Der Skandal mit den gewalttätigen Fans, die einen kleinen Teil der „russischen Welt“ nach Frankreich brachten, läuft Gefahr zur grellsten Episode der EM 2016 zu werden.
Doch seien wir fair: die Draufgänger, die es bis nach Marseille schafften, sind dennoch untypische russische Fußballfans. Der typische Fan blieb in seinem Saransk oder Nischnij Tagil, sitzt auf dem Sofa, trinkt Bier, schaut Fernsehen und ist stolz auf die russischen Leistungen.
Er zieht es nicht vor zu handeln, sondern es von der Seite zu