Tomasz Konicz: Ukraine angeschlagen
Wirtschaft am Boden, Banken klamm: Kiew kann Rechnungen für Energieträger nicht mehr pünktlich zahlen. Neuauflage des »Gaskriegs« mit Moskau droht
Die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf die Ukraine könnten erneut die Energieversorgnung Westeuropas gefährden. Quellen aus dem Umfeld des russischen Regierungschefs Wladimir Putin gaben gegenüber Medien an, dass Moskau und Kiew sich am Rande einer neuen Gaskrise befinden, da die Ukraine Probleme habe, ihren finanziellen Verpflichtungen beim Erdgasimport und -transit nachzukommen. Auf dem EU-Russland-Gipfel am Freitag in Chabarowsk hatte auch Präsident Dmitri Medwedew vor einem neuen Gasstreit mit der Ukraine gewarnt und eine EU-Partnerschaft mit früheren Sowjetrepubliken kritisiert.
Der ukrainische Energieversorger Naftogas musste seine Erdgasimporte aus Geldmangel drastisch reduzieren. Inzwischen gehen in dem Lande die Gasreserven zur Neige: »Wenn die Ukraine das Problem der Erdgaslagerung im Sommer nicht lösen kann, dann bedeutet dies, dass Naftogas seine Transitverpflichtungen gegenüber europäischen Kunden im Winter nicht erfüllen« werde, zitierten russische Nachrichtenagenturen einen namentlich nicht genannten Regierungsvertreter.
Obwohl Sprecher von Naftogas sich umgehend bemühten, diese Behauptungen als Gerüchte zurückzuweisen, scheint angesichts der desolaten Wirtschaftslage in der Ukraine eine Wiederholung des Gasstreits vom vergangenen Winter – als Teile Mittelosteuropas wochenlang ohne Erdgaslieferungen auskommen mussten – durchaus möglich. Der zwischen Russland und der EU gelegene neue Staat taumelt immer noch am Rande des Bankrotts, während die ukrainische Regierung sich verzweifelt um weitere Milliardenkredite bemüht. Die Auslandsverschuldung des Landes beläuft sich inzwischen auf 104,8 Milliarden US-Dollar (75 Milliarden Euro), wobei die Bedienung dieses Schuldenbergs sich immer schwieriger gestaltet.
Am 20. Mai wurde publik, dass Moskau der Ukraine einen seit Februar beantragten Kredit in Höhe von fünf Milliarden US-Dollar nicht gewähren wird. »Wir haben die Situation analysiert und mit Nein geantwortet«, sagte der russische Vizefinanzminister Dmitri Pankin gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters. Ukrainische Medien berichteten zuvor, der Kreml knüpfe die Kreditvergabe an die Bedingung, drei Milliarden US-Dollar des Darlehens für den Kauf von russischem Gas aufzuwenden. Die ukrainische Regierung hatte hingegen vor, damit die immer weiter wachsenden Haushaltslöcher zu stopfen. Am vergangenen Freitag startete Präsident Medwedew eine neue Initiative und schlug der EU vor, gemeinsam einen Kredit an die Ukraine zu vergeben: »Wir sind bereit, dem ukrainischen Staat zu helfen, aber möchten, dass die Europäische Union und die Staaten, die an einer zuverlässigen Sicherheit der Energiezusammenarbeit interessiert sind, einen wesentlichen Teil dieser Aufgabe übernehmen.«
Immerhin konnte Kiew bereits Anfang Mai die zweite Rate eines Stabilisierungsdarlehens des Internationalen Währungsfonds (IWF) in Höhe von 2,8 Milliarden US-Dollar in Empfang nehmen. Nach der Auszahlung einer ersten Rate des 16,43 Milliarden US-Dollar schweren Kreditpakets stellte der IWF jegliche weitere Überweisungen ein. Dem Fonds schien der an die Vergabe gekoppelte neoliberale Umbau der ukrainischen Ökonomie zu langsam. Inzwischen lockerte die Finanzorganisation die Daumenschrauben etwas und billigte Kiew ein höheres Haushaltsdefizit von vier statt drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zu. IWF-Sprecher begründeten dies damit, dass die »wirtschaftliche Aktivität« in der Ukraine »in einem stärkeren Ausmaß als erwartet« einbreche.
Der Einbruch hat es tatsächlich in sich und kann nur als verheerend bezeichnet werden. Im April 2009 fiel die Industrieproduktion gegenüber dem Vorjahresmonat um 31,9 Prozent. Bereits im März 2009 war sie im Jahresvergleich um 30,4 Prozent gesunken. Das gesamte Jahr 2009 nahm bislang einen katastrophalen Verlauf für die ukrainische Volkswirtschaft: Von Januar bis April 2009 ging die Industrieproduktion um 31,9 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum zurück. Angesichts dessen könnte sich selbst die IWF-Prognose, die 2009 von einem Rückgang des BIP in der Ukraine um acht Prozent ausgeht, als zu optimistisch erweisen.
Angesichts dieser Zahlen geht Kiew dazu über, die Veröffentlichung statistischer Daten zu verzögern, wie die ukrainische Investmentbank Dragon Capital am 21. Mai monierte. Demnach hätte die Veröffentlichung der Entwicklung des BIP für das erste Quartal 2009 bereits am 15. Mai erfolgen müssen, doch habe das Statistische Amt diese Daten bislang nicht freigegeben. Dragon Capital zitierte in seiner Analyse den ehemaligen Finanzminister Viktor Pynsenyk, der von einem Einbruch des BIP um unfassbare 20 bis 23 Prozent im ersten Quartal 2009 ausgeht.
Im ukrainischen Finanzsektor, der dank großzügiger Kreditvergabe maßgeblich zu der »guten Konjunktur« der vergangenen Jahre beigetragen hatte, sieht die Lage weiter düster aus. Zwischen Januar und April 2009 fuhren die Banken einen Nettoverlust von umgerechnet 1,2 Milliarden US-Dollar ein, da viele der Hypotheken und Konsumentenkredite nicht mehr bedient werden können. Selbst die Regierung prognostiziert inzwischen, dass von den 180 Geschäftsbanken des Landes nur etwa 100 die Krise überstehen werden. Expertenschätzungen gehen davon aus, dass bis zu 20 Prozent der in der Ukraine vergebenen Kredite nicht getilgt werden können.
Es bleibt somit fraglich, ob eine dermaßen angeschlagene Ukraine im kommenden Winter als zuverlässiges Transitland für westeuropäische Energieträger fungieren kann. Es wäre nicht das erste Mal, dass wirtschaftliche Krisen zu einer Intensivierung politischer Spannungen beitrügen.