Auf der Suche nach der eigenen Ukraine



Vor drei Jahren war der Unabhängigkeitstag der Ukraine voll von Tragik, beschwingter Stimmung und unverfälschter Einung. Seit dem haben sich die Akzente merklich verschoben. Und jetzt stehen Enttäuschung, Missstimmung, Zwietracht, Streit über Emigration und gegenseitige Anschuldigungen im Trend. Nicht selten ist zu hören, dass es uns an Zusammenhalt mangelt. Dass die Ukrainer zu verschieden bleiben und darin unser Elend liegt. Dass Heterogenität und Pluralismus beinahe das Land zugrunde richteten und es zu Putins Beute machten.

Doch lohnt es sich etwas tiefer zu graben und diese These lässt sich leicht widerlegen. Die Vielfalt hat die Ukraine nicht verletzlich gemacht, sondern sie gerettet. Warum hat die „russische Welt“ in der Ukraine 2004, 2013 und 2014 ein Fiasko erlitten? Warum erwiesen sich die Pläne und Berechnungen der Kremlstrategen als unzulänglich?

Hauptsächlich deswegen, weil Millionen ukrainischer Staatsbürger, die Moskau nach formalen Anzeichen zum eigenen Aktiv zählte – Herkunft, Sprache, Kultur, verwandtschaftliche Beziehungen – plötzlich die zur Russischen Föderation gegensätzliche Position einnahmen und sich der Expansion des Nachbarn widersetzten.

Das stand in direkter Verbindung mit der harten Vereinheitlichung der „russischen Welt“. Die ehemalige Metropole bot der Bevölkerung der Ukraine einen fertigen Satz an Werten an, dabei keinen Schritt Abweichung gestattend. Doch stellte sich heraus, dass die Mehrzahl der Leute die heimatliche russische Sprache nicht in einer Garnitur mit Putin, Janukowitsch, Rechtlosigkeit, Willkür und Obskurantismus brauchten. Man braucht kein Gedenken an die Großväter von der Front zusammen mit der Rehabilitation von Stalin, der Lobpreisung des menschenfresserischen Regimes, eines aus dem Ruder laufenden Militarismus und Revanchismus. Man braucht auch keine guten Beziehungen zu den russischen Verwandten und Bekannten im Bündel mit dem Kolonialstatus und dem Verzicht auf die Eurointegration.

Und die „russische Welt“ ließ keine Wahl: Entweder nimmst du sie im Ganzen, so, wie sie ist oder du komplettierst automatisch die Reihen der Verräter, Bandera-Leute und amerikanischen Dorfmatratzen.

Dafür ließ die unabhängige Ukraine eine Wahl: die junge, sich vor unseren Augen formierende und sich nicht ganz gefundene. Sie war hinreichend groß, um Menschen mit sehr verschiedenen Vorlieben und Überzeugungen unterzubringen. Sie war offen für die unterschiedlichsten Hoffnungen und Vorstellungen über die Zukunft. Sie gab jedem eine Chance, der sich mit ihr identifizierte – unabhängig von Herkunft, Sprache, Glaubensbekenntnis und Ansichten. Und deswegen hat Russland mit jedem Jahr potenzielle Anhänger verloren und die Ukraine diese hinzugewonnen.

In den Jahren 2013-2014 gingen Hunderttausende Bürger auf dem Maidan und halfen der Front nicht wegen der Ukraine Pjotr Poroschenkos oder der Ukraine Wladimir Wjatrowitschs (nationalistischer Chefhistoriker der derzeitigen Regierung, A.d.Ü.) Jeder von uns handelte für seine eigene einzigartige Ukraine, die er in der Zukunft zu erlangen hoffte. Aber wie stark auch sich unsere Vorstellungen von der eigenen Ukraine unterschieden, alle begriffen wir, dass es sie im Fall des Sieges der vereinheitlichten „russischen Welt“ nicht mehr geben wird. Eben das half uns durchzuhalten.

Vor drei Jahren hielt die „ukrainische Welt“ dem Druck Moskaus dank der eigenen Vielfalt, Weite und Offenheit stand. Das Gefühl der Einigkeit und Geschlossenheit, das wir in den Tagen des Maidans und die ersten Monate der russischen Aggression erfuhren, war Folge dieser Mannigfaltigkeit. Doch sobald versucht wurde diese Liebe zur Ukraine zu vereinheitlichen, uns alle in das Prokrustesbett legend, gelangten Widersprüche und Gegensätzlichkeiten nach außen. Wir können uns in Rechte und Linke, Liberale und Konservative, Regierungsanhänger und ihre Kritiker teilen – doch das für sich hindert nicht an einem gesellschaftlichen Dialog und dem Finden eines modus vivendi.

