Ukraine auf der 70. Frankfurter Buchmesse - Ein Blick von der Seite
1. Einen neuen funktionalen Stand brachte die Ukraine zur 70. Frankfurter Buchmesse mit, 140 Quadratmeter, hell mit beruhigendem blau, zweigeteilt in eine Seite für Lesungen und Kommunikation und eine für Geschäftsverhandlungen. Interaktive „Module“ fürs Hören und Sehen: Schriftsteller über Kopfhörer und Tukoni, Fabelwesen des Waldes, durch 3-D-Brillen bereicherten ihn.
2. Motto war diesmal „Senses of Ukraine“. Damit wurde gegenüber dem letzten Jahr „Die Ukraine verstehen“ der Akzent vom Geistigen stärker auf die Sinne hin verlagert, Hören und Sehen. Außerdem konnte mit dem Titel auch auf den Namen des verhafteten Filmregisseurs – Senzow in englischer Schreibweise – angespielt werden.
3. Neuer Verantwortlicher für Gestaltung und Organisation des Standes ist nunmehr das etwa ein Jahr alte ukrainische Buchinstitut. Zuvor lagen sie in Händen von Fachleuten des Kyjiwer Kunstarsenals.
4. Entsprechend der Jugend des Buchinstituts versuchten „Ältere“ Einfluss zu nehmen: die erste Verantwortliche für den vor vier Jahren erstmals neu und zeitgemäß gestalteten Auftritt in Frankfurt mit strengen kritischen Kommentaren, außerdem weitere Player im Feld der Kultur und Politik wie das Informationsministerium, die Achmetow-Stiftung, Elder Publisher mit (medioker übersetzten) Staatsauftrag-Übersetzungen… – „Kryscha“ („Dach“) wäre hier das Stichwort für die Durchsetzung von Interessen, wie ich aus dem Gespräch mit Buchhändlern aus Kyjiw weiß – ein weites Feld.
5. Sehr reduziert hat sich im Vergleich zur Veranstaltung vor vier Jahren die Zahl der Volontäre – ein Zeichen für die gewachsene Professionalität.
6. Von den mehr als einem Dutzend Verlagen auf dem Gemeinschaftsstand waren die einen nur durch ihre Bücher präsent – so etwa A-Ba-Ba-Ha-La-Ma-Ha oder Lybid – andere wie beispielsweise Sammit-Kniha betrieben assistiert von seinem Partner Achmetow-Stiftung hyperaktiv Promotion und nahmen Interviews von jedem Programmteilnehmer und manchen Zuhörern zu seinem nun auch auf Englisch verlegten Donbass-Bildband auf: „Donbass and Civilians“. Außer den 15 Verlagen hier nahmen weitere 7 ukrainische Verlage mit eigenen Ständen in anderen Hallen teil.
7. Caterer „Figaro“, freundlich und kostenlos Wasser und Kaffee einschenkend, indes in weißen Pullovern mit Mustern auf den Schultern an Stewarts von einem Kreuzfahrtschiff erinnernd, hätte am liebsten wohl nur Whiskey und andere hochwertige Getränke einschenken, so sahen auch die ausgelegten A 3-Prospekte aus.
8. Ivan Fedechko vom Verlag des Alten Löwen arbeitete von früh bis spät drei Tage lang zurückgezogen in einer äußersten Ecke des Standes in permanenten Verhandlungen mit internationalen Kunden, die an Rechten für die Veröffentlichungen des Verlages interessiert sind. Vermutlich gab es wieder fast keine Verkäufe an deutschsprachige Verlage. Die Bücher des Studio Agrafka sind aber schon in über 25 Länder verkauft.
9. Es sind diesmal weniger ukrainische Autoren am Stand gewesen, teilweise Wiederholungstäter. Am bekanntesten, aber nur als Moderator und Vorleser mit einem sympathisch an George Moustaki erinnernden Sound: Andrej Kurkow. Weiterhin Victoria Amelina, Kateryna Kalytko, ferner – in absentia – der von Russen gefangen gehaltene Filmregisseur und Autor Oleh Senzow und klein aber konzentriert präsent der früher fast 14 Jahre in Gefängnissen und Lagern einsitzende Dissident und Repräsentant der Krim-Tataren Mustafa Aga Dschemilew (Cemilev). Schließlich auch Bohdan Kolomijtschuk, Verfasser historischer Romane, zuletzt „Mozart aus Lemberg“.
10. Einen Überblick über die gegenwärtige ukrainische Literatur lieferte vor sehr kleinem Kreis der Kyjiwer Literaturkritiker Jewhen Stasinewytsch unter dem Titel: „Why should Europe read Ukrainian Literature“.
11. Von den Historikern waren diesmal Serhij Plochij vom Harvard Institute for Ukrainian Studies und Guido Hausmann von der Universität Regensburg (IOS) da. Sie setzten fort, was beispielsweise Karl Schlögel oder Timothy Synder oder Peter Pomerantsev in vergangenen Jahren präsentierten (Schlögels „Sowjetisches Jahrhundert“ gibt es by the way gerade preiswert bei der Bundeszentrale für politische Bildung). Ihr Gesprächsthema war: „The gates of Europe: What the world should know about Ukraine“.
