"Swoboda“ – „Freiheit“, die das Volk lenkt


Am Jahresende kann es sehr interessant und aufschlussreich sein, Artikel zum Jahreswechsel der vergangenen Jahre zu lesen. Hiervon zeugen zumindest folgende Zeilen, die dem scheidenden Jahr 2005 gewidmet sind und voll von echtem Optimismus sind:

Am Vorabend des Jahreswechsels schien es, dass die Partei Tjagnyboks nicht an den Wahlen zum neuen Parlament teilnehmen würde. Wenn dieser Politiker kein Mandat in den Gebietsverwaltungen bekommt, könnte sich schließlich die Möglichkeit eröffnen, einen der größten Antisemiten der Ukraine anzuklagen. Und damit auch eines der Symbole des vergangenen Jahres. Und des folgenden. Eine Ukraine ohne MAUP, eine Ukraine ohne Tjagnybok – das ist eine vollkommen andere Ukraine.

Wer ist der Autor dieses antiukrainischen Textes? Wer hatte es gewagt, den geschätzten Oleg Jaroslawowitsch zu verurteilen? Der pathologische Ukrainophob Kolesnitschenko? Der starrsinnige Stalinist Zarkow? Niemand weniger als das Leuchtfeuer eines demokratischen Journalisten Witalij Portnikow.

Inzwischen haben in der Ukraine ausschlaggebende Veränderungen stattgefunden. Nein, Witalij Eduardowitsch hat sich nicht verändert und ist nach wie vor nicht begeistert von den Tjagnyboks. Unsere Gesellschaft hat sich verändert – genauer – ihr bewusster Teil.

Das von Portnikow vor sieben Jahren Geschriebene fügt sich in den „orangenen“ Mainstream. Die gebildeten Ukrainer nickten einmütig mit dem Kopf: ja, wir gehen nach Europa, mit Außenseitern, Radikalen und Xenophoben scheidet sich unser Weg.

Und jetzt wirkt der einstige Artikel Portnikows häretisch. „Swoboda“ ist das wichtigste Phänomen des Jahres 2012, der moralische Sieger der Parlamentswahlen, der Stern der neuen Rada und die heilige Kuh, die nicht angerührt werden darf. Und wenn das Europaparlament unzufrieden ist, dann sollen diese Europäer sonst wohin gehen…

Der Aufstieg Tjagnyboks und Co. korreliert gewöhnlich mit der Gegenreaktion auf die Donezker Politik. Also erinnern wir uns – wann wurde der erste sensationelle Erfolg von „Swoboda“ bei den Wahlen registriert? Richtig, 2009, die Oblast Ternopol.

Es gab noch keinen Janukowitsch in der Bankowaja, ebenso keinen Tabatschnik im Ministerkabinett. Die Pannen Janukowitschs wurden zum Katalysator, der den sozialnationalistischen Aufstieg beschleunigte, dieser hat allerdings früher begonnen. Nach dessen Wurzeln muss tiefer gesucht werden.

Als der Majdan die ukrainische Gesellschaft wach rüttelte, gab es nicht so viele Bürger mit festen ideologischen Überzeugungen. Die Mehrheit der Ukrainer, die gegen das drückende Regime Stellung bezog, zog einfach den Schluss: es gibt die „Schlechten“, die dem Glück des Volkes im Wege stehen, und es gibt die „Unsrigen“.

Diese elementaren Ansichten unterlagen einer Transformation in liberale (die böse Bürokratie hindert engagierten Menschen am Leben), linke (die bösen Kapitalisten hindern die arbeitende Bevölkerung am Leben, nationalistische (die bösen Fremdstämmigen hindern die Urbevölkerung am Leben).

Im Grunde wurde jeder Durchschnittsbürger, der die Orangene Revolution unterstützt hatte, zu einer Art ideologischen Wachs , aus welchem alles beliebige geformt werden konnte. Er schaut sich ständig nach den „Unsrigen“ um, sich versichernd, dass das gut, und das schlecht sei.

Zuerst hatte es den Anschein, als würde sich aus dem „orangenen“ Ukrainer ein europäischer Demokrat ausformen. Aber kurz darauf verschoben sich die Akzente, und die „Geistesfürsten“ begannen, ihn zum radikalen Nationalismus zu erziehen. Der erste Schritt war die Legitimierung der OUN (Organisation ukrainischer Nationalisten) und ihrer Führungsspitzen.

