besonders in der stalinistischen Sowjetunion), was einen hervorragenden Grund schuf, die Herrschaft Warschaus als Okkupation zu betrachten und den integralen ukrainischen Nationalismus zu entwickeln. Man kann nicht sagen, dass die integralen ukrainischen Nationalisten die politischen Methoden der polnischen Republik verurteilt hätten. Im Gegenteil: Sie hielten die Methoden für viel zu sanft. In einem künftigen ukrainischen Staat planten sie die Schaffung einer ethnisch wie ideologisch homogenen Gesellschaft (Wen es interessiert: Lesen Sie die Sammlung „Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) im Jahr 1941: Dokumente Teil 1) und alle übrigen würde man einfach beseitigen.
Die Methoden, mit denen diese Übrigen beseitigt werden sollten, planten die Nationalisten der OUN bei den Bolschewiki auszuborgen. Über das Strafrecht der Bolschewiki schrieben sie etwa folgendes: „Man wird allenfalls die Definitionen umstellen müssen und all das, all diese Erschießungen und die Tscheka auf die Feinde, die der Ukraine schaden, anwenden.“ (Seite 102 in oben angegebener Sammlung) Allerdings war es ihnen nicht möglich, Macht über die gesamte Ukraine zu erlangen. Für einige Zeit kontrollierten die Banderaanhänger die ländlichen Regionen Wolhyniens. Wie sie dort mit den Feinden umgingen, kann man etwa in den Betrachtungen Daniel Schumuks lesen: („Dort lebt niemand. – Und was ist das? Eine polnische Hütte?, fragte ich. – Nein, keine polnische. Dort haben unsere Leute gelebt. Vor zwei Wochen sind sie irgendwohin verschwunden. – Was heißt das, verschwunden?, fragte ich aufgeregt. – Naja, am Abend waren sie noch da, aber in der Nacht sind sie irgendwohin verschwunden, sagte traurig und mit einem offensichtlichem Anflug von Reue die Bäuerin.)
Mit einem Wort, Sie verstehen schon. Solange die Macht entweder in Warschau, in Berlin oder in Moskau liegt, ist alles einfach: Es gibt einen äußeren Feind, einen Besatzer und es gibt das unterdrückte ukrainische Volk. Man muss die Besatzer loswerden und das Volk (mit Ausnahme der Verräter, die man alle erschießen muss) fühlt sich selbst als Herr und kommt, die helle Zukunft eines integralen Nationalismus zu errichten.
Während des gesamten Krieges hegten die revolutionäre (Bandera-)OUN und ihr Umfeld Hoffnungen auf einen allgemeinen, nationalen Befreiungsaufstand. Aus dem wurde dann nichts: Die Ukrainer Galiziens und Wolhyniens, wie auch ihre Brüder aus den östlichen Gebieten, gingen mehrheitlich in die sowjetischen Kolchosen und Fabriken zum Arbeiten, anstatt für einen freien und unabhängigen ukrainischen Staat den Aufstand zu proben.
Aber am 24. August 1991 verkündete der oberste Rat der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik die Unabhängigkeit. Und irgendwie kam es so, dass die breiten Massen keinen besonderen Bedarf hatten, bei den demokratischen Wahlen die Politiker eines integralen Nationalismus zu unterstützen. Stattdessen hatten sie große Lust, Populisten zu unterstützen – „erfahrene Ökonomen“, „europäische Integratoren“ oder „Reformatoren“ – und sogar Janukowytsch unterstützten sie bisweilen. Was soll man hier machen? Offensichtlich gibt es hier ein Konflikt des Wünschenswerten und des Tatsächlichen: Als ob dort nicht der polnische Pan mit seiner Peitsche stünde, als ob der bolschewistische Kommissar nicht auf die Schläfe zielte – sondern das Volk schlicht irgendwie nicht versteht, was die einzig richtige Lösung ist! Wer ist schuld? Klar, nicht das Volk. Schließlich ist das Volk (die Nation) vom Standpunkt des integralen Nationalismus das Absolute, eine facettenreiche Gestalt, deren Interessen wichtiger sind als die Interessen jedes einzelnen Menschen.
Unter diesen Bedingungen entsteht dann auch dieser jener Begriff: „Innerer Okkupant“. Mit Hilfe von Google finden wir eine Definition auf der Seite des „Rechten Sektors“: „Innere Okkupation – das ist jene Form der Unterjochung, bei der sich das Volk unter der böswilligen Macht nicht fremder Unterdrücker, sondern innerer, volksfeindlicher und antinationaler Kräfte befindet, welche die politischen Rechte der einheimischen Nation (und das sind fast 80 Prozent der Bevölkerung) zu einem Minimum reduzieren, die staatlichen Strukturen übernehmen und ausschließlich für ihre Interessen ausnutzen, genauso wie den Finanzsektor, die Wirtschaft, die Medien des Landes; welche versuchen, unsere unterdrückte Nation künstlich zu teilen und zu demoralisieren, zu denationalisieren und zu zerstören, auf das es unmöglich werde, unter dem Wappen ihrer nationalen Idee den Befreiungskampf sowie den eigenen, nationalen Staats- und Volksbildungsprozess zu begründen.
