Sturm der Berliner Mauer: Warum der ukrainische Außenminister Deutschland besuchte


„Der erste Besuchstag in Berlin. Schwere Gespräche zu Nord Stream 2, dem Normandie-Format. Die einzige Regel bei beiden Themen – nichts ist endgültig vereinbart worden, bislang ist nichts abgestimmt. Deutschland – ein Freund, welcher der Ukraine viel geholfen hat, mit dem man sogar die schwierigsten Probleme lösen kann“, schrieb Außenminister Dmitri Kuleba [ukr. Dmytro Kuleba] auf Twitter, dabei den Beginn der zweitägigen Reise nach Deutschland kommentierend.

Doch wie die gemeinsame Pressekonferenz der Chefs der ukrainischen und deutschen außenpolitischen Ämter, Dmitri Kuleba und Heiko Maas, zeigte, hat auch der zweite Verhandlungstag die Positionen Kiews und Berlins bei solchen Fragen wie Nord Stream 2, der Lieferung von Waffen an die Ukraine und die Unterstützung Deutschlands bei der Gewährung des Beitrittsplans zur Nato nicht angenähert. Jede Seite blieb bei ihrer Meinung. Dabei versuchte Maas die deutsche bittere Pille zu versüßen, indem er erklärte, dass der Gastransit über die Ukraine auch nach der Fertigstellung von Nord Stream 2 gewahrt bleiben sollte.

Die Ironie und der Sarkasmus Kulebas, der Deutschland dafür dankte, dass es seine Aufmerksamkeit auf die politische Regelung im Donbass richtet und gleichzeitig seine Hoffnung darauf aussprach, dass „niemand, niemals bedauern wird, dass der Ukraine nicht geholfen wurde ihre Verteidigung dafür zu stärken, dass sie Putins vom Wunsch anzugreifen abhält“, ist die Illustration der wachsenden Enttäuschung Kiews, die in letzter Zeit immer offensichtlicher wird.

Erinnern wir daran, dass der Sekretär des Nationalen Rates für Sicherheit und Verteidigung der Ukraine, Alexej Danilow [Olexij Danilow], erklärte, dass Deutschland und Frankreich teilweise verantwortlich für die Besetzung der Krim sind, da sich Russland, nach der Weigerung der Ukraine den Beitrittsplan zur Nato 2008 zu geben, zum Angriff entschlossen hatte. [Gemeint ist der Nato-Gipfel 2008 in Bukarest, bei dem sich Frankreich und Deutschland gegen eine Nato-Beitrittsperspektive für die Ukraine und Georgien ausgesprochen haben. Die Annexion der Halbinsel Krim fand allerdings erst 2014 statt. A.d.Ü.] Davor gab es vielzahlige Äußerungen des Botschafters in der BRD, Andrej Melniks [ukr. Andrij Melnyk]. Dabei kritisierte er Berlin öffentlich für das Verbot der Lieferung von Defensivwaffen an unser Land.

Diese Kommentare ukrainischer Amtsträger werden in Berlin schmerzhaft aufgenommen. Vielleicht erleichtert die Ukraine Deutschland sogar den „ukrainischen Koffer“ wegzuwerfen: den Informationen des Serkalo Nedeli nach sprechen die Deutschen davon, dass eine derartige öffentliche Kritik an die Adresse Deutschlands die bilateralen Beziehungen negativ beeinflussen könnte. Zumal ukrainische Amtsträger und Diplomaten damit fortsetzen harte Äußerungen zu machen.

Die Frustration Kiews, das sich in einigem verraten, anderswo verkauft fühlt, kann man verstehen: es ist schwer, ruhig auf den Zynismus des Tuns oder Nichttuns der deutschen Regierung zu reagieren. Doch wird sich die Position Berlins in den nächsten Monaten nicht ändern.

Einer der Gründe besteht darin, dass die Ukraine selbst mehrfach den westlichen Partnern vielzahlige Anlässe gab, ihr zu misstrauen. Ein anderer – Deutschland hat eigene zu verteidigende Interessen. Drittens – Berlin setzt damit fort, Kiew vor allem durch das Prisma Moskaus zu betrachten. Denn Russland ist ein großes Land mit Atomwaffen, einem großen Verbrauchermarkt und aussichtsreichen Investitionsprojekten.

In letzter Zeit sprechen die Deutschen immer öfter davon, wie der eine oder andere Schritt von den Russen aufgenommen wird, ob die eine oder andere Handlung zu einer Eskalation der Situation im Donbass führt. In Berlin ist man wie gehabt von der Richtigkeit der Entscheidung auf dem Bukarester Nato-Gipfel überzeugt und geht davon aus, dass die Gewährung eines Beitrittsplans Russland lediglich provoziert und zu einer Verschärfung der Situation im Osten führt.

