Die Ukraine – ein „failed state“?
Putin versucht dem Rest der Welt zu beweisen, dass die Ukraine ein unbeabsichtigtes und lästiges Missverständnis ist.
Zwei Welten – zwei Moralen. Das sowjetische propagandistische Klischee charakterisiert überraschend genau den Zustand, in welchem sich die Informationswelten Russlands und der Ukraine befinden. Während der ganzen Zeit der Unabhängigkeit ist die Ukraine dazu gezwungen, auf Informationsbeschuldigungen des Kremls zu reagieren. Der letzte „kreative Einfall“: Die Bandera-Anhänger [so werden v.a. die (vermeintlich nationalistisch gesinnten) Westukrainer von den Russen genannt, in Anlehnung an die Partisanen im und nach dem 2. Weltkrieg unter Führung von Stepan Bandera, Anm.d.Ü.] und der Rechte Sektor haben in Kyjiw die Macht ergriffen und führen nun ethnische Säuberungen auf dem Gebiet Neurusslands durch.
Gott sei Dank zeigten die letzten Wahlergebnisse der Welt, dass die ukrainische Gesellschaft weder nazistisch noch antisemitisch ist. Dafür brauchte das Land nicht Wolodymyr Lytwyn [ukrainischer Politiker, 2008-2012 Präsident des ukr. Parlaments, Anm.d.Ü.] mit seinen Tränen auf dem von der Mutter handbestickten Ruschnyk [traditionell ukr. besticktes Tuch], sondern den glamourösen und schockierenden Oleh Ljaschko [Politiker der „Radikalen Partei“, Kandidat bei den Präsidentschaftswahlen Mai 2014, Anm.d.Ü.] mit den Heugabeln. Dank ihm bekamen die Kandidaten, die einen ultrarechten Ruf genossen (Jarosch und Tjahnybok), zusammen weniger Stimmen als ein Herr Rabynowytsch [jüdischer Geschäftsmann und Sportfunktionär, Anm.d.Ü.].
Unterdessen hat die russische Propagandamaschine nach einem solch nervigen Misserfolg wie dem, dass Herr Jarosch nicht zur zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen antreten konnte, nicht an Schwung verloren. Kisseljow [russischer Journalist und Vorsitzender der staatlichen Nachrichtenagentur Rossija Sewodnja, Anm.d.Ü.] und seine Gefolgsleute folgen konsequent der Linie Wladimir Putins, der wiederholt äußerte, dass die Ukraine nicht nur ein Zentrum des Neonazismus in Europa ist, sondern auch ein „gescheiterter Staat“ („failed state“).
Leider trauert der Präsident Russlands nur mit Worten um die Sowjetunion, bereit, die Beziehungen mit der ganzen Welt zu brechen, das Internet mit „Tscheburaschka“ [sowjetische Film- und Romanfigur sowie Plüschtier, Anm.d.Ü.] zu ersetzen, Spitzenunterwäsche und hohe Absätze zu verbieten, ebenso wie Fremdwörter und Fluchen. Wenn das wahr wäre, wäre er schon längst im gepanzerten Zug auf der Strecke Minsk – Moskau – Pjöngjang gefahren, hätte Neuland im Fernen Osten erschlossen und ließe Touristen nur auf einem Sechstel des Landes in organisierten Gruppen unter der Führung geprüften Personals hinein. Und über einen „gescheiterten Staat“ würden nur die Abendnachrichten berichten, und der Fall wäre damit erledigt.
Aber nein doch, Putin ist ernsthaft dazu entschlossen, seinen Traum Realität werden zu lassen und der ganzen Welt zu beweisen, dass die Ukraine ein unbeabsichtigtes und lästiges Missverständnis ist. Und mit solchen „will man nichts zu tun haben“, also man nimmt sie nicht in die NATO oder EU auf. Wenn die Ukraine in den warmen und rückwärtsgerichteten Schoß der „russischen Welt“ unter dem Deckmantel „Eurasiens“ zurückkehrt, könnte dies in der Version des Kremls die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts beheben.
Aber es ist unser Glück, dass Putin über den Staat nach seinem eigenen Verständnis spricht, das heißt, er operiert mit Begriffen des 19. Jahrhunderts. Sein „Staat“ ist ein Unterdrückungsapparat, der die natürlichen Ressourcen verkauft und gnadenlos die menschlichen Ressourcen ausbeutet. Und das Wort „Herrscher“ ist heilig und unantastbar. Daher kommt auch der Wunsch, echte Männerfreundschaften den Staatschefs der europäischen Länder aufzubinden. Diese Freundschaft mit Putin erweist sich jedoch als eine „vom Pech verfolgte“. Der Freund Berlusconi hat, nebenbei gesagt, schon „seine Strafe abgesessen“, Sarkozy wartet noch auf die Ergebnisse der Untersuchung. Vielleicht meiden die europäischen Staatschefs deshalb die freundschaftlichen Umarmungen des russischen Staatschefs.
