Ukrainische Pilotin im deutschen Friedenstaubenschlag
Auf Facebook wird gegenwärtig die Berichterstattung der deutschen Medien, insbesondere des ZDF, über den Austausch von Nadija Savčenko diskutiert. Im heute-Journal, das sich schon häufiger als nicht besonders bemüht gezeigt hat, uns wirklich über die russisch-ukrainischen Konfliktverhältnisse aufzuklären, kam Frau Savčenko nicht gut weg, und ihre Freilassung wurde zum Anlass genommen, die Aufhebung der Sanktionen gegen Russland zu fordern.
Was die wegen der anhaltenden russischen Militärintervention in der Ukraine verhängten Sanktionen angeht, so sind diese nicht wegen der Freilassung einer illegal festgehaltenen ukrainischen Staatsbürgerin vom Tisch – vielmehr ist ihre Inhaftierung nur einer von tausenden tateinheitlich begangenen Verstößen gegen Völker- und Kriegsvölkerrecht seitens russischer Armee und russischer Paramilitärs.
Savčenko jedoch eignet sich natürlich aus deutscher Sicht nicht als Sympathieträgerin; schließlich ist sie, statt still zu leiden, als Soldatin in der ostslawischen Machogesellschaft, als lärmende und kämpferische Patriotin der Ukraine, der ihr eigenes Land über alles geht, rasch in die Rolle des polarisierenden Mannweibs gerutscht. Und Patriotin sein – das geht gar nicht. In 100 Staaten der Welt, bitteschön, ist das ein nice to have, oder halt normal zu sagen „worst or best – my country“. In Deutschland ist es auch wieder in. In der Ukraine ist das, wir wissen es schon: Nationalismus.
Ich bin aus langjähriger Forschungserfahrung mit nationalen Bewegungen zur Antinationalen geworden und habe mich dem vaterlandslosen Uran-Atomkern zugewandt, der gerne spontan oder mit ein wenig Anstoß zerfällt, also die physikalische Antithese der identitären Integration ist. Jedoch holt einen der Nationalismus, so sehr man sich von ihm auch distanziert, immer wieder ein. Momentan vor allem in Form sonderbarer und verzerrter Maßstäbe, welche Deutsche an die Nationalismen ihrer östlichen Nachbarn anlegen, und in Form der Schlussfolgerungen über politische Prioritäten und vertrauensbildende Maßnahmen, die sie daraus ableiten.
Die meisten deutschen Medienleute stammen aus einer Generation, die in ihrer Jugend von der Friedens- und Antiatombewegung der 1980er geprägt wurden. So wahrscheinlich auch die ZDF-Berichterstatter, die seit den Zeiten ihrer Sozialisierung im geteilten Europa immer noch der Überzeugung sind, dass man sich mit „Russland“ (früher: der UdSSR) vertragen müsse, dass dort zwar einiges nicht so toll, aber insgesamt doch gar nicht schlecht sei: das große Herz der Menschen (gerne auch „russische Seele“ genannt), das Eintreten für den „Frieden“, die Hilfe für „unterdrückte Völker“ gegen die wirklich ernstzunehmende Gefahr, den US-Imperialismus, und die eigentlich doch irgendwie menschliche Idee des Sozialismus.
Von Stalin, Gulag und auch von Putins Aufstieg im Geflecht der Gulag-Kultur, die auf den miteinander verflochtenen Systemen von Schwerkriminalität und Geheimdiensten beruht – davon wollte und will man besser nicht so viel wissen.
Denn es ist… eben unbequem. Ich halte das noch nicht mal für bösen Willen oder für Ergebnis einer russischen Anwerbung, wie das Verschwörungstheoretiker vermuten – es ist schlicht die Trägheit des Denkens in dieser Generation. Womöglich auch eine aus der Blockkonfrontation stammende Gewöhnung, oder Sehnsucht nach Zuständen vermeintlicher Stabilität zwischen uns und „Russland“, die mit dem Leben Dritter bezahlt wird, aber gute Aufträge für die deutschen Maschinenbauer verspricht. So macht es die Schröder/Steinmeier-Schule der Außenpolitik ja auch seit Jahren vor.
Der traurige Höhepunkt dieses deutschen Geflatters im Friedenstaubenschlag war der von vielen Künstlern und Medienleuten unterzeichnete Aufruf „*Nie wieder Krieg in Europa*“, passenderweise auf dem Höhepunkt des blutigen Krieges in der Ukraine, die die Unterzeichner wohl nicht zu Europa zählten, sondern zum außereuropäischen Kreis jener Territorien, in denen Russland seine Interessen zwar ein bisschen schmutzig, aber doch mit einiger Berechtigung regele.
Und das alles wird heute wieder aufgekocht, bezogen auf das real existierende Russland und die auf fast verlorenem Posten kämpfende Ukraine. Russen können eigentlich tun oder lassen, was sie wollen – den Kommunismus bauen, die Demokratie oder eine Art Pinochet-Staat mit Atomraketen – sie haben immer einen Vertrauensvorschuss, einen Bonus bei solchen Berichterstattern.
