Träume und Wünsche von Ukrainern


In einigen Monaten wird in der Ukraine ein neuer Präsident gewählt. Was erhoffen sich Ukrainer für die Zukunft? Wovon träumen sie, welche Perspektiven sehen sie für ihr Land? Warum entscheiden sich viele fürs Auswandern, warum wollen andere bleiben?

von Christoph Brumme

Wolodymyr (30), Kinderarzt

„Ich träume davon, mein Leben organisieren zu können, eine Basis zu haben, um das tun zu können, was mir gefällt. Ich fotografiere gern und heile gern Menschen, deshalb möchte ich reisen, beispielsweise drei Monate in einem Hotel in Paris leben, dort fotografieren und schreiben, dann ein halbes Jahr in Uganda als Arzt arbeiten. Dort gibt es nicht genug Ärzte, glaube ich. Auch dort würde ich gern fotografieren. Aber hier in Poltawa zu arbeiten, ist komplizierter. Die Bezahlung ist zu schlecht. Ich arbeite im Zentralen Krankenhaus, dafür bekomme ich 50 Euro, dann arbeite ich noch als Arzt in einer Siedlung, dafür bekomme ich 130 Euro. Und ich arbeite noch als Administrator in einem Gesundheitszentrum, in dem man Massagen und Therapien anbietet. Dafür erhalte ich 80 Euro. Das ist einfach zu wenig.“

Olexij (65), Juwelier, diente früher als Maschinist auf einem Schiff der sowjetischen Atlantik-Flotte

„Es wäre schön, fünf Jahre in Kuba zu leben. Zwar ist die Bevölkerung dort arm, aber sehr gutherzig und kontaktfreudig. Dort ist alles möglich, was mir gefällt – Unterwasserjagd, Fischen, Jagen im Dschungel. Dort könnte ich meinen Schmuck an die Kubaner verkaufen. Aber hier in Poltawa gefällt es mir auch. Ich fahre gern zum Fischen an die Worskla oder an einen See, oder ich sammle im Wald die Pflanzen und Kräuter, die ich brauche. Ich bin Minimalist. Das wahre Glück ist nicht, dass du das Beste nimmst. Sondern dass du das Beste von dem nimmst, was du hast. Das ist mein Credo im Leben. Ich bin glücklich. Manchmal reicht mir ein Stück Brot am Tag und etwas Wasser. Ich träumte nicht von einem Auto, einem Hubschrauber, einem Flugzeug. Ich mache das, was meinen Kunden und mir gefällt. Ich bin froh, wenn ich eine neue Arbeit beendet habe.“

Olena (45), Künstlerin

„Ich träume davon, grenzenlose Möglichkeiten zum Malen zu haben. Ein Atelier, genug Farben, ich möchte körperlich arbeiten. Ich will das Maximale, ich will Hilfskräfte beschäftigen. Ich möchte nur malen. Ich habe viele Ziele, ich möchte meine Werke der Welt zeigen, in Büchern, in Museen. Außerdem möchte ich die seltsamsten Menschen aus dem Underground von Poltawa porträtieren. Lebende und schon verstorbene. Damit sie im Gedächtnis bleiben.“

Marija (36), Architektin, Comic-Zeichnerin für einen US-amerikanischen TV-Kanal

„Ich hatte heute ein wichtiges Gespräch. Ich möchte in der Kirche als Restauratorin arbeiten. Das war schon mein Diplom-Thema, Malerei in Kirchen. Kulturdenkmäler gefallen mir. Viele Wünsche habe ich, auch materielle. Für die eigenen Ambitionen braucht man Geld. Mit der Arbeit ist es schwierig in Poltawa. Es ist eben Provinz.“