Laut Putin ist das Hauptmerkmal eines starken Staates die Möglichkeit, den anderen Teilen der Menschheit zu zeigen, „wo’s langgeht“. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, können in der Tat nur wenige Regierungen einen nuklearen Winter einleiten. Ohne Zweifel wollte Janukowytsch Putin gefallen, und Putin hat große Hoffnungen in ihn gesetzt. Auch wenn Herr Janukowytsch nur im eigenen Lande seinen Untergebenen zeigen konnte, „wo’s langgeht“, konnte man sich nach Meinung Herrn Putins schon einig werden. Aber, wie einst Leonid Kutschma sagte, ist die Ukraine nicht Russland, und deswegen befindet sich Janukowytsch im Moment außerhalb des Landes. Unbekannt ist jedoch, ob er wirklich in Freiheit ist und ob er immer noch die Tonnen Bargeld hat, die er in den vier Jahren staatlicher Arbeit als Präsident anzusammeln schaffte.
Und all das aus dem Grund, dass sich in der Mehrheit der ukrainischen Gesellschaft ein anderes Verständnis vom Begriff des Staates herausgebildet hat – ein anderes, das sich vom Verständnis Putins deutlichen unterscheidet. Der offiziellen russischen Logik folgend ist das hungernde Nordkorea viel erfolgreicher als Luxemburg, weil es sich eine viel „unabhängigere“ Innenpolitik erlauben kann. Allerdings konnten davon noch nicht einmal alle Nordkoreaner überzeugt werden. Aus Sicht eines normalen Menschen, also eines mündigen Staatsbürgers und nicht nur eines Untergebenen, hat der Staat als Monopolist nicht nur das Recht auf legalisierte Gewalt, sondern er hat auch eine Vielzahl an Verpflichtungen. Und von diesem Standpunkt aus betrachtet sind sowohl die Ukraine Jankowytschs als auch das Russland Putins typische Kandidaten für den Club der „failed states“, im Hinblick auf die Entwicklungen der Mortalitäts- und Geburtenrate, des Gesundheitssystems und letztendlich auch in Anbetracht der Möglichkeiten der Selbstverwirklichung vor dem Hintergrund der Naturschätze. Schade, dass die Anhänger Putins in Russland und der Ukraine, für die der Slogan „ach, was für ein Land wir verloren haben – mit voller Kraft zurück!“ zum Lebensmotto wurde, all dies nicht bemerken.
Seitdem die ukrainische Gesellschaft sich weigerte, aus sich ein Nordkorea zu machen, begannen die Probleme mit Russland und der „russischen Welt“ auf der Krim und im Donbass. In diesen Regionen gibt es den größten Anteil derer, die man im antiken Griechenland Idioten nannte – Leute also, die sich mutwillig weigerten, sich an der Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten zu beteiligen, nicht auf allgemeinen Versammlungen abzustimmen usw. Diese wählen in der Regel „so, wie man soll“ oder „für Brot“, sie sagen oft: „Was macht das für einen Unterschied“, ständig warten sie auf „Vergütungen“ und „Zuschüsse“ und „Hilfe“. Dies kann man mit dem Erbe des kommunistischen Systems erklären, der „schweren Kindheit“ in den 90ern, der spezifischen Wirtschaftsstruktur, der Persönlichkeitsstruktur… Nach Einführung der Anti-Terror-Operation wird es schon unmöglich, Antworten zu finden, als Ersatz für alte Ideen und Vorurteile kommen zwangsläufig neue.
Dagegen steht jetzt ganz real die Aufgabe an, das Land zu vereinen, bei der das Heulen gestriger Oligarchen von „man kann den Donbass hören“ und ähnliche Nichtigkeiten niemanden in die Irre führen sollten. Das Land vereinen kann man nur auf der Grundlage einer der zwei folgenden Zivilisationsmodelle: Eines bedingt russischen (wo der „Herrscher“ die „Idioten“ beherrscht) oder eines bedingt europäischen Modells (wo der Staatsbürger das Land regiert, indem er an öffentlichen Angelegenheiten teilnimmt). Diese zwei Modelle zu verbinden, ist unmöglich, und die Geschichte der Wahlen in der unabhängigen Ukraine mit ihrem ständigen Schwanken in die eine oder andere Richtung veranschaulicht dies sehr deutlich. Und dazu muss noch dieses Land gerettet werden, das heißt, Putins Traum von einem „gescheiterten Staat“ darf nicht Wirklichkeit werden.
