Ein Situationsbericht, eine Woche nach Beginn des Hochwassers


Gemäß dem Ukas #682 des Präsidenten Wiktor Juschtschenko vom 28. Juli wurden einige vom Hochwasser betroffene Regionen in den westlichen Oblasten zur Zone einer außerordentlichen ökologischen Situation erklärt. Das Dokument sieht die Beseitigung der Folgen der Naturkatastrophe in kürzester Zeit vor. Doch, wie sich die Korrespondenten des “Kommersant-Ukraine” Bogdan Skawron und Weronika Sawtschenko selbst überzeugten, haben die Einwohner der vom “großen Land” abgeschnittenen Ortschaften in der Iwano-Frankiwsker und Lwiwer Oblast bislang noch nichts von der Wirksamkeit des Präsidentenerlasses wahrgenommen.

Ohne Verbindung zur Außenwelt

Eine Transportverbindung mit der Großzahl der Ortschaften des Werchowinsker Rajons (Iwano-Frankiwsker Oblast) ist sogar jetzt, eine Woche nach Beginn des Hochwassers, nur über die Luft möglich. Der Weg, der die Kreisstadt Werchowina mit den Ortschaften Bystrez, Topiltsche, Selene, Jawirnyk, Schibene und Burkut verbindet und 30km durch das Tal des Tschernyj Tscheremosch führt, ist nicht passierbar. Stellenweise gibt es ihn nicht mehr: vom Wasser weggespült. Lockere Schlammhaufen, von Muren auf den übriggebliebenen Teilstücken des Weges hinterlassen, wurden sogar für Fußgänger zu schwerpassierbaren Barrieren. Gigantische Erdrutsche versperren den Weg: an einigen Stellen sind mit der Erde 80-jährige Tannen/Fichten abgegangen.

“Irgendjemand beschuldigt die Förster darin, dass aufgrund der Abholzung des Waldes an den Berghängen nicht genügend Bäume stehen, um das Wasser zurückzuhalten. In Wirklichkeit gibt es genügend Bäume, um das Wasser zu halten. In Wirklichkeit gibt es genügend Bäume, nur war es zuviel Wasser. In meinem Revier unweit der Ortschaft Schibene ist etwa ein Hektar Erde zusammen mit hundertjährigem Wald abgegangen!”, erzählte dem “Kommersant-Ukraine” der Förster der Krasnyzker Forstwirtschaft Michail Schatruk. Dieser Erdrutsch ist immer noch gefährlich. Er setzt seine Bewegung fort, damit drohend, den Tschernyj Tscheremosch zu blockieren. Wenn dies geschieht, dann steigt der Fluss erneut und in den angrenzenden Siedlungen gibt es eine weitere Überschwemmung. Solcherlei “lebendige” Erdrutsche gibt es in den Bergen nicht wenige. Einer von ihnen riss die Sommerküche und den Stall des 70-jährigen Einwohners der Ortschaft Selene, Iwan Maksymjuk, fort und bewegt sich jetzt auf dessen Haus zu. “Er kommt direkt aufs Haus zu. Abends ist es unheimlich: kein Strom, im Hof ist es dunkel, ohne Licht nicht zu sehen, wohin man im Notfall rennen kann.”, beklagte sich gegenüber dem “Kommersant-Ukraine” dessen Frau.

Abends brennt in Selene elektrisches Licht nur in einigen Höfen, die Mehrheit der 700 Höfe ist in Dunkelheit gehüllt. Elektrizität haben diejenigen, welche in guten Zeiten Benzingeneratoren, “dwishki” wie man hier sagt, erworben haben. Die übrigen leben mit Kerzen. Doch offensichtlich werden auch in baldiger Zeit die “dwishki” aussetzen: die “vorsintflutlichen” Benzinvorräte, mit denen sie funktionieren, gehen in der Ortschaft zur Neige und bis zur nächsten Tankstelle sind es weglose 30km zu Fuß.

Am Tschernyj Tscheremosch steht auch die Ortschaft Schibene. Hier ist der Hauptverlust das zweistöckige Gebäude der ehemaligen Kantine des holzverarbeitenden Kombinates. Fenster, Türen, Mauerreste dieser Anlage schaukeln sich zwischen Balken im Flussbett. Kurz vor dem Hochwasser wurde die Kantine für den Empfang von Touristen umgenutzt und “für Euro” saniert. Man erwartete Gäste, doch diese werden nicht mehr kommen. Als der Damm am nicht weit entfernten Wasserbecken brach, wurde das Gebäude abgetragen. Es gibt auch kein Wasserbecken mehr, wo die örtlichen Einwohner hofften Forellen züchten zu können.