Dmytro (46), Bandura-Spieler, Keramiker, Bildhauer, Kamin-und Möbelbauer

„Drei Wünsche. Erstens, nicht für Geld arbeiten müssen. Sondern für mich. Zweitens, ich wäre gern ein Bürger. Aristokrat zu sein, das wäre nur Simulation. Drittens, ich möchte mich mit unterschiedlichen Künsten beschäftigen, eine Sammlung von authentischen ukrainischen Musikinstrumenten hätte ich gern. Über den Krieg können wir nicht entscheiden, das entscheiden Bürger Russlands, die so aussehen, als hätten sie dort die Macht.“

Oskar Mangur (45), Fotograf

„Der Löwe sagte den Tieren: Wählen Sie! Wer klug ist, nach rechts, wer schön ist, nach links. Alle Tiere entschieden sich. Bloß die Affen nicht. Sie wollten nach rechts, nach links, dorthin, wieder zurück. Sie wussten nicht, ob sie eher schön oder eher klug sind. Und so sind unsere Wünsche. Alle wollen leben wie in Deutschland, aber dafür muss man die Gesetze achten. Doch niemand kennt hier seine Rechte, seine rechtliche Basis. Ich wünsche mir, dass Ukrainer ihre Rechte kennen.“

Wiktor (65), neuerdings Rentner, spielte 50 Jahre als Kontrabassist, zuletzt im Sinfonie-Orchester Poltawa

„Ich träume, dass kein Krieg wäre. Das ist am wichtigsten. Wenn Blut fließt, das ist am schlimmsten. Aber sonst – schlafe ich noch auf meinem eigenen Sofa, nicht auf der Parkbank wie ein Obdachloser. Wichtig ist, seine Wünsche zu begrenzen, im Rahmen seiner Möglichkeiten. Es ist unmöglich, das Unermessliche zu umarmen. Ich war so froh, als wir mit unserem Sinfonie-Orchester zweieinhalb Monate durch Italien gereist sind, eine Tournee durch die Provinzen. Eine Woche lang haben wir die Oper Traviata vorbereitet, von Verdi, an dem Platz, wo sein Theater stand. Das war schön, beseelend, wir konnten die römische Luft atmen. Ich habe vieles gesehen, Gutes und Schlechtes, so ist das Leben. Die Rente ist kleiner als gedacht, weil etwas für den Krieg abgezogen wird. Der Neid führt zum Krieg. Der Frosch zerquetscht, wen und was er will, besonders der Zar, der „russistische“ Putin. Alles kommt davon. Der Krieg ist für manche Mutter eine Heimat.“

Singt ein Lied: “Гілля калин похилилося / Мамо не тім ти молилася / Скільки ще забере вона / Твоїх дітей – не твоя війна“ [ungefähre Übersetzung: “Die Zweige des Schneeballstrauchs hängen runter / Dafür hast du nicht gebetet Mutter / Wie viele nimmt er dir noch / Deiner Kinder – das ist nicht dein Krieg“ – Song von Okean Elzy aus dem Jahre 2015, A.d.R.]

Natalija (38), Juristin im Außenhandel, arbeitet regelmäßig in arabischen und westlichen Ländern

„Gott, ich sage etwas Schreckliches. Ist das möglich? Ich träume, hierher erst wieder zurückzukommen, nachdem ich dieses Land für immer verlassen habe. Ich liebe mein Land, aber ich kann hier meine Ansprüche als kreative Persönlichkeit nicht realisieren. Trotz meiner drei Diplome – zwei von ihnen von der Hochschule – gibt es keine Möglichkeit, meine kreative, intellektuelle Persönlichkeit zu entfalten.

Ich möchte gerne hier sein, aber ich bin hier nicht ich selbst. Ich weiß nicht, wie ich mich in Zukunft in einem anderen Land fühlen werde. Ich bedauere sehr, dass ich hier nicht gebraucht werde. Sehr schade. Mir fehlen die Worte. Ich sehe keine Perspektive. Ich sehe ein korruptes System, das mich verschlingt und wegspült.

Ich sehe Momente, da ich es besser machen kann, aber das ist eine Utopie.