Zunächst einmal sollten Situationen vermieden werden, die die russische Propaganda ausnutzen wird, um die Thesen Putins über die Ukraine zu bestätigen, dass die Ukraine als Land nicht existiert hat. Also sollte man nicht daran arbeiten, dem russischen Fernsehen Bilder zu liefern. Im Moment werden jegliche unkonstruktive Konflikte, besonders im Westen, besonders unter Mitwirkung auffälliger „Aktivisten“ in Tarnfarben ausgestrahlt als „Machnowschtschyna“ [Reduzierung des anarchokommunistischen Versuchs in der Südostukraine unter Nestor Machno auf Chaos, A.d.R.] und „Versuch, sich aus der Kontrolle der zentralen Regierung zu befreien“. Dabei, dass dem Kreml schon wieder etwas nicht in die Hände spielt, operiert der Genosse Kisseljow mit Begriffen und Konzepten, die verstanden werden in der „russischen Welt“, wo der friedliche Protest gleichzusetzen ist mit „russischer Revolte – sinnlos und gnadenlos“ [Anspielung auf ein Zitat Puschkins, Anm.d.Ü.] Es wurde schon darüber geschrieben, warum der Russe sich so vor Nationalisten fürchtet – und zwar, weil die russischen Nationalisten noch schlimmer als die russischen „Antifaschisten“ sind. Mit Protesten und Kundgebungen ist es ähnlich, es ist die gleiche Situation.
Als zweites muss man so sehr wie möglich das unterstützen, was der Majdan möglich gemacht hat: Die Keime einer Zivilgesellschaft, mittelständische Unternehmen und Kleinunternehmer, den freien Wettbewerb. Tatsächlich verringert die Existenz eines bedeutenden Prozentsatzes an Leuten, die für sich selbst arbeiten, deren Häuschen einen gewissen wirtschaftlichen Wert besitzen und denen es nicht egal ist, wofür ihre Steuern ausgegeben werden, die Wahrscheinlichkeit dessen, dass heuchlerische Separatisten in Anzügen „unserer Jungs“ versuchen werden, ihre Macht an einem bestimmten Siedlungspunkt zu etablieren.
Dort aber, wo die Leute nichts schützen können und auch nichts zu verlieren haben außer der Sträflingsarbeit, kann sogar Väterchen Frost Gouverneur (Anspielung auf den Donezker «Volksgouverneur» Pawel Gubarew, A.d.R.) werden. Denn der Staat „gibt sowieso nichts“. Darin liegt der größte Unterschied in der Wahrnehmung der Welt des „bei ihnen und bei uns“. Es besteht die Hoffnung, dass die wirtschaftliche Integration in die europäischen Strukturen letztendlich die Waagschalen auf die Seite des seelenlosen kapitalistischen Systems zieht, dorthin, wo „der gute Junge“ kein Beruf ist, wo es die uns bekannte Freundlichkeit nicht gibt (also Vetternwirtschaft und Vitamin B), wenn es um die Arbeit geht. Letztendlich ist der Kapitalismus ein System, das die positive Selektion stimuliert, wo zum Beispiel der Wohlstand eines Unternehmens von der Arbeitsleistung der Mitarbeiter abhängt, und nicht von dem Grad der Nähe des Eigentümers zur Aufsichtsbehörde. Und die Arbeit im Staatsdienst ist lediglich eine Arbeit, die von den Steuerzahlern kontrolliert wird.
Drittens muss man bedenken, dass es ein überaus gefährliches Experiment ist, wenn im Osten der Ukraine so etwas nach dem Modell eines demokratischen Russlands erschaffen wird. Selbst wenn die örtlichen „Russen“ gegen die „Tschekisten“ [Mitarbeiter der Sicherheitsapparate wie NKWD, KGB u.ä., Anm.d.Ü.] und die Anhänger Kadyrows [des Anführers der Tschetschenen, Anm.d.Ü.] kämpfen werden, und die örtlichen „Eliten“ Volkstrachten tragen werden, wird die Natur dieses Gesellschaftssystems sie in die Arme des Kremls führen. Ein System, das die Macht, das Geld und jetzt schon die militärischen Streitkräfte in einer Hand konzentriert, neigt zwangsläufig zu Feudalismus und ermuntert den Staat dazu, sich selbst von vielen Prozessen zurückzuziehen. Und dies ist ein „failed state“.
17. Juli 2014 // Nasar Kis
Quelle: Zaxid.net