Teure Unabhängigkeit
Die Diskussion darüber, zu welchem Preis uns die Unabhängigkeit zufiel, wurde bis zum Überdruss geführt.
Die Diskussion darüber, zu welchem Preis wir die Unabhängigkeit vor der russischen Aggression verteidigen, ist eine Sache der Zukunft. Als wichtig wird heute die Diskussion darüber dargestellt, zu welchem Preis uns beinahe 30 Jahre lang jeden Tag die Unabhängigkeit gegeben wird.
Schauen wir auf die Ukraine aus der Höhe der für uns zeitgenössischen Geschichte. Seit 1991 experimentiert das Land ständig an sich in der Suche nach einem optimalen Regierungsmodell. Ein Krieg, zwei Revolutionen, sechs Wellen radikaler präzedenzloser Reformen, die von jedem neuen Präsidenten ausgerufen werden und zusammen damit sechs Versuche die Vergangenheit auszuradieren, den Vorgängern alles anlastend.
An der Spitze der Staatsführung waren Führer der kommunistischen Partei, rote Direktoren, patriotische Romantiker, Kriminelle und Geschäftsmänner. [gemeint sind die fünf Präsidenten: Leonid Krawtschuk, Leonid Kutschma, Wiktor Juschtschenko, Wiktor Janukowysch, Petro Poroschenko, A.d.Ü.] Jetzt sind in dieser Nische Vertreter der kreativen Industrie angelangt. Es scheint so, als ob aus den sozialen Gruppen, die mehr oder weniger zur Regierung in der Lage sind, nur die Intelligenz, Militärs und Bauern nicht an der Macht waren. Tatsächlich ist es möglich, dass sie bereits ihre Chancen im Verlaufe der Versuche die Ukraine in den Jahren 1917-1921 unabhängig zu machen nutzten (verloren).
In den 28 Jahren der Unabhängigkeit hat die Ukraine kein ökonomisches Wunder geschaffen. Hat keine starken politischen, staatlichen, bürgerlichen und finanzökonomischen Einrichtungen geschaffen. Fand keine ausbalancierte Lösung für die lebenswichtige Frage der Identität der Menschen, die ihre Bürger sind.
Die Reformwellen und die nächsten „vollständigen Neustarts“ haben beinahe den gewachsenen Boden des bürokratischen Staatsapparats zerstört, dabei einsame Inselchen der Effizienz schaffend, die gerade so dem Sturm der Realität standhalten. Der Staatsdienst als System hinkt mit beiden Beinen.
Im Endeffekt, und das ist das Schrecklichste überhaupt, verlieren wir die Hauptzeichen eines jeden Staates: Bevölkerung und Territorium. Letzteres verringerte sich aufgrund der gesetzwidrigen Besatzung durch einen anderen Staat, was wir nicht verhüten konnten, doch wenigstens schafften wir es, nicht durch den Schlag von außen zu sterben. Doch die Menschen verlieren wir aus mehreren Gründen gleichzeitig: Sterblichkeit, Migration und eben jene Okkupation.
Wie seltsam das auch klingt, doch vor diesem stürmischen Hintergrund bewegen wir uns dennoch vorwärts. Davon zeugen eine Reihe von ökonomischen Makroindikatoren, eine vorsichtige Evolution des politischen Systems, eine fiebrige, doch lebendige Demokratie und die Soziologie. Unzulässig langsam und unsagbar schmerzvoll, doch bewegen wir uns. Das Land, der Staat und die Bürger ändern sich trotzdem.
Das Problem besteht darin, dass wir zu oft für einen einfachen und offensichtlichen Schritt vorwärts oder dafür, um keinen Schritt zurück zu machen, nicht mehr und nicht weniger als eine Revolution, einen Krieg, soziale Erschütterungen oder übermenschliche Anstrengungen einer Gruppe von Fanatikern brauchen, denen es zufiel am richtigen Ort zur richtigen Zeit und mit einem richtigen Umfang an Vollmachten zu sein. Alles bei uns ist mit einem Ausriss mit einem hohen Preis verbunden.
