Die Ukraine vor der Parlamentswahl 2012: Warum Journalisten Politiker werden wollen


An die 85 Parteien kandidieren während der Parlamentswahl 2012 am 28. Oktober. Fast jede Partei hat in ihrer Liste Kulturschaffende und vor allem Journalisten. Wir fragten den jungen ukrainischen Journalisten Kostjantyn Ussow, warum das so ist.

Ussow, Jahrgang 1988, wurde in der Ukraine bekannt nach seinen kritischen TV-Berichten über das Kiewer Gefängnis Lukjaniwka, in dem viele oppositionelle Politiker, ehemalige Regierungsmitglieder, einschließlich Julia Tymoschenko, die U-Haft verbrachten. Zwei von ihnen sind nun in politischen Schauprozessen zu längeren Haftstrafen verurteilt worden. Nun versucht Kostjantyn Ussow die Opposition zu unterstützen und kandidiert in einem Wahlkreis in Odessa für die Partei Julia Tymoschenkos „Batkiwschtschyna“ („Vaterland“).

Kostjantyn, warum zieht es einen erfolgreichen Journalisten in die Politik?

Ussow: Wissen Sie, wenn man als Journalist in der Ukraine die Arbeit an einem kritischen Bericht beendet, die Geräte einpackt und Richtung Redaktion aufbricht, wird man das Gefühl nicht los, dass alles umsonst ist, dass deine Bemühungen nichts ändern werden. Die Regierung, die Staatsbediensteten sind pathologisch unfähig kritische Signale zu empfangen und auf sie zu reagieren. Sie wollen nicht, sie sind nicht bereit etwas in der Ukraine zu verändern. Für mich ist es das Schrecklichste.

Die Ukrainer vertrauen nur Menschen dreier Berufe – Lehrern, Geistlichen und eben Journalisten. Den letzten vertrauen, laut Umfragen, etwa 75% der ukrainischen Bevölkerung. Journalisten sind heutzutage, wie merkwürdig es auch zu sein scheint, die einzige existierende aktive Opposition zu alldem, was gerade im Land passiert. Das zur Zeit nicht im politischen Sinne, sondern gesellschaftlich gesehen. Journalisten, so scheint es mir, haben noch nicht die Fähigkeit eingebüßt, Ungerechtigkeit besonders stark zu spüren.

Zudem gehören junge Journalisten, Juristen (Ussow studiert zurzeit Jura in Kiew) und Dozenten vorrangig zu den Menschen, die sich bemühen, etwas zu verändern. Ich für meinen Fall ging davon aus, dass die Politik einfach eine Möglichkeit bietet, dafür zu kämpfen, was mir und meinen Gleichgesinnten besonders nahe liegt. Das ist der Kampf, den ich auch so führe, aber als Politiker verändert man dann die Maßstäbe dieses Kampfes.

Sie stehen nun im Endspurt eines anderen Kampfes, nämlich des Wahlkampfes. Wie fühlen Sie sich nun – noch als Journalist oder schon als Politiker?

Ich halte mich nicht für einen Berufsjournalisten, ich sehe, sozusagen, kein Tattoo „Journalist“ an mir. Ich suche eine Möglichkeit für etwas zu stehen. Klar bat sie sich mir als Journalist. Und ich bin mir sicher, dass ich auch eine solche Möglichkeit als Volksvertreter finde. Andererseits ist es nicht ausgeschlossen, dass morgen weder Parlamentarier noch Journalisten etwas in diesem Land verändern könnten. Oder Journalisten, wie ich diesen Beruf kenne, wird es einfach nicht mehr geben. TVi (ein regierungskritischer Sender, bei dem Ussow noch Anfang 2012 arbeitete) wird gerade zugemacht, der Sicherheitsdienst kontrolliert allmählich das Internet. Journalisten sind Feinde für die jetzigen ukrainischen Machthabenden, weil sie dabei stören, zu stehlen und Gesetze zu verletzen.

Wie hoch sind Ihre Chancen, die Wahl zu gewinnen?

Sie sind so hoch, wie die Zahl der Menschen in dieser Gesellschaft, die begreifen, dass diejenigen, die gerade angeblich viel in die Beseitigung ihrer Probleme investieren, nach der Wahl kaum was tun werden für sie. Ich könnte auch zum Beispiel damit anfangen, Dächer zu reparieren. Dafür bräuchte ich nicht mal Geld. Ich brauche dafür nur in die zuständige Behörde zu gehen, deren Leiter zu sprechen und ihm zu sagen, dass er in der Zukunft Schwierigkeiten bekommen würde, wenn das eine oder andere Dach in meinem Wahlkreis nicht in Ordnung gebracht werde. Eigentlich kann man davon ausgehen, dass das Geld für die notwendigen Reparaturen da ist, aber, wie es so oft und auf verschiedenen Machtebenen in der Ukraine der Fall ist, einfach gestohlen wurde. Aber so einen Weg will ich nicht gehen, meine Wähler haben nun zu entscheiden, ob sie das einmalig reparierte Dach meinen Bemühungen, das zuständige Behördensystem zu reparieren, vorziehen.

Es gibt sehr viele Menschen, die das verstehen. Nun kommt auch eine andere Frage auf – wie werden die Stimmen ausgezählt. Nach meiner Information, hat die Partei der Regionen vor, doppelt so viele Wahlzettel zu drucken, wie es Wähler gibt. Das bedeutet, dass sie bereit sind, nicht nur 10-30% der Wahlzettel auszutauschen, sondern gleich eine ganze Wahlurne, wenn es nötig wird und wo es ihnen wichtig wird. Ich rechne sehr stark mit der Hilfe von Beobachtern. Ich habe im Vorfeld schon Zusagen aus diplomatischen Vertretungen von den USA und Schweden bekommen, dass ihre Wahlbeobachter auch in meinem Wahlkreis tätig werden. Aber ich habe auch vor, wenn es darauf ankommt, juristische Schritte gegen Wahlfälschungen einzuleiten.

Haben Sie keine Angst, sich stark zu verändern als Politiker? Die Ukraine kennt doch schon einige Enttäuschungen, wenn Menschen aus Kulturkreisen ins Parlament kamen und nichts erreicht haben. Der Sänger von Okean Elsy, Swjatoslaw Wakartschuk, hat zum Beispiel nach einem Jahr sein Mandat niedergelegt …

Mich verwundert schon jetzt das, was ich sehe und erlebe. Der ganze Wahlkampf, die Methoden, die benutzt werden. Dass die Leute es nicht leid sind, so was zu machen. Schätze. Einiges würde mich auch im Parlament selbst verwundern. Das ist doch die Tatsache, dass das ukrainische Parlament ineffektiv, kümmerlich, lächerlich, ja nutzlos wirkt. Dies ist aber nicht meine Schuld und auch nicht die Schuld von den Menschen, die in der Ukraine leben, hart arbeiten, studieren, sich weiterentwickeln wollen. Das Parlament kann zu einem sehr effektiven Machtorgan werden, das seine selbst Spielregeln bestimmt.

Und was mich angeht, so würde ich mich nicht gerne verändern. Ich verstehe, dass alle Gesetzesvorstöße, die von einem oppositionellen Abgeordneten stammen, sehr geringe Chancen haben, ein Gesetz zu werden. Aber ich kann doch dann auch mit anderen Rechten trumpfen, zum Beispiel mit dem Recht, zu kontrollieren, dass Menschenrechte eingehalten werden. Das ist das, womit ich mich vorrangig beschäftigen würde.

Mit Kostjantyn Ussow sprach Danylo Bilyk

Übersetzerin:   Lessja Jurtschenko  — Wörter: 939

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