Vielleicht ist es besser, körperlich zu arbeiten. Aber es ist schlimm, dass man es nicht intellektuell kann. Ich hätte viele Möglichkeiten, ich kann vieles, aber ich bin nicht gehorsam. Ich habe Momente des Glücks im Ausland und hier. Wenn ich in Deutschland arme Menschen sehe, rate ich ihnen, Seien Sie glücklich! Ich kann mich nicht realisieren in diesem schönen Land. Wenn es hier keine Möglichkeiten gibt, sitze ich lieber in Paris und male Bilder.“

Oxana (25), Juristin bei der Partei Solidarität des Präsidenten Petro Poroschenko

„Mein wichtigster Wunsch ist Frieden. Frieden in den Häusern, Frieden in der Ukraine. Unabhängigkeit der Ukraine. Ruhe für jede Familie. Damit niemand sich fürchten muss, kein Vater, kein Sohn, kein Nachbar. Dass niemand in den Krieg muss. Nächster Wunsch – Harmonie. Denn die Gesellschaft ist krank, wenn die Menschen einander nicht lieben. Das ist ein Traum. In der Kindheit habe ich geträumt, für die Polizei zu arbeiten. Dann habe ich in Charkiw Jura an der Universität studiert und mich nach dem Maidan für Politik interessierte, für die Abläufe und Prozesse bei der Wahl. Ich arbeitete für einen Abgeordneten und half den ATO-Kämpfern mit juristischen Ratschlägen.“

Artur (30), Stadtentwickler, Film-Scout, Hochschullehrer, Touristenführer

„Drei globale Wünsche, sie hängen miteinander zusammen. Die Menschen sollen einander mehr lieben und achten. Zweitens, dass die Menschen lernen, miteinander zu kommunizieren. Das ist die Voraussetzung für den ersten Wunsch.

Mein dritter Wunsch, dass es hier mehr Möglichkeiten gebe für die Menschen, die sich verwirklichen wollen, in diesem Land, in dieser Stadt. Wenn sie hier ihre Talente nicht nutzen können, werden sie gehen. Das vermindert das intellektuelle Potential unseres Landes und verzögert unsere interessante Perspektive, an die ich glaube, an die wahrscheinlich meine Freunde glauben. Wir verstehen, so wird es sein. Aber wann? Heute, morgen, in hundert Jahren? Ich wünsche, es wäre früher. Außer uns wird es niemand tun. Aber wir müssen es selbst machen.“

Soja (58), Volontärin

„All die Jahre seit der Aggression Russlands arbeite ich als Volontärin. Wir bringen alles an die Front, was gebraucht wird. Unsere Soldaten sollen sich zu Hause fühlen, sollen schmackhaftes Essen bekommen, Pasteten, Torten, Kuchen, Salate, je nach Saison, im Sommer Gemüse. Das Essen in der Armee ist normal, desto besser. Mein Traum ist es, meinen Poltawaer Borschtsch für die Jungs an der Front zu kochen. Das ist ein besonderer Borschtsch. Wir sind dort an der Front an einem mehr oder weniger ungefährlichen Platz. Nach dem Sieg möchte ich reisen, Freunde besuchen, nach Ägypten. Ich habe den Wunsch, dass die Ukraine in zehn Jahren in Europa integriert sein wird, dass sie produktiv, reich und frei von Russland sein wird. Dass es viele Fabriken gibt, genug Arbeitsplätze, dass unsere Industrie Fertigprodukte exportiert. Das technische Potential, das Potential an Ingenieuren, ist bei uns sehr groß. Ich sehe meine Ukraine als schön und frei. So muss es sein. Ich liebe meine Stadt, mein Dorf, meine Freunde. Jeden Tag passiert etwas Neues.“

Christoph Brumme, geb. 1962 in Wernigerode (DDR), verfasst Romane und Reportagen u.a. über seine Fahrradreisen von Berlin an die Wolga und zurück. Seit dem Frühjahr 2016 lebt er in der ostukrainischen Stadt Poltawa.

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