In der Ukraine liebt man es, die gemächliche Meisterung neuer Höhen der Ukraine in der „Doing Business“-Liste zu verfolgen. Gerade sind wir auf dem 71. Platz. Das ist (ohne Ironie) ein ernsthafter Fortschritt, der mit übermäßigen Anstrengungen der Reformatoren nach der Revolution der Würde und dem Beginn des Krieges mit Russland erreicht wurde. Als die Frage entscheidend wurde – änder dich oder stirb – begannen dennoch wenigstens irgendwelche Änderungen. [Zum Vergleich: Georgien – Nr. 6, Aserbaidschan – Nr. 25, Kasachstan – Nr. 28, Russland – Nr. 31, Belarus – Nr. 37, Armenien – Nr. 41, Moldau – Nr. 47, Kirgisistan – Nr. 70]
Bis zum fraglos autoritären, aggressiven und der Meinung einiger Landsleute nach zu konservativen Russland blieben uns genau 40 Positionen. Russland befindet sich in der Liste auf dem 31. Platz. Es hat das einfach gemacht. Ohne Heldentaten und Opfer, es ohne Verlust eigenen Lands schaffend, sondern Territorium benachbarter Staaten erobernd und mit einer sich rapide entwickelnden Armee und einem Unterstützungsnetz in der Welt.
Im Index ist die Akzeptanz von Korruption in China (87. Platz) von der Ukraine (120. Platz) ungefähr genauso weit entfernt – 33 Positionen. Das heißt, die Korruption in beiden Ländern ist ein gewichtiger ökonomischer Faktor. Doch dabei sogar vor dem Hintergrund einer gewissen Verlangsamung der eigenen Wirtschaft stärkt China ruhig, ohne Erschütterungen seine Muskeln als Weltsupermacht und wir drehen uns in Antikorruptionskreisen mit der eigenhändig auf die Stirn gepeitschten Marke von Weltgewicht: „korrupter Staat“.
Transaktionskosten sind einer der Schlüsselbegriffe der Wirtschaft. Das ist eigentlich der Preis der Frage wie viel ein Unternehmen für das Sammeln von Informationen, ihre Analyse, die Durchführung von Gesprächen, die Erstellung eines Vertrages, dessen Erfüllung, für die Kontrolle der Umsetzung und den Schutz vor möglichen Angriffen ausgeben muss. Auf der Ebene eines funktionierenden Staates funktioniert alles genau so: je niedriger die Transaktionskosten des Staates, und um so effektiver das Regierungssystem ist, um so mehr verdient der Staat und das bedeutet, kann er für die Realisierung der eigenen Ambitionen im Inneren des Landes und in der Außenwelt aufwenden.
In der Ukraine gehen die Transaktionskosten im Verlaufe aller Jahre der Unabhängigkeit durch die Decke. Wenn wir in den nächsten Jahren die Transaktionskosten in den Schlüsselrichtungen nicht senken, erwartet uns ein bis auf ein kritisch niedriges Niveau geschwächter Statt. Nein, das wird kein gescheiterter Staat, der berüchtigte failed state, in Teile gerissen und über keine Kräfte nicht einmal dafür verfügend, um irgendwelche anderen Ambitionen zu haben, als irgendwie sogar in einer dem Willen anderer Spieler unterworfenen Form zu überleben. Das wird ein grauer fadenscheiniger Staat, der stolz auf seine Ambitionen ist, doch weder menschliche, noch finanzielle, noch technologische Ressourcen oder Fähigkeiten zu ihrer Realisierung hat.