12. Außerhalb der Ukraine lebende ukrainische Autorinnen oder Autoren waren nicht in das Programm einbezogen. Das fällt auf angesichts der Omnipräsenz und großen Botschafterfunktion von „Super“-Nino Hratischwili für den Ehrengast Georgien. Also: Keine Katja Petrowskaja, keine Tanja Maljartschuk, um doch immerhin Bachmann-Preisträgerinnen zu erwähnen, von anderen bekannten Autorinnen und Autoren aus der Ukraine, die in Polen oder den USA leben, zu schweigen.
13. Welchen Autor mag es gelingen, diesmal auf der Buchmesse an einen deutschsprachigen Verlag zu verkaufen? Die Erfolge sind bislang stets auf die wenigen bekannten drei-vier Autoren beschränkt: Zhadan, Kurkow, Sabuschko, Sniadanko. Es herrscht eine große Rezeptions-Assymetrie, tabellarisch habe ich sie einmal vor ein paar Jahren zusammengetragen, als ich wissen wollte, warum ich meine Übersetzung der Kurzgeschichten von Vasyl Machno – selbst mit guten Empfehlungen – nicht loswerden konnte. Vergessen habe ich eben in der Aufzählung den „Patriarchen“ der ukrainischen Literatur, Jurij Andruchowytsch. In einem jüngst auf Englisch vorliegenden Interview formuliert er, ukrainische Literatur sei nur etwas für eine Kaste. Eine Konsequenz wäre, ukrainische Literatur als Subskriptionsangebot wie in den guten alten Zeiten des Verlagswesens für die entsprechende „Kaste“ im Selbstverlag anzubieten.
14. Die Zahl der honorigen Honoratioren mit erlauchten Ehrendoktortiteln ebenso erlauchter Universitäten und anderer mal mehr mal weniger verdienter guter Geister – Hobbyukrainer, alter und jüngerer Exilukrainer – war unter den Besuchern am Stand diesmal vergleichsweise reduziert.
15. Zahlreiches Publikum fand sich nur bei den samstäglichen Veranstaltungen zu Oleh Senzow sowie bei der Diskussion mit dem aus der besetzten Krim ausgewiesenen früheren Dissidenten und jetzigen Abgeordneten der Werchowna Rada Mustafa Aga Dschemilew ein. Ansonsten wuchs die Zahl der Teilnehmer bestenfalls bis auf ein gutes Dutzend. Im heimatlichen Kyjiw oder Lemberg bei den beiden größten ukrainischen Buchmessen wäre das Publikum fünf- bis zehnmal so zahlreich gewesen.
16. Eine eindrucksvolle schweigende Protestaktion zur Unterstützung von Oleh Senzow vor dem russischen Gemeinschaftsstand fand im Anschluss an die Lesung von seinen Texten statt.
17. Außerhalb des ukrainischen Nationalstandes fielen nur die gut besuchte Vorstellung von Andrej Kurkows Roman „Kartographie der Freiheit“ und die Diskussion des Paul-Celan-Zentrums auf.
18. Gut besucht mit über 100 Teilnehmern war wegen der Abendzeit und wegen des guten Veranstaltungsmanagements das Gespräch mit dem Essayisten und Übersetzer Jurko Prochasko zu dem zeitweilig in Lemberg lebenden Autor Leopold von Sacher-Masoch im Generalkonsulat der Ukraine.
19. Überschaubar-intim war im Hotel an der Messe der Andrang bei dem Abend des Meridian Czernowitz, der nächstes Jahr im September bereits sein 10. Jubiläum feiern wird. Hier lasen Igor Pomerantsev und kurzweilig-interessant der Uschhoroder Schriftsteller Andrij Ljubka.
20. Im Hintergrund und für die meisten Besucher nicht erkennbar nahmen Ukrainer am Business-Programm der Buchmesse teil, das Lemberger Agrafka Art Studio, das in den letzten Jahren wiederholt verschiedene Buchpreise für die Einband- und Gesamtgestaltung ukrainischer Bücher gewonnen hat, ferner die beiden Gründerinnen der Buchkultur-Internet-Seite Chytomo. Am Invitation program der Buchmesse, mit dem früher beispielsweise die Freunde vom Nika-Centr hier waren, nahm diesmal der Kyjiwer Verlag Smoloskyp, einst in den USA gegründet, teil.