Und auf der Pressekonferenz hat Maas die Position der BRD zu Waffenlieferungen an die Ukraine so kommentiert: „Als wir zusammen mit Herrn Le Drian (Chef des Außenministeriums von Frankreich) Herrn Lawrow anriefen, um die Möglichkeit eines Treffens im Normandie-Format zu beeinflussen, in dem Deutschland und Frankreich die Rolle eines Mittlers haben werden, wenn ich während dieses Telefongesprächs gesagt hätte, dass wir beschlossen haben, einer der Konfliktseiten Waffen zu liefern, dann, denke ich, wäre das Gespräch um einiges kürzer gewesen, als es tatsächlich war.“

Und natürlich wäre es erstaunlich, wenn Berlin seine Position zu Schlüsselfragen für die Ukraine radikal geändert hätte, wenn Deutschland faktisch in die Wahlkampfzeit eingetreten ist, Ende Juni im Bundestag die letzte Sitzung stattfindet und bereits am 26. September im Land Parlamentswahlen stattfinden.

Also lohnte es sich für Kuleba nach Deutschland zu reisen, wenn die derzeitige Koalitionsregierung nur noch wenige Monate existiert? Lohnte es sich zu fahren, wenn man in Kiew von diesem Besuch keine Durchbrüche und angenehme Überraschungen erwartete? Darunter in der Frage des weiteren Funktionierens des Normandie-Formats und eines möglichen Treffens der Normandie-Vier auf der Ebene der Chefs der außenpolitischen Ämter, insoweit es keinerlei Sicherheit gibt, dass im Kreml der Wunsch besteht, Lawrow zu diesen Verhandlungen zu schicken.

Unsere Gesprächspartner – aktive und im Ruhestand befindliche Diplomaten – heben hervor: die Ziele der Reise Kulebas beschränkten sich nicht lediglich auf die Demonstration eines Dialogs zu den Fragen von Nord Stream 2, der Gewährung des Nato-Beitrittsplans für die Ukraine und so weiter. Wichtig war die Herstellung von Kontakten zu deutschen Politikern, als auch dass die Vertreter der Christdemokraten, der Grünen, der Freien Demokraten und der Sozialdemokraten noch einmal die Hauptbotschaften der Ukraine hörten: in Kiew hofft man sehr, dass die ukrainischen Ambitionen sich in den Wahlprogrammen der deutschen Parteien widerspiegeln. Darunter in Bezug auf die europäischen Perspektiven unseres Landes.

Eine Prognose bezüglich der zukünftigen Koalition in Deutschland zu machen, ist eine undankbare Aufgabe. Aber den Angaben der jüngsten Umfrage von Forsa nach liegt das Rating von CDU/CSU zum heutigen Tag bei 27 Prozent, wo zur gleichen Zeit das Unterstützungsniveau ihrer Hauptgegner von den Grünen bei 22 Prozent liegt, SPD und FDP erhalten jeweils 14 Prozent, die AfD 9 Prozent und die Linke 6 Prozent. Innerhalb von vier Monaten können sich diese Ziffern nicht nur einmal ändern.

Bisher ist die wahrscheinlichste Koalition eine schwarz-grüne. (Dabei existiert eine kleinere Chance, dass eben die Führerin der Grünen, Annalena Baerbock, der Regierung vorstehen wird.) Von der Koalition der Christdemokraten und der Grünen, die man in Kiew als eine der für die Ukraine günstigsten ansieht, ist ein radikaler Neustart der Politik der Bundesregierung zu erwarten. Experten sind sich sicher, dass das auch in der Frage von Nord Stream 2 geschehen wird, gegen welche die Grünen sind. Es ist nicht erstaunlich, dass man in Kiew Hoffnungen darauf setzt, dass eben die Grünen das Projekt blockieren könnten.

In dieser Situation ist unbekannt, inwieweit aktuell die Idee Berlins bleibt, die Einwände Kiews bezüglich Nord Stream 2 im Austausch für große Investitionen in die ukrainische Industrie aufzuheben. Darunter in Projekte, welche die Produktion und Speicherung von Wasserstoff betreffen. Den Informationen des Handelsblatts nach, ist eines von ihnen sogar bereits zwischen Siemens und der DTEK von Rinat Achmetow in diesem Jahr vereinbart: Es ist vorgesehen, dass im Mariupoler Metallkombinat ein Elektrolyseapparat mit einer Leistung von 8,5 Megawatt installiert wird.

Bei dieser Variante ist auch die Nutzung des ukrainischen Gastransportsystems für den Transport von Wasserstoff in europäische Länder möglich. Die Frage besteht darin, inwieweit das technisch möglich und wirtschaftlich gerechtfertigt ist. Übrigens bekräftigen Experten, dass Wasserstoff bereits in zehn Jahren eine bedeutende Rolle in der Wirtschaft spielen wird.

Schließlich fand das Gespräch des ukrainischen Ministers mit den Deutschen vor den Verhandlungen von Joe Biden und Angela Merkel statt, die das Projekt Nord Stream 2 und die Folgen des Baus zu diskutieren beabsichtigen. Und wie sehr Kiew auch von den Handlungen Berlins enttäuscht sein mag, demonstrierte die Verstärkung des amerikanisch-deutschen Dialogs, dass unser Land dessen unverzichtbarer Teilnehmer sein muss. Andernfalls werden die Interessen der Ukraine ignoriert.

11. Juni 2021 // Wladimir Krawtschenko

Quelle: Serkalo Nedeli

Übersetzer:   Andreas Stein  — Wörter: 1245

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