Drei Schlüsselfragen, die einer unverzüglichen Antwort bedürfen, um die Senkung eben dieser Kosten zu erreichen: „Was sind unsere roten Linien? Woher nehmen wir Sicherheit? Wo verdienen wir?“
Leider gibt es in der Ukraine keine roten Linien in der Politik. In jedem Moment kann alles Mögliche zu einem Objekt des Handels, des Krieges und einer „Absprache“ werden. Das taucht das Land in einen Krieg aller gegen alle, dient als Anlass für Sprünge in unterschiedliche Richtungen und gibt Raum für Lösungen und Politik, die merklich oder unmerklich die Institute des Staates zerstören, unsere Positionen in der Welt schwächen und die Entwicklung des Landes hemmen. Eine Vereinbarung der politischen Eliten über rote Linien senkt auf spürbare Weise die Transaktionskosten der unabhängigen Ukraine. Schwer, unangenehm, doch das ist für das Überleben nicht nur des Staates, sondern auch der Eliten der Subjekte und nicht der Objekte des Spiels notwendig.
Eine dieser roten Linien sollte die Unumkehrbarkeit er Integration der Ukraine in die Europäische Union und die Nato sein. Fraglos kann es Unterschiede in den Ansichten zur Taktik und zum Erreichen dieser Ziele geben, doch ihre Änderung würde ein weiteres Schleudern der Ukraine in der internationalen Politik und eine Verstärkung der inneren Spannungen in der Gesellschaft bedeuten. Doch wenn die Geschichte der Ukraine uns irgendetwas lehrt, dann, dass jedes neue Schleudern und die Erhöhung der Spannung uns wesentlich teurer kommen, als das vorherige Mal.
Unsere harte (militärische) Sicherheit ist in der Zwinge des Quadrats USA; Russland, Türkei, EU eingeklemmt. Ein gekonntes Balancieren in diesem Quadrat ist eine Frage der Existenz unseres Staates. Jedoch nicht weniger wichtig ist auch die weiche (politische, humanitäre, soziale, ökonomische) Sicherheit der Ukraine. Hier heben sich besonders die Probleme der Identität und der Arbeitsmigration hervor.
Die Jahre 2014 bis 2019 wurden unter dem Druck der russischen Aggression zu einer Periode der forcierten Entwicklung der ukrainischen Identität mit einer rechten konservativen Neigung. Das war eine sehr wichtige Zeit, jedoch, und das muss zugegeben werden, verschlang sie zu viele Binnenressourcen. Die humanitären Transaktionskosten dieser Politik versetzten dem sozialen Kapital des Landes einen schweren Schlag. Umfragen, doch ebenso dass bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen eine absolute Mehrheit der Bürger eine politische Kraft unterstützten, die ein anderes, liberales Modell der ukrainischen Identität unterstützen, zeigen, dass die Realität schwieriger ist, als die Vorstellung von ihr.
Das Land braucht ein anderes Identitätsmodell, das unter dem allgemeinen Gerüst „ukrainisch“ dessen innere Verschiedenheit und die Existenz von Millionen von Ukrainern im Ausland berücksichtigt, die beschlossen zu Bürgern anderer Staaten zu werden und ebenfalls die Reibung in der Gesellschaft und mit den Nachbarn.
Das ist ein Weg zur Senkung der Transaktionskosten, für den gerade die Türen offen sind. Jedoch beschränkt sich der Weg vorwärts nicht auf die Revision der bereits vom Gesetz bestimmten Regelungen. Ein solches Rückwärtsgleiten würde das Land ebenso teuer zu stehen kommen, wie der Versuch einer weiteren zielgerichteten Vertiefung und Erweiterung des konservativen Modells. Die Regeln sind bestimmt. Diese müssen mit neuen Möglichkeiten gefüllt werden und man muss lernen sich zivilisiert auf Lösungen zu einigen und nicht neue Probleme zu schaffen.
Einer Reihe von Indikatoren nach steht die Weltwirtschaft an der Schwelle einer nächsten Krise. Im weiteren Sinne versinkt der Planet in einer allgemeinen Krise und die Wirtschaft ist nur eines ihrer Segmente. Auf den ersten Blick ist jetzt nicht die beste Zeit zum Geldverdienen. Hier nur nichts verlieren. Jedoch besteht jede Krise nicht nur aus neuen Risiken, sondern auch neuen Möglichkeiten Bündnisse und Verträge zu schließen.