21. Zusammenfassende Zahlen zum Buchwesen der Ukraine, wie sie in den letzten Jahren ansatzweise in Broschüren angeboten wurden, und die unlängst auf dem Lemberger Bookforum, wie es jetzt heißt, russisch sprechend vorgestellt und diskutiert wurden, und was es stets von den Buchmessennachbarn Polen und Georgien gibt, fehlten diesmal. Dem Hören nach bereitet Chytomo etwas in kommender Zeit vor. Vor einem halben Dutzend Jahren gab es Studien, die ich in der in Punkt 13 erwähnten Übersicht aufgelistet habe. Erwähnt sei auch die informative Chronik des Lemberger Bookforums „Forumolohija“, L’viv 2018.
22. Gesehen habe ich ansonsten folgende Titel zur Ukraine auf der gesamten Buchmesse: a) eine seltsame geschichtsrevisionistische Publikation des nach Spanien geflüchteten Oligarchen Alexander Onischtschtenko zu „Peter dem Fünften“, also über Präsident Petro Poroschenko in diversen Sprachen. Vor ein paar Jahren stand hier der inzwischen verstorbene Journalist Jürgen Roth mit seinem Büchlein über Julija Tymoschenko. b) eine Essener Dissertation über Frauen in der UPA beim Schöningh-Verlag. c) eine Monografie bereits von 2016 von George O. Liber bei den Kanadiern. d) Zur Kirchengeschichte – immerhin wurde dieser Tage in Konstantinopel der Tomos erlassen (und ist nicht „tomos“ altgriechisch zugleich doch „Buch“, wovon auch das ukrainische Wort „tom“ = „Band“ herkommt): In der dreibändigen Geschichte der Zeugen Jehowas im LIT-Verlag fand ich in Band 2 fast 100 Seiten über die Geschichte und Präsenz dieser Sekte in der Ukraine. e) Andrej Kurkows „Kartographie der Freiheit“ im Haymon-Verlag, die Metaphern des Originaltitels „Schengen-Geschichte“ wurden so auslotend mit neuem deutschen Titel verdeutlicht.
23. Zukunft ist noch die deutsche Veröffentlichung von Natalka Sniadankos Roman über Wilhelm Wyschywanyj bei Haymon, sonstiges ist mir nicht bekannt.
24. Schön war die Wand mit den schönsten Büchern der Ukraine. Gezeigt wurde eine Auswahl der letzten Jahre. Hier sind Romana Romanyshyn und Andrij Lesniv von Agrafka wichtige Botschafter. Dreimal hat inzwischen der Wettbewerb des schönsten Buchdesigns in der Ukraine auf dem Buch-Arsenal stattgefunden, die Ukraine nimmt endlich auch an den Landesbeteiligungen der Ausstellung der Frankfurter Stiftung Buchkunst teil. Eigens wurde nun ein 60-seitiges Album „Contemporary ukrainian illustrators“ vorgestellt. Ausgewählte Illustrationen hingen sechs Meter auf großformatigen Drucken über dem Stand und gaben gute Eindrücke.
25. Der Kulturminister kam diesmal im Unterschied zu den vergangenen Jahren nicht zur Eröffnung, stattdessen kam sein Stellvertreter Jurij Rybatschuk. Dafür sprach der Vize-Premierminister Pawlo Rosenko. Von den Journalisten habe ich außer Gerhard Gnauck, der Serhij Plochyj befragte, Natascha Fiebrig von 1 + 1 und Anita Winkelmeier von Deutsche Welle – ukrainisch identifizieren können. Pater Petro von der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche in Frankfurt gab durch seine wiederholte Präsenz seinen Segen, Pater Roman von der Griechisch-Katholischen liest vielleicht weniger und war nicht anwesend.
26. Von den ausgezeichneten und nicht ausgezeichneten Starübersetzern ukrainischer Literatur, die als erste auswärtige Leser eine wichtige Brückenfunktion erfüllen, fehlten Claudia Dathe, Alexander Kratochvil und Sabine Stöhr. Nur Jurij Durkot moderierte und las, zunächst Victoria Amelina, später Oleh Senzow, ob beide Übersetzungen von ihm stammten, wurde nicht deutlich.
27. Ganz dezent im Hintergrund standen Förderer der ukrainischen Verlagswelt, genannt werden müssen an erster Stelle die Frankfurter Buchmesse, präsent durch Tobias Voss, und die Kyjiwer Niederlassung des Goetheinstitutes, vertreten durch Marija Schubtschyk. Und das Generalkonsulat der Ukraine mit Generalkonsulin Alla Polyova und ihren Kolleginnen und Kollegen. Noch weiter hinten zuletzt stand beobachtend – „allsehendes Auge“ – der Verfasser dieser Zusammenfassung.
PS: Mitschnitte vieler Veranstaltungen finden sich auf der Facebook-Seite von Viktor Ishchenko. Außerdem hat auch das Buchinstitut, das seit kurzen von der erfahrenen Oleksandra Koval, Gründerin und 25 Jahre lang Direktorin des Lemberger Bookforum, geleitet wird, seine Facebook-Seite und eine Webseite: www.book-institute.org.ua
Die ukrainische Übersetzung dieses Textes erschien am 19. Oktober auf der Webseite der Kyjiwer Zeitung Den‘.