Gegenwärtig ist die prinzipielle Teilung anderer Art. In diejenigen, die bereit sind zur Co-Existenz der eigenen Ukraine mit einer Vielzahl anderer und diejenigen, die meinen, dass ihre Ukraine die einzig mögliche ist. Wo auch immer sich eine zwangsweise Vereinheitlichung abzeichnet – in der Politik, der Wirtschaft, den sozialen oder kulturellen Sphären – sie bedeutet immer eines: den Verzicht auf das Recht die eigene Ukraine zu erlangen.

Der National-Chauvinist gestattet einem Menschen anderer Herkunft und anderer Kultur nicht, seine Ukraine zu finden. Der autoritäre Politiker erlaubt Anhängern anderer Ansicht nicht ihre Ukraine zu finden. Der Monopolist nicht den kleinen und mittleren Unternehmen. Der stumpfsinnige Staatsbedienstete gönnt die eigene Ukraine nicht dem Bürger, der ein qualitativ anderes Leben anstrebt.

Die einheimischen Vereinheitlicher versuchen die Gesellschaft vor die gleiche harte Wahl zustellen, wie auch die Theoretiker der „russischen Welt“: Entweder ihr akzeptiert die vorliegenden Gegebenheiten oder ihr werdet zu Abweichlern. Euch ist eine finstere und intolerante Ukraine nicht recht? Oder eine korrumpierte und rückständige Ukraine? Oder eine Ukraine, die Schritt für Schritt die Stellschrauben anzieht? Doch kann es keine andere geben! Die Heimat wählt man nicht! Liebt sie oder verschwindet von hier!

Entgegen der gängigen Meinung, reduziert sich die Alternative nicht auf das sprichwörtliche „weggehen oder nicht weggehen“. Ja, die Unmöglichkeit die eigene Ukraine zu finden kann zur Emigration ins Ausland führen: zum Glück ist die umgebende Welt groß und vielfältig. Doch nicht weniger wahrscheinlich ist eine innere Emigration, wenn der Bürger, der im Land bleibt, sich in einen Fremdling verwandelt und sich nicht mehr mit dem ukrainischen Projekt verbunden fühlt. Es versteht sich, dass man aufrichtig glauben kann, dass die Vereinheitlichung das unbrauchbare menschliche Material aussiebt, das nicht würdig ist sich „Ukrainer“ zu nennen. Obgleich in der Realität alles genau umgekehrt ist.

In erster Linie werden die besten – initiativreiche, kreative, freidenkende – ausgesiebt. Dafür bleiben wahrscheinlich die passiven und talentlosen Konformisten. Diejenigen, die nicht einmal versuchen ihre Ukraine zu finden, sondern einfach nur mit dem Strom schwimmen – ohne Anstrengung, ohne Überzeugung, ohne Traum. Diejenigen, die bereit sind ihre Liebe zu jeder angebotenen Ukraine zu imitieren, da sie nicht in der Lage sind wirklich zu lieben.

Vor drei Jahren ging es um das Überleben des Landes, jetzt geht es um die Zukunft. Vom ewigen Verbleiben in den Hinterhöfen der Dritten Welt oder dem hartnäckigen Drängen nach vorn. Und die Perspektiven unseres Staates hängen davon ab, wie viel einander nicht widersprechende Ukrainen auf ihrem Territorium Platz finden werden. Wie viele mannigfaltige Vorlieben, Wissen und Können es gelingt, im Rahmen eines zivilisatorischen Projektes zu vereinen. Wie viele einander nicht gleichende Menschen es vermögen ihre eigene einzigartige Ukraine zu finden – in der Politik und in der Wirtschaft, in Kunst und Wissenschaft, in der Bildung und den Streitkräften, in der eigenen Stadt und dem Dorf, in bürgerschaftlicher Aktivität und dem Privatleben.

Schlussendlich nennt sich eben das Freiheit.

24. August 2017 // Michail Dubinjanskij

Quelle: Ukrainskaja Prawda

Übersetzer:   Andreas Stein  — Wörter: 1036

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