Der Kiewer Bürokrat, der auf dem Majdan gestanden hatte, mag nie irgendetwas von Roman Schuchewytsch gehört haben. Aber angesehene Quellen demonstrierten, dass Schuchewytsch ein guter Onkel ist und geehrt werden sollte, und kritisiert wird er nur von den „Nicht-Unsrigen“. Danach wurde aufgezeigt, dass Bandera ein großer Ukrainer war, und alle „Unsrigen“ ebenfalls für ihn sind.

Die eleganten Nationaldemokraten glaubten, sie würden, indem sie die totalitäre OUN popularisieren, die Geschichte des 20. Jahrhunderts schreiben. Tatsächlich haben sie die Geschichte des 21. Jahrhunderts geschrieben. Die bewussten Neophyten stellten sich nämlich daraufhin die legitime Frage: wenn Bandera und Schuchewytsch so gut sind, warum sollten ihre radikalen ideologischen Nachfolger schlecht sein?

Daraufhin behinderte den Aufstieg „Swobodas“ lediglich die gängige Meinung, dass die Tjagnyboks verlogene Nationalisten, Provokateure des Kremls, ein methodisches Projekt der Bankowaja seien. Im Großen und Ganzen nicht die „Unsrigen“.

Aber dann begann die alte Opposition mit „Swoboda“ zusammenzuarbeiten und legitimierte diese damit unwiderruflich in den Augen der progressiven Gesellschaft. Anscheinend war dies kein Projekt, sondern die eigenen Kinder, für deren Wahl sich der progressive Ukrainer nicht schämen muss. Die Saat wurde auf fruchtbaren Boden ausgebracht, und etwas äußerst Interessantes nahm seinen Anfang.

Während sie Tjagnybok legitimierte, sah die Opposition in ihm einen nützlichen Erfüllungsgehilfen – ähnlich einem Jungen, der die Munition anreicht. Aber bereits am 28. Oktober entwuchs dieser den kurzen Hosen und drängte die anderen Oppositionellen in den Hintergrund.

Heute sehen die Tjagnyboks nicht wie Juniorpartner aus, sondern wie der eigentliche Kern der Opposition. Sämtliche Defizite der Opposition – wie beispielsweise die Ablehnung des Boykotts der Rada – fanden unter anderem auch ihre Zustimmung seitens Tjagnyboks, werden aber ausschließlich mit Jazenjuk und Klitschko assoziiert, alle Erfolge allerdings – wie beispielsweise die Hetze gegen die Tabalow-Überläufer – eben mit „Swoboda“.

Nun ja, nicht ungewöhnliches also. Im mittlerweile etablierten Bezugssystem „Eigenes – Fremdes, proukrainisch – antiukrainisch“ sind die Tjagnyboks allen überlegen.

So sehr sich die Vereinigte Opposition und UDAR auch bemühten, sie konnten „Swoboda“ nie auf ihrem eigenen Feld schlagen: es ist unmöglich päpstlicher als der Papst zu sein.

Das quantitative Übergewicht verschafft keinen Vorteil, weil Jazenjuk das Erbe Julias (Timoschenkos) einfach verprasst, und die Bewertung Klitschkos auf fiktiven Bildern zu seiner Person beruht. Im weiteren Verlauf werden sie nur an Boden verlieren, und die Sozialnationalisten gewinnen.

Naiv mutet da die Bewertung an, dass „Swoboda“ sich ändern müsse, da sich sonst die lieben klugen Leute von ihnen abwenden würden, die die Partei Tjagnyboks aus taktischen Erwägungen unterstützen. Am wahrscheinlichsten ist, dass alles genau umgekehrt verlaufen wird: diese lieben klugen Leute werden sich verändern, sich sukzessiv der Linie „Swobodas“ angleichen.

Die Geschichte weist nicht wenige ähnlicher Fälle auf. Viele kluge Franzosen vom Schlage des Nobelpreisträgers Joliot-Curie traten der kommunistischen Partei während des Krieges bei – nur, weil die FKP (Französische Kommunistische Partei) die größte Schlagkraft der Resistance aufwies. Aber bereits nach wenigen Jahren waren sie überzeugte Kommunisten, lobpreisten den Genossen Stalin und rechtfertigten die politischen Repressionen im Ostblock.

Und der Sozialist Bernhard Shaw begann mit unschuldigen prosowjetischen Floskeln und endete damit, dass er den Akademiker Lyssenko und den Zusammenbruch der Genetik in der UdSSR unterstützte.

