Ukraine – Deutschland: Für wen ist der "Kalte Krieg" vorteilhaft?


Das Verhältnis zwischen der ukrainischen und deutschen Regierung lässt sich in diesen Tagen nicht gerade als freundschaftlich beschreiben. Vielmehr ist auf der obersten Ebene – vertreten durch die Kanzlerin Angela Merkel und einige andere Politiker in Deutschland –, eine Abkühlung zu beobachten, die nicht nur aufgrund der Timoschenko-Angelegenheit und dem Verhältnis zur Ex-Premierministerin hervorgerufen wurde.

Aufrufe zum Boykott politischer wie sportlicher Veranstaltungen, bei denen die ukrainische Regierung anwesend ist und Anschuldigungen, die ukrainische Regierung würde eine Diktatur im Land etablieren wollen, sind zur Norm geworden. Dieser Zustand sollte insbesondere diejenigen beunruhigen, die an der Entwicklung eines normalen Dialogs zwischen der Ukraine und Deutschland interessiert sind.

In den letzten Monaten wandten sich eine Reihe von deutschen Firmen und Unternehmen an die Kanzlerin mit der Bitte, die Verhältnisse zur Ukraine wieder zu normalisieren und die Visumspflicht aufzuheben. Hat doch die Ukraine so gut wie alle Forderungen des “Fahrplans” erfüllt, sodass die Visafreiheit mit der EU in Kraft treten kann. Anfang Juni dieses Jahres waren es schon 96 Prozent des Planes, die erfolgreich umgesetzt wurden. Bei der nächsten Sitzung des ukrainischen Parlaments müssen die Abgeordneten noch einen sehr wichtigen Punkt diskutieren: die Einführung der biometrischen Pässe für die ukrainischen Bürger. Danach gibt es für Brüssel und Berlin keinen formellen Grund mehr, die Visumpflicht für die Ukraine nicht aufzuheben.

Die Sorge der Unternehmer ist nachvollziehbar, ist doch die Ukraine ein wichtiger Partner für Deutschland. Der Warenumsatz zwischen diesen beiden Ländern beträgt zehn Milliarden Euro pro Jahr, davon sind 7,5 Milliarden Euro Teil des deutschen Exports (Exportüberschuss fünf Milliarden Euro). In Zeiten der europäischen Wirtschaftskrise ist der ukrainische Markt also ein sehr gewinnbringender.

Etwa 70 Prozent der deutschen Firmen sehen eine Zusammenarbeit mit der Ukraine als positiv an. Die Mehrheit der deutschen Unternehmen, die in der Ukraine arbeiten, hat ihren Gewinn um zehn Prozent gesteigert, einige steigerten ihn sogar um 100 Prozent. Hervorzuheben ist vor allem die wachsende Zusammenarbeit in der Land-, Energie- und Finanzwirtschaft und im Maschinenbauwesen. Die Ukraine kann für die deutsche Energiewirtschaft, die sich gegen Atomenergie entschieden hat und nun nach alternativen Energieträgern sucht, ein wichtiger Anbieter von vergleichsweise preiswertem Bio-Kraftstoff werden.

Der Fairness halber soll an dieser Stelle auch die negative Aufnahme des unternehmerischen Klimas in der Ukraine durch die deutsche Wirtschaft erwähnt werden, das korrupte Strukturen in der Wirtschaft und Fiskal-Sphäre aufzeigt. Das heißt, dass deutsche Unternehmer außer dem sichtbaren Vorteil auch Risiken aufgrund eben dieser Negativmomente sehen. Doch ist diese Negativauffassung nicht die Folge der politischen Spielereien der letzten Monate, sondern die Folge bitterer Erfahrungen, die deutsche Geschäftsmänner in den letzten zehn oder mehr Jahren gemacht haben. Die Ukraine muss deshalb das Investitionsklima im Land auf eine maximale Art und Weise verbessern – durch den Erlass entsprechender Gesetze und Änderungen an der Philosophie des Beamtentums.

Dennoch: Die Dominanz der politischen Rhetorik über den wirtschaftlichen Nutzen wird früher oder später Zweifel und Ablehnung hervorrufen. Angela Merkel kritisiert zwar die Ukraine und deren politisches Verfolgen von Regierungsgegnern, aber schweigt bei den eklatanten Verletzungen der politischen Rechte wie Menschenrechte in der Russischen Föderation, die Deutschland zu einem Drittel mit Gas versorgt. Die russische Lobby ist traditionsgemäß stark in Deutschland, eine ukrainische hingegen fehlt völlig. Sogar bei einem Auftritt vor dem Bundestag erinnerte Frau Merkel an die Völker Weißrusslands und der Ukraine, die unter der Last der Diktaturen zu leiden hätten. Dies führte zu einem Witz: Wenn an Russland nicht erinnert wurde, dann – folgt man der Logik der Kanzlerin –, leidet dort das Volk wohl nicht unter der Diktatur, sondern genießt sie vielmehr.

