Von Thukydides zu Parubij



Während des totalitären Regimes saßen wir in Käfigen. Wir wurden freigelassen und sind erneut am unteren Ende der Nahrungskette. Die zynischen und intellektuell beschränkten Führer des Imperiums wurden mit ebensolchen Führern des ukrainischen unabhängigen Staates ersetzt. Übrigens, weitaus freier in ihrem Verhalten als ihre imperialen Vorgänger. Das ist erklärbar: Geschmacklosigkeit gerät in Ekstase und Raserei, wenn sie sich selbst mit Charisma ausgestattet wiederfindet.

Die Generation der Hütchenspieler in Jogginghosen und mit Goldketten um den Hals ist gegangen. Ruhig werdend unter dem Asphalt oder unter riesigen Denkmälern auf Friedhöfen, in Parteien und respektable Geschäfte eintretend. Sie, die ehemaligen Hütchenspieler, wurden zu unserer Regierung. Das, was die imperialen Führer vor uns, den gewöhnlichen Bürgern versteckten, zeigen diese zur Schau. In der Regel ist es derber, geschmackloser Luxus – die Kompensation der armen und harten Kindheit. Vor dort kommen die sinnlosen gepanzerten Autos und stiernackigen Bodyguards. Und die sogenannten „Tituschki“, die physischen Schmerz gewohnten jungen Kämpfer für die fremde helle und satte Zukunft.

Ein Land, das sich selbst und der Welt Hunderte es in der Fremde zu etwas gebracht habende Schriftsteller und Gelehrte gab, drängt tausende junge Leute in fremde Länder, die in der Heimat keine Perspektive haben. Doch niemand der ukrainischen Scharlatane, die sich als Denker bezeichnen und sich um die Suche nach ukrainischen Wurzeln in der alten mesopotamischen Kultur sorgen, leidet hier in der Ukraine. Diese gehen nicht weg und werden niemals auswandern. Sie lehren ihren unwissenschaftlichen Unsinn in unseren vielzahligen Universitäten, vor Kritik geschützt durch Diplome der Obersten Attestkommission und der Hauptattestkommission. Sie senden von den Fernsehschirmen neben Hellsehern und den Wunderheilern, die Krebs und den bösen Blick heilen können.

Manchmal scheint mir, dass der von mir gewählte Präsident bewusst seine Bürger künstlich mit versprühten Sprachfehden, bis ins Absurde geführter Entkommunisierung und den sich epidemisch ausbreitenden «Roshen»-Geschäften aufbringt. Mit einem einzigen Ziel: die Hoffnung auf die Möglichkeit einer effektiven Lenkung des Staates zu zerstören. Nach dem Prinzip: Gewöhn dich dran, nimm es hin, so wird es immer sein!

Ich spreche gotteslästerliches aus: Der Staat ist nicht der oberste Wert, dem sich alle anderen Werte der Menschheit unterordnen sollen. So vermochte das alte Griechenland, zerrissen durch die Konflikte der kleinen Poleis, eine der größten Kulturen schaffend, es nicht einen großen Staat zu begründen. Vom derzeitigen Griechenland kann hier nicht die Rede sein … Viel später war die mittelalterliche Kirche im Kampf mit dem Staat der Entwicklung der Kultur um einiges mehr zu Diensten, als der mittelalterliche staatliche Feudalismus.

Ich bin überzeugt, dass mein Land eine andere Gegenwart verdient und eine andere Zukunft. Und, das versteht sich, einen anderen, effektiveren Staat. Die zugereisten Zerstörer mit der ihnen per höchstem Befehl geschenkten ukrainischen Staatsbürgerschaft werden uns nicht helfen. Das eine schreckliche Beispiel der geschäftsführenden (Gesundheits-)Ministerin Suprun ist mehr als genug. Ob es uns gelingt? Ich weiß es nicht, ich bin mir nicht sicher. Früher, vor zehn Jahren habe ich einen Lichtblick gesehen. Heute sehe ich ihn nicht. Wir müssen lernen aktiv zu leben. Ungeachtet des bewussten Bestrebens der Regierung uns in die Vergangenheit zurückzuziehen. In der eine Initiative als Verbrechen angesehen wurde, ein wirtschaftliches oder politisches. Es ist unsere Pflicht zu begreifen, dass dort, in unseren „Höhen“ der Geist der Gewöhnlichkeit über Gottes Geist triumphiert.

Vor sehr, sehr langer Zeit schrieb der große Historiker Thukydides auf: „Wir denken nicht, dass eine offene Diskussion dem Gang der staatlichen Angelegenheiten schaden kann. Im Gegenteil halten wir es für falsch, eine nötige Entscheidung ohne vorhergehende Vorbereitung mit Hilfe von Auftritten mit Reden dafür und dagegen zu treffen.“ In Athen fanden Volksversammlungen statt, in denen die Entscheidungen mit der Mehrheit der Stimmen getroffen wurden.

Es liegt viel, mehr als zweitausend Jahre zwischen Thukydides und Parubij (gemeint ist Parlamentschef Andrij Parubij, A.d.Ü.). Zu ihrer Kenntnisnahme, meine Damen und Herren: letzterer ist ebenfalls Historiker. Es ist traurig, sehr traurig.

21. August 2017 // Semjon Glusman

Quelle: Lewyj Bereg

Übersetzer:   Andreas Stein  — Wörter: 641

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