Die Bevölkerung von Selene ist vollständig abgeschnitten von der Außenwelt, doch tröstet sie sich damit, dass ihre Vorfahren “unter den gleichen Bedingungen lebten und überlebten”. Die eigenen Kräfte reichen sogar nicht für die Wiedererrichtung der Fußgängerbrücken über den Fluss, der gerade die Einwohner des rechten Ufers vom zentralen Teil der Ortschaft – mit den Verwaltungsgebäuden, dem Feldscher- und Geburtshilfepunkt und den Geschäften – auf dem linken Ufer trennt. Übrigens, in den örtlichen Geschäften kann man praktisch nichts mehr kaufen. Übrig blieben nur Rindfleischkonserven, hartes Gebäck, Säfte in Tetrapacks und Essig. Gleichzeitig handeln Spekulanten rege in Selene und anderen Ortschaften. Die Flasche Bier verkaufen sie für 4,50 Hrywnja (ca. 60 Eurocent), die Schachtel Winston kostet 10 Hrywnja (ca. 1,33 €) und die Schachtel “Prima” 2,5 Hrywnja (ca. 33 Eurocent). “Wenn Du fragst, warum es so teuer ist, antwortet man Dir: ‘Wenn Du es nicht willst, brauchst Du es nicht zu nehmen’. Aber rauchen möchte ich – wir haben hier Sachen durchlebt, dass es die Nerven nicht aushalten.”, klagte der örtliche Einwohner Iwan Selentschuk.

“Wem erweist man hier Hilfe – den Leuten oder dem Territorium?”

Das Problem der Versorgung mit Dingen des täglichen Bedarfs versucht die Regierung mit Hilfe von Armeehubschraubern zu lösen. Für den Transport von Nahrungsmitteln und die Evakuierung von Menschen, welche medizinische Hilfe benötigen, wurde die Hubschrauberbrigade aus Iwano-Frankiwsk mobilisiert. Doch die lokalen Einwohner wissen nicht, wann ein Hubschrauber zu ihnen kommt. Sie gehen dem Lärm nach, welcher von weitem hörbar ist, um dabei zu helfen die Säcke mit Mehl, Zucker, Getreide und Hefe auszuladen. Das zieht sich nicht länger als 15 Minuten: die Piloten beeilen sich so sehr, dass sie nicht immer die Rotoren ausschalten.

“Ich verstehe nicht, wem hier Hilfe erwiesen wird: den Leuten oder dem Territorium? Die Piloten schenken den Leuten keinerlei Aufmerksamkeit.”, beschwerte sich beim “Kommersant-Ukraine” der Odessit Andrej, welcher gemeinsam mit der Frau und zwei einjährigen Zwillings-Töchtern zur Erholung in die Karpaten kurz vor vor dem Hochwasser kam. Im Laufe einer Woche hat er nicht erfahren, an wen er sich zwecks Hilfe wenden kann. Am Ende wartete er den Helikopter ab und versuchte sich mit den Piloten über die Evakuierung seiner Familie zu einigen. Doch man wollte ihn erst gar nicht anhören. Am 2. August gelang es Andrej dennoch seine Familie mit dem unerwartet auftauchenden Hubschrauber des Wohltätigkeitsfonds Rinat Achmetows “Raswitije Ukrainy/Entwicklung der Ukraine” zu evakuieren.

Über die Besonderheiten der Evakuierung aus den betroffenen Kreise berichtete dem “Kommersant-Ukraine” die Mitarbeiterin des Fonds Swetlana Panjuschkina, die Koordinatorin für Hilfserweisungen an die Betroffenen in Werchowina. “Bei einigen Leuten brach Panik aus. Es kommt vor, dass an Bord lokale Einwohner mit der Forderung sie herauszubringen stürmen. Mich hat heute einer ins Gesicht geschlagen und dabei die Lippe aufgeschlagen. Doch wir haben strenge Anweisung: evakuiert werden nur Frauen mit Kindern, Kranke und Gebärende. Die Regierung gab uns Schutzleute – Kämpfer der Spezialabteilung ‘Berkut’. Mit ihnen ist es ruhiger”.

“Not ist bei uns, Herr, erbarme Dich uns sündhafter und strafe nicht.”