Also, das Volk, (die Nation) ist eigentlich prima, es wird ihm nur keine Chance gegeben, sich zu entfalten – es wird betrogen. Der primitive Kult des Konsumismus! Dank den Intrigen der inneren Okkupanten denken die Ukrainer lieber darüber nach, wo und wie sie mehr Geld verdienen könnten, wo sie günstiger Konsumgüter und Nahrungsmittel kaufen können, wo einen annehmbaren Sexualpartner finden, wie sie sich vergnügen und erholen können.
Den integralen Nationalisten erscheint der dieser Stand der Dinge unnatürlich. Sie sind sicher, dass der natürliche Zustand der Ukrainer ist, sich zusammen um eine allen gemeinsame, ukrainische Sache zu kümmern, die primitiven Interessen des Konsumismus dabei abwerfend. Diese Idee, um konkret zu werden, hatte seinerzeit der zweifelhafte Pol Pot fast bis zu ihrem Idealzustand realisiert: Eine monoethnische Gesellschaft, die gemeinsam am Aufbau einer gerechten sozialen Ordnung im Land arbeitet. Geld und Handel schaffte er vollständig ab. Klar, in unseren Breiten sieht Gerechtigkeit anders aus, aber das grundsätzliche Problem ist das gleiche: Wie erklärt man dem einzelnen Ukrainer, dass er nicht über den Kauf eines neuen iPhones, Fahrrades oder Vorstadthäuschens nachzudenken hat, sondern vielmehr zu kämpfen hat für die hellen Ideale eines Kriegers im Kampfe für das Glück seines Volkes und dessen Freiheit?
Jemand mag fragen: Und was ist dann der Maidan? Was war unsere Revolution der Würde?
Ich möchte daran erinnern, wie alles anfing: Mit dem Wunsch, nach europäischen Regeln zu leben. Nach den Regeln einer Konsumgesellschaft. Einer Gesellschaft, wo jedes Individuum Rechte hat und keine politische Kraft das Recht, „all jene zu erschießen und die Tscheka auf die Feinde anzuwenden”. Dann kamen die Ereignisse auf der Hruschewskyj- und auf der Instituts-Straße, die Himmlische Hundertschaft. Und dann begann der Krieg.
Und was sehen wir? Das ukrainische Volk stimmt für den Eigentümer des Süßwarenherstellers „Roshen“, den „erfahrenen Ökonomen“ Petro Poroschenko. Und für die Partei mit seinem Namen stimmt es ebenfalls. Und nach allen Umfragen will es nach Europa, wo man es offensichtlich „künstlich teilen, demoralisieren, denationalisieren und vernichten“ wird. Und kein Abriss von Lenin-Denkmälern und keine Prospekte, die zu Ehren Banderas umbenannt werden, ändern diesen „nichtige, bourgeoise, Privatbesitz haltende“ Art von Mentalität – beschrieben nach sozialistischer Terminologie.
Daher entsteht mir ein Verdacht – möglicherweise völlig bedeutungslos und unbegründet – das, in ihrem Wesen, die innere Okkupation in Wirklichkeit die Okkupation einer imaginierten, integral-nationalistischen Ukraine vom tatsächlichen ukrainischen Volk ist. Von einem Volk, das nicht besonders gerne im Gleichschritt geht, welches es nicht liebt, wenn die Regierung sich in die persönlichen Angelegenheiten einmischt und welches sich genau so schnell Götzen schafft, wie es sie hinterher wieder umstößt.
Die Unterstützer des Begriffes „innere Okkupation“ wollen in der Tat nicht, dass die Quelle der Macht in der Ukraine das ukrainische Volk ist. Ihnen schwebt vielmehr ein Land vor, welches unter der Herrschaft einer kleinen Anzahl ideologisch einwandfreier, integraler Nationalisten wäre, die dem Volk verkünden würden, wie es zu sein hätte – und in seinem Namen herrschen könnten.
Aber man muss sich einfach nur klar machen, was Freiheit bedeutet – es ist vor allem die Verantwortung für seine Entscheidungen und besonders seine Fehler. Die Ukrainer sind heute ein wirklich freies Volk, sie wählen jene Regierung, die sie wählen wollen. Irgendjemand, unbestritten, würde gern diese Freiheit und diese Verantwortung ersetzen durch eine zweifelhafte „Gewissheit auf den morgigen Tag.“ Letztlich wird Freiheit von jedem anders verstanden. Muslime, zum Beispiel, sind überzeugt, dass es Freiheit ist, wenn Frauen eingehüllt sind in lange, schwarze Gewänder. Die Frau ist befreit von den lüsternen Blicken der Männer und die Männer sind frei von sündiger Versuchung.
Aber Fakt bleibt Fakt: Niemand zwingt uns, jene politischen Parteien zu erschaffen, welche in unserem Land erschaffen werden. Niemand zwingt uns, für jene Politiker zu stimmen, für die wir überwiegend stimmen. Das ist unsere Wahl, unsere Freiheit und unsere Verantwortung. Und wenn wir uns beklagen wegen ihrer Fehler, dem wirtschaftlichen Verfall und dem Krieg – dann ist das eine Folge unserer Kurzsichtigkeit und Naivität und ganz sicher keine „innere Okkupation. Aber es ist eben leichter, an Märchen zu glauben, als an sich selbst zu arbeiten.
25. August 2016 // Pawlo Subjuk
Quelle: Zaxid.net
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