Auf der Suche nach der verlorenen Gerechtigkeit
In den zwei Jahren des unerklärten Krieges fanden sich die Ukraine und Russland in Parallelwelten. Unsere Ansichten zum hybriden Konflikt unterscheiden sich derart, dass sogar mit den patentierten russischen Oppositionellen schwer ein Dialog zu führen ist.
Jedoch etwas in der Bewertung der Vorgänge verbindet viele in der Ukraine und Russland. Sowohl die einen als auch die anderen suchen im Kriegselend irgendeine höhere Gerechtigkeit. Aus dem Krieg versucht man ein erbauliches Sujet zu formen, in dem jeder für seine Verdienste erhält und in dem die Opfer selbst an ihrem Unglück schuld sind.
In Russland ist man überzeugt, dass die ukrainischen Ereignisse die gesetzmäßige Vergeltung für den Sturz von Wiktor Fjodorowitsch Janukowitsch ist: „Ihr seid auf dem Maidan gehüpft? Nehmt territorialen Verlust, ökonomischen Zusammenbruch und Hrywnja-Abwertung. Gott ist kein Naivling und sieht alles!“ Und bei uns ist die Sichtweise populär, nach der das Leiden der Einwohner des Donbass eine verdiente Strafe für die Unterstützung Janukowitschs und Putins ist: „Ihr habt von der russischen Welt geträumt? Nehmt zerstörte Häuser, Hungerrationen und bewaffnete Banden. Gott ist kein Naivling und sieht alles!“
Das ist nicht nur einfach Häme, sondern der Versuch der psychologischen Rationalisierung. Der Krieg beginnt nicht wie ein blutiges Chaos auszusehen, sondern wie eine langersehnte Katharsis. Alles ist gesetzmäßig, alles begründet, alles entsprechend der Gerechtigkeit! Die Sünder werden bestraft und das Gute triumphiert.
Insofern jeder überzeugt ist, dass seine Sache rechtmäßig ist, stellt er sich das siegreiche Happy End als unvermeidlich vor. In einer solchen Realität zu leben ist sehr komfortabel – besonders dem infantilen Kämpfer auf der Couch.
Doch lohnt es sich nüchtern auf die Ereignisse der vergangenen zwei Jahre zu schauen und dieses bequeme Bild bricht zusammen. Sowohl in der russischen als auch in der einheimischen Version.
Der Mythos der Nachbarn über die gesetzmäßigen Folgen des „verfassungsfeindlichen Umsturzes“ zerschlägt sich leicht. Es reicht daran zu erinnern, dass in Nord-Transsilvanien nach der Hinrichtung des legitimen Ceaușescu keine höflichen ungarischen Leute auftauchten.
Für das Blutbad 1993 in Moskau und den Beschuss des legitimen Obersten Sowjets folgte keine Rückkehr von Königsberg in den Heimathafen. Nach dem Sturz des legitimen Akajew (2005 in Kirgisistan, A.d.Ü.) sprach niemand von der „Junta in Bischkek“.
Und das ist nicht verwunderlich, da der ukrainische Krieg nicht das Resultat der Revolution ist, sondern die willkürliche Entscheidung eines Menschen, der den Deus ex Machina spielen wollte.
Mehr noch ernten die Untertanen Wladimir Wladimirowitschs (Putin) selbst, die nicht auf den Maidanen hüpften, und ihm auf den Mund schauen, bereits seit langem die Früchte des Putin’schen Militärabenteuers. Anstelle von Belohnungen für den Gehorsam erhielt der Durchschnittsrusse eine zusammenbrechende Wirtschaft und einen sich entwertenden Rubel.
In ihrer Gesellschaft leiden die Schützlinge von Lukaschenko und Nasarbajew mit, die zur Ukraine keinerlei Beziehung haben. Gar nicht zu reden davon, wie stark der Krieg im konterrevolutionären Donbass einschlug. Was im Allgemeinen sich nicht in die verdiente Strafe für die Kiewer Aufrührer einfügt.
Leider Gottes ist unser eigener Mythos – die Zivilbevölkerung des Donbass zahlt für ihre Sünden – um gar nichts besser. Am Anfang des Krieges überwogen in Donezk und Lugansk überhaupt nicht prorussische Aktivisten, sondern gewöhnliche Durchschnittsbürger. Sie saßen zu Hause und haben sich nirgendwo eingemischt. Einige bezichtigten sie der verbrecherischen Passivität, doch gibt es ein sehr wichtiges „aber“.
Im Frühling 2014 saß die Mehrzahl der Einwohner von Charkow, Odessa, Dnepropetrowsk, Saporoschje und Cherson auch zu Hause und hat sich nirgendwo eingemischt. Zum Glück hat in eben jenem Odessa oder Charkow der aktive proukrainische Kern gesiegt, der seine Stadt – gleichzeitig auch die passive Masse der Bürger– vor dem herannahenden Übel verteidigte. Und im Donbass behielt die separatistische Minderheit die Oberhand, die das Schicksal aller anderen vorgab.