Bei der pro-westlichen Ukraine verhält es sich gerade umgekehrt: sie bekommt stets einem Malus aufgebrummt, denn wie kann es sein, dass sich eine Gesellschaft gegen die irgendwie doch stabilitäts- und ordnungsschaffende russische Dominanz wehrt? Die bringen uns ja alle in Gefahr! Das kann doch auch nicht im Interesse der Ukraine sein! Und solchermaßen Verrat der Ukrainer an ihren eigenen Interessen, welche Deutsche und Russen besser kennen als die Ukrainer selbst – das kann nicht auf eigenständiger Entscheidung beruhen, sondern geht auf US-Manipulation zurück.
Dasselbe Schema beobachten wir auch bei der Berichterstattung über Nationalismus und Rechtsextremismus: der Ukrainer scheint schon als Baby Nationalist zu sein – und somit schon auf halbem Weg zum Neonazi, da muss man also wachsam auf jedes Signal achten. Verdächtigt: er oder sie lernt von den Eltern Ukrainisch und verteidigt das auch gegenüber der russischen zivilisatorischen Mission – das ist sehr provinziell (schließlich lernen wir ja auch Englisch) und ein Zeichen von Rückständigkeit. Ist er oder sie russischsprachig und tut dasselbe – dann kann ja etwas überhaupt nicht stimmen, denn Nation und Sprache, das hängt doch so zusammen wie Putin und Glatze.
Russland wird vielleicht mit Eishockey, Bären, Goldkuppeln, Leninmausoleum und Doping assoziiert, aber nicht mit Nationalismus. Da mag sich das russische Parlament bis auf den letzten Mann wiederholt als chauvinistisches Hetzkollektiv konstituieren und russische Nazis allwöchentlich einen Migranten aus Mittelasien totprügeln – das sollte man nicht verallgemeinern und gar als Merkmal einer neuen russischen Leitkultur missverstehen.
Die Ukraine jedoch verdient das Vertrauen dieser Deutschen erst, wenn sie sich nicht mehr so zickig anstellt, und endlich mit Moskau „spricht, statt zu schießen“, und den „Separatisten“ im Donbass Autonomie gewährt – am besten sollte sie „Donezker Volksrepublik“ und „Lugansker Volksrepublik“ mitsamt ihren aus Russland importierten Mafiakumpanen und Kosakenatamanen die Wahlen unter sich ausmachen lassen und deren Autonomiehaushalt anschließend mit den westlichen Hilfsgeldern finanzieren, die ihr dann, aber nur dann gewährt werden können. Damit „Frieden werde“.
Aber erstmal muss sie sich unser Vertrauen verdienen und ernsthafte Fortschritte beim Bekämpfen des Nationalismus machen. Dazu passt natürlich gar nicht, wenn eine ukrainische Patriotin und, ja, auch bekennende Nationalistin, der russischen Besatzung weiter den Kampf ansagt – der schlicht der Kampf gegen einen anderen, einen hochexpansiven und nicht defensiven Nationalismus ist. Pazifisten mag das missfallen und Schmerzen bereiten – aber Osteuropa ist kein Streichelzoo mit Putin-Tigerbabies.
Deswegen sollte eine Kritik des Nationalismus den russischen genauso wie den ukrainischen Nationalismus analysieren, und die Unterschiede zwischen beiden zur Kenntnis nehmen. Denn wäre der ukrainische Nationalismus ähnlich aufgestellt und bewaffnet wie der russische, hätten wir heute das Bataillon Azov im Kubangebiet stehen.
Anmerkung für Unkundige: das ist ein Gebiet im Süden Russlands rund um die Stadt Krasnodar, das im 19. Jahrhundert nach der ethnischen Säuberung der dort ansässigen Tscherkessen und anderer nichtslawischer Bevölkerungsgruppen mit ukrainischen Kosaken-Bauern besiedelt wurde, deren Nachfahren auf den Dörfern bis heute ukrainisch sprechen und singen, allerdings keinerlei Schule, Gericht oder Zeitung in ihrer Sprache haben – „Dialekt“ verdient nach russischer Auffassung einen solchen Status natürlich nicht. Es gibt dort bis auf einige wenige Einzelfälle keine Separatisten oder irgendwelche Aufrufe an Kiew, die unterdrückten Landsleute zu retten – aber, das lehrt uns die russische Intervention in der Ukraine, man braucht gar keine echten Separatisten, solange man den Separatismus erfolgreich und mit etwas militärischer Nachhilfe simulieren kann.
Das alles zu analysieren liegt unseren Friedenstauben fern. Russland sollte immer und überall „ermutigt“ und sogar belohnt werden, wenn es etwas zurückgibt, was, sagen wir mal, unter dubiosen Umständen in seine Verfügungsgewalt kam. Wenn der russische Staat erst jemanden außerhalb Russlands kidnappen und dann unter fabrizierter Anklage verurteilen lässt, als handle es sich um eine innerrussische Affäre, um diese Person sodann zu „begnadigen“ (und gegen Leute auszutauschen, die aus eigener Kraft mit der Waffe in der Hand und einschlägigen Absichten das ukrainische Staatsgebiet betraten) dann ist das doch ein herrliches Zeichen guten Willens, das man mit nichts weniger honorieren sollte als mit einer Aufhebung der Sanktionen. So einfach und so gut kann die Welt doch sein.
26. Mai 2016 // Anna Veronika Wendland
Quelle: Facebook