Die Ukraine befindet sich in einem superschwierigen Spannungsfeld zwischen den USA als Verbündeten in der Politik und der Sicherheit und China als Geschäftspartner. Zwei Länder, die sich bereits scharf gegenüberstehen und im weiteren die Welt dominieren werden (vielleicht unter Beteiligung Indiens, wenn es stabile Wachstumstempi zeigen wird und sich Muskeln eben als Weltmacht antrainiert). Sie sind gleich wichtig für die ukrainische Wirtschaft. Und die Führung eines richtigen Spiels zwischen ihnen wird zu einer überwichtigen Aufgabe.
Nicht weniger wichtig sind noch zwei Vektoren. Erstens ist das die weitere effektive Implementation des Assoziierungsabkommens zwischen der Ukraine und der Europäischen Union – der Anker unserer Wirtschaft und unserer Identität in Europa. Zweitens ist das die Erhöhung des Handels mit der neuen „goldenen“ Region der Welt: mit den Ländern Asiens.
In den Osten zurückzukehren, ohne sich vom Westen abzuwenden – ein Trick, der durchaus realistisch ist. Wenn es nur genug Verstand und Muskeln gäbe.
Außer dem klassischen Warenhandel wird es im Zentrum der sich vor unseren Augen in der Welt entfaltenden Konflikts drei Themen geben: künstliche Intelligenz, Roboter und Kosmos. Ein Land, das es nicht vermag wenigstens einen kleinen, doch seinen Anteil auf diesen Märkten zu erobern, bleibt am Rande der Geschichte – formal unabhängig, doch arm und dem politischen Willen und der Technologie anderer unterworfen. Die Ukraine hat ein ernsthaftes Potenzial in allen diesen drei Sphären, doch in 28 Jahren haben wir zu viele Worte über unser ungeheuerliches Potenzial gehört und wenige Beispiele seiner erfolgreichen Realisierung gesehen.
Die Ukraine muss lernen im Bereich der Hochtechnologien zu verdienen, denn eben das erlaubt es die Transaktionskosten in der Wirtschaft zu senken und einen hohen Mehrwert des Staates in der Welt zu generieren. Letztendlich ist in unserem Jahrhundert der Code der Unabhängigkeit in bedeutendem Maße ein Computercode.
Die Fähigkeit der ukrainischen Schlüsselspieler sich auf rote Linien zu einigen und diese Absprache einzuhalten, ein gekonntes Balancieren in der Frage der harten Sicherheit, ein offenerer Ansatz in der Frage der Identität und die Eroberung des eigenen Anteils am Weltmarkt der Hochtechnologien sind der Weg zur Errichtung eines modernen effektiven Staates, von dem wir von Generation zu Generation träumten und den wir am Ende 1991 erhielten. Ein Staat, der nicht nur Ambitionen haben wird, sondern auch die Fähigkeit diese zu realisieren und in dem alltägliche Reformen keine Heldentaten erfordern werden.
Die Unabhängigkeit bedeutet Freiheit und das ist der höchste Wert. Wenn uns unsere Unabhängigkeit teuer ist, dann müssen es so machen, dass sie uns nicht jeden Tag zu teuer zu stehen kommt. Die menschlichen, ökonomischen und emotionalen Ressourcen unseres Landes sind nicht unerschöpflich. All das ist nicht die Sache einiger Entscheidungen. Das ist die Sache täglicher mühsamer Arbeit. Und daher braucht die Ukraine die Politik des dreisten gesunden Menschenverstands: Das ist das Zugangspasswort zur Entwicklung ihrer Unabhängigkeit.
Die Meinung, die in diesem Artikel dargelegt wurde, ist die Position des Autoren und spiegelt nicht unbedingt die Position des Außenministeriums wider.
17. August 2019 // Dmitrij Kuleba, ständiger Vertreter der Ukraine beim Europarat.
Quelle: Serkalo Nedeli