Im Unterschied zu den Ortschaften des Werchowiner Kreises in der Iwano-Frankiwsker Oblast, bleiben 116 Häuser und 1.500 Hektar der Ortschaft Girske in der Lwiwer Oblast überschwemmt. Die Alteingesessenen erinnern sich: das letzte Hochwasser gab es 1998, doch dessen Maßstab ist nicht vergleichbar mit dem heutigen Hochwasser. Die Brücke, welche Girske teilt, rettete viele Einwohner der Ortschaft – über diese gingen sie zu den Nachbarn auf das rechten Ufer, welches nicht überschwemmt ist. Dort ging die Katastrophe gleichsam und nicht tosend vor sich: die Häuser sind sauber und hell, die Gärten gepflegt und auf den Höfen sind Hühner, Gänse und Enten. Im Zentrum der Ortschaft, bei der Brücke, ist der Stab des Katastrophenministeriums aufgebaut. Auf der Brücke hat sich fast der gesamte Ort versammelt, beobachtend, wie die Mitarbeiter des Katastrophenministeriums das Wasser abpumpen. Jeden Tag registrieren die Einwohner, um wie viel das Wasserniveau sinkt. Die alten Mütterchen bekreuzigen sich und flüstern: “Not ist bei uns, Herr, erbarme Dich uns sündhafter und strafe nicht.”

Die Retter setzen damit fort aus dem Wasser die Leichen von Füchsen, Maulwürfen und Ratten zu fischen. “Es gibt jetzt weniger Ertrunkene, doch es gibt sie noch.”, erzählen sie. Die Einwohner der Ortschaft bitten die Mitarbeiter des Katastrophenschutzes um Boote, um zu ihren Häusern zu gelangen und zu überprüfen, was übrig geblieben ist. “Schreiben Sie meinen Familiennamen auf und das all mein Hab und Gut vernichtet ist.”, wandte sich an den “Kommersant-Ukraine” die Einwohnerin der Ortschaft, Jekatherina Bystrowa. Innerhalb von einigen Sekunden versammeln sich beim Korrespondenten des “Kommersant-Ukraine” einige Dutzend Einwohner, durcheinander um das Gleiche bittend. “Das Hochwasser wurde uns von Gott gegeben, für die Laster der Leute. Man muss Geduld haben.”, sagte dem “Kommersant-Ukraine” die 70-jährige Anna Maksymiw.

“Das Wasser wird rund um die Uhr abgepumpt. In einigen der überschwemmten Häuser fiel die Wasserhöhe bereits um 1-3 cm. Unser Leiter des Gemeinderates, Wladimir Duditsch, arbeitet wie ein Sklave. In seinem Hause sind die Mitarbeiter des Katastrophenschutzes untergekommen und werden verpflegt. Was für ein Mensch ist uns von Gott gegeben worden!”, freute sich die 70-jährige Einwohnerin Marija Grynziw. Sie erzählte, dass sie bei Julia Timoschenko um Boote und Anglerstiefel bitten möchte.

Die “Robinsonin” aus Girske die Einwohnerin der Ortschaft Malye Lipizy, neben Girske gelegen, die 71-jährige Anastassija Roj, hat ihr Haus nicht verlassen. Zu ihr kam per Boot die Tochter, um bei der Wirtschaft zu helfen. Der stellvertretende Leiter des Katastrophenschutzes in der Lwiwer Oblast, Walentin Dorofejew, teilte dem “Kommersant-Ukraine” mit, dass die Mitarbeiter seiner Behörde ständig Kontakt zu den Frauen halten: “Wir rufen sie an, bringen ihnen Wasser und Lebensmittel. Die ersten Tage des Hochwassers wohnte Anastassija Roj auf dem Dachboden. Dann kam ihre Tochter. Sehen Sie, so leben die Leute.”

Das Haus von Anastassija Roj ist von allen Seiten von Wasser umgeben. Die Hausherrin stand auf dem Hof bis zur Hüfte im Wasser, doch über die Gäste freute sie sich. “Oj, meine Lieben. Kommen Sie rein, jetzt werden wir Tee trinken.”, lud sie ein. “Nu, wohin soll ich hingehen.”, erklärt sie, warum sie in der Hütte blieb. “Ich habe Enten, Gänse, ich muss mich um sie kümmern. Wenn man mir eine Wohnung an einer anderen Stelle des Ortes geben würde. Ein Häuschen, ein Stückchen Erde, dann würde ich umziehen. Doch so – wozu? Wenn ich es verdient habe für meine Sünden zu sterben, dann soll es so sein.”, sagt Anastassija Roj.

Lokale Einwohner bekräftigen, dass das Wasserniveau nicht vor einem Monat sinkt. Walentin Dorofejew macht eine optimistischere Prognose: “wenigstens 10 – 14 Tage sind notwendig”. Gut, dass 1992 im Ort ein Torfdamm gebaut wurde, er hielt dem Wasserdruck stand. Doch die Schleuse ist durchbrochen worden. Es zeigte sich, dass jemand der Einwohner ein Ventil für seine Bedürfnisse gestohlen hatte. Geschehen ist dies vor langer Zeit, doch man erinnert sich daran, als das Wasser die Häuser überflutete. Hier haben Sie den menschliche Faktor.

Quelle: Kommersant-Ukraine

Übersetzer:   Andreas Stein  — Wörter: 1750

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