Auf die Art hat der durchschnittliche Charkower oder Odessaer einfach Glück – im Unterschied zum durchschnittlicher Donezker oder Lugansker. Und es ist dumm zu meinen, dass die einen untätigen Durchschnittseinwohner ein Leben ohne Artilleriebeschuss verdient haben und die anderen nicht.
Ein Triumph der Gerechtigkeit ist nicht zu beobachten, sogar wenn man die reaktionärste Gruppe der Bevölkerung betrachtet: Rentner, die zu den Referenden auf der Krim und im Donbass eilten. Denn danach fand sich der Donezker Rentner am Rande des Überlebens wieder und der Simferopoler erhielt die gewünschte russische Rente, welche die ukrainische um das Dreifache übersteigt.
So ist es nur gekommen, da man im Kreml von Anfang an den beiden Regionen unterschiedliche Rollen zuwies: die Krim als Ehrentrophäe und Schaufenster der russischen Welt, der Donbass als Instrument des militärischen Drucks auf die Kiewer Regierung. Und diese Rollenverteilung hing nicht von der Stimmung und den Handlungen der örtlichen „Watte“ (abwertender Ausdruck der russischen Opposition für verarmte Putin-Anhänger, später in der Ukraine übernommen für Russlandanhänger und Maidangegner, vergleichbar mit der deutschen Unterschichtsdebatte, A.d.Ü.) ab. Die einen hatten erneut einfach Glück, andere nicht.
Das willkürliche Spiel mit Menschenschicksalen ist typisch für jeden kriegerischen Konflikt. Führen wir ein charakteristisches Beispiel an. Nicht alle wissen, dass am 9. August 1945 die Atombombe ursprünglich über Kokura abgeworfen werden sollte – einem großen Zentrum der Militärindustrie. Um 9:20 Uhr war die amerikanische B-29 mit dem „Fat Man“ an Bord an Ort und Stelle.
Jedoch am Morgen erwies sich Kokura fast vollständig von Wolken bedeckt und drei Anflüge auf das Ziel endeten mit nichts. Erst danach wurde beschlossen das Reserveziel zu bombardieren – Nagasaki. Dort gab es ebenfalls eine starke Bewölkung, doch im letzten Moment konnte der Richtschütze zwischen den Wolken das Stadtstadion entdecken, das als Orientierung für den Bombenwurf diente.
Von da an tauchte in Japan das Sprichwort „Glück haben wie Kokura“ auf. Und im glücklosen Nagasaki kamen etwa 70 000 Menschen um.
Wodurch hat sich das Verhalten der Einwohner Kokuras vom Verhalten der Einwohner Nagasakis unterschieden? Absolut in nichts. Sowohl die einen als auch die anderen waren Bürger eines kämpfenden Landes und unterstützten in der absoluten Mehrzahl die Politik der Regierung. Und die einen als auch die anderen lebten in strategisch wichtigen Städten, und sind nicht rechtzeitig geflüchtet. Ihre Handlungen, Gedanken und Gefühle waren ähnlich. Doch dank einem zufälligen Zusammentreffen von Umständen kamen die einen Zehntausenden Menschen um und die anderen blieben heil und intakt. Darin irgendeinen höheren Sinn zu suchen ist sinnlos – es gibt ihn nicht.
Eben so sieht ein wirklicher Krieg aus – blind und gnadenlos. Nicht unterscheidend zwischen Guten und Schlechten, Helden und Verrätern, Kampfbeteiligten und Zivilisten.
Wenn im Krieg Schufte leiden, dann nicht, weil es gerecht ist, sondern darum, weil der Krieg weder Rechte, noch Schuldige schont. Und wenn er jemandem gewogen ist, dann nicht dem Ritter ohne Angst und Tadel, sondern dem Stärksten, Listigsten, Widerstandsfähigsten und Erfolgreichsten. Leider ist das so.
Mit einem Wort: Im dritten Kriegsjahr ist es Zeit erwachsener zu werden. Sich nicht mit der Suche nach Gerechtigkeit beschäftigen, wo es sie nicht gibt. Vorgänge nicht als zauberhaftes Märchen begreifen, in dem das Gute immer triumphiert und das Böse unbedingt bestraft wird. Nicht darauf hoffen, dass der Ukraine der Sieg garantiert ist, da unsere Sache die rechte ist.
In der realen Welt ist es umgekehrt: Der Sieger erklärt seine Sache zur rechten. Wie seine Wahrheit auch immer gewesen sei, eben diese bleibt in den Geschichtslehrbüchern. Und wenigstens deswegen müssen wir siegen – wie viele Schwierigkeiten, Abscheulichkeiten und Ungerechtigkeiten dem ukrainischen Siege auch im Wege stehen mögen.
27. Februar 2016 // Michail Dubinjanskij
Quelle: Ukrainskaja Prawda