Der blauäugige Intellektuelle braucht nur auf „unserer“ Seite zu stehen, damit sein Gehirn das Wunder der Adaption demonstriert. Er überzeugt sich selbst, dass radikale Methoden gerechtfertigt sind, dass in den parteilichen Dogmen ein rationales Körnchen enthalten ist, und der ideologische Wahn – eben gar nicht so ein Wahn ist…

Und aus diesem Grund wird der Anteil der lieben klugen Leute, die von „Swoboda“ enttäuscht sein werden, nicht so gewaltig sein. Und diese Verluste werden dank der breiten Masse vielfach kompensiert, die vom rückgratlosen Jazenjuk und farblosen Klitschko enttäuscht sein wird.

Offensichtlich war die Transformation der Sozialnationalisten in eine relevante „postorangene“ Kraft lediglich eine Frage der Zeit. Der Zeitpunkt, zu dem „Swoboda“ von angesehenen Politikern, Journalisten und öffentlichen Intellektuellen aufgehalten werden konnte, ist vorüber. Jetzt sind neue Einflussnehmer auf der Bühne aufgetaucht, die sich nicht ablenken lassen, sondern im Zentrum des Geschehens mit Fäusten agieren.

Das politische Szenarium „mit Tjagnyboks ins Jahr 2015“ ist beinahe unausweichlich.

Wahrlich, wie auch anders? Den populären Oleg Jaroslawowitsch zu ignorieren, ist nicht möglich. Nehmen wir mal an, er erklärt sich großmütig einverstanden, die übrigen Schichten der Gesellschaft nicht zu erschrecken, indem er das Feld für einen gemäßigteren Kandidaten räumt, würde allerdings dies nichts ändern, denn im Austausch würde „Swoboda“ die Berücksichtigung ihrer Interessen fordern.

Sobald der oppositionelle Kandidat sein Einverständnis gibt, wird dessen gesamte Gemäßigkeit unter den Tisch fallen. Er würde sowieso als Freund der Sozialnationalisten aufgefasst, und die Machtspitze würde aktiv dieses Thema aufdröseln. Ein Ausweg aus der skizzierten Falle ist nicht sichtbar.

Die nationaldemokratische Frankensteins, die Tjagnybok den Start ins Leben ermöglichten, sind nicht mehr in der Lage, ihr Produkt zu kontrollieren. Noch können sie dies nicht anerkennen, fordern von „Swoboda“ wie gewohnt eine evolutionäre Transformation sowie eine Revision des eigenen Programms.

Gott, habt ihr immer noch nicht verstanden, wer hier von Bedeutung ist? Es liegt nicht an euch, den Tjagnyboks beizubringen, was zu tun ist! Wir haben nicht mehr den Dezember 2005, und die Rollen haben sich geändert.

Die jetzige „Swoboda“ ist Herr der Lage im patriotischen Lager. Und sie stellt euch vor die einfache Wahl: entweder klein beigeben und leise in ihren ideologischen Schatten treten oder gegen sie Stellung beziehen, um schleunigst den Ruf von Ukrainophoben und Erfüllungsgehilfen des Regimes zu erwerben.

Die gesellschaftliche Legitimierung von „Swoboda“ hat erfolgreich ihren Abschluss gefunden. Und jetzt ist sie selbst zum Legitimierer und oppositionellen Leuchtfeuer geworden.

Von ihrer Positionierung ausgehend, wird die bewusste Gesellschaft entscheiden, wer zur ihr gehört und wer fremd ist, wer gut und wer böse ist.

Davon konnten sich verdiente demokratische Journalisten überzeugen, die dem neugewählten Abgeordneten Miroschnitschenko auf die Füße getreten sind und mit einer Flut von Kritik zusammengestoßen sind. Ihnen wurde entweder geheimes Judentum oder der Versuch, die Opposition zu schwächen und sich mit Janukowitsch zu verbünden, vorgeworfen.

Gewöhnt euch daran, Freunde, das ist nur der Anfang. Der Prozess wurde angestoßen und entwickelt sich erfolgreich. Euch wird man immer weniger zuhören, und „Swoboda“ immer häufiger.

Und wer wird erstaunt sein, wenn bereits in einem Jahr die Meinung Miroschnitschenkos oder Michaltschischins irgendwie angesehener sein sollte als eben die des selbigen Witalij Portnikow?

18. Dezember 2012 // Michail Dubinjanskij

Quelle: Ukrainskaja Prawda

Übersetzerin:    — Wörter: 1524

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