Selbst in der CDU gibt es keine einheitliche Meinung in Bezug auf die Ukraine. Karl-Georg Wellmann, CDU-Abgeordneter im Bundestag, rief zur Zusammenarbeit mit der Ukraine auf und bezeichnete viele der Anschuldigungen an die ukrainische Regierung als übertrieben. Er erklärte ganz ehrlich, dass Timoschenko kein Engel sei und man ihre Angelegenheit genauer untersuchen sollte. Doch bevor dies geschehe, müsse Deutschland der Ukraine beim EU-Beitritt helfen, anstatt sie davon abzuhalten.

Übrigens traf Wellmann eine sehr kluge Entscheidung: Er besucht die EM 2012 in der Ukraine als normaler Fan.

In der Ukraine selbst meinen viele, dass die Normalisierung der Beziehung zu Deutschland ein wichtiges Moment für die europäische Integration darstellt. So auch der Erste Vize-Premier der Ukraine, Walerij Choroschkowskij, der, bevor er in die Politik ging, ein sehr erfolgreicher Unternehmer war und somit die Bedeutung der Wiederherstellung der Beziehung zwischen Berlin und Kiew einzuschätzen weiß.

Und gerade Choroschkowskij trägt in der ukrainischen Regierung die Verantwortung für die europäische Integration. Gerade er setzt sich für die Gewährung zusätzlicher Garantien für Investoren in der Ukraine ein. In den letzten Wochen führte er Gespräche mit Großunternehmen wie Volkswagen und Deutsche Bank. Choroschkowskij gehört der Abteilung für Europäische Integration des Sekretariats des Ministerkabinetts der Ukraine an, das von dem erfahrenen Diplomaten Wassilij Filiptschuk geleitet wird.

Für eine Normalisierung der Beziehungen zu Deutschland sprach sich auch der Außenminister der Ukraine, Konstantin Grischchenko, aus und forderte dabei die ukrainischen wie deutschen Politiker zu einer Zusammenarbeit auf, die beiden Seiten Vorteile bringt.

Die Ukraine kann es sich heutzutage nicht leisten, nicht Teil des europäischen Integrationsprozess zu sein. Autokratie in Zeiten der Globalisierung ist nahezu unmöglich. Dennoch herrscht ein Dilemma: Kiew kann sich einerseits in Richtung Osten integrieren und Teil der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft (EAWG) werden, und andererseits in Richtung Westen und sich dem vereinten Europa anschließen.

So setzt sich die Gruppe um Choroschkowskij gerade für die europäische Option ein, hingegen in der Gruppe um den Präsidenten Janukowitsch immer häufiger Forderungen nach einem Richtungswechsel gen EAWG zu vernehmen sind. Diesbezüglich erschien in der Zeitung “Komsomolskaja prawda” am 19. Juni der Artikel Die Ukraine und die Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft – Zeit, sich zu entscheiden von Eduard Prutnik, Mitglied der Partei der Regionen und Wiktor Janukowitsch nahestehend.

Unter den Bedingungen dieses Dilemmas kann Deutschland nun auf der einen Seite die Ukraine bei der Integration in die EU unterstützen oder aber zum wichtigsten Faktor bei der Loslösung Osteuropas vom gesamteuropäischen Raum werden.

Falls Deutschland ein Ergebnis erreichen möchte – auch in Bezug auf die Timoschenko-Angelegenheit –, wird es mit Kiew in den Dialog treten müssen: geduldig, etappenweise, zielgerichtet. Zu nutzen sind dabei die traditionellen Wirtschaftsbeziehungen wie auch die Beziehungen zu Politikern und Vertretern der Öffentlichkeit. Es muss ein vielstufiger Dialog werden.

Falls Deutschland die Beziehungen zu Kiew einfrieren und den Verhandlungsprozess sabotieren möchte, dann wird es die Gespräche mit Janukowitsch auf Ultimaten und eine Position der Stärke stützen.

Die zweite Variante ist die einfachere. Aber wer wird dabei gewinnen? Kiew? Nein, Kiew wird definitiv verlieren. Berlin? Auch Berlin wird nicht gewinnen. Vielmehr wird eine dritte Kraft ihren Sieg feiern.

In einer Situation, in der beide Seiten nicht aufeinander zu gehen, gewinnt keine von beiden. In dieser Situation muss einer einen Schritt zurückmachen. Ich glaube, dieser wird nicht von Janukowitsch vollzogen, hat er die Konfrontation doch nicht angezettelt. Indirekte Zeichen deuten darauf hin, dass das offizielle Berlin in geraumer Zeit versuchen wird, einige Schritte vorzuschlagen, die die Beziehung zum offiziellen Kiew normalisieren werden – auch wenn es nur schwache Signale sein werden, Kiew wird diese unbedingt akzeptieren. Wichtig ist vor allem, dass das Verhältnis zwischen zwei Staaten nicht auf einen einzigen Gefangenen reduziert wird.

20. Juni 2012 // Kost Bondarenko, Politologe am Institut für ukrainische Politik in Kiew

Кость Бондаренко: УКРАИНА – ГЕРМАНИЯ: КОМУ ВЫГОДНА «ХОЛОДНАЯ ВОЙНА»? [0,04 MB]

Übersetzerin:   Maria Ugoljew  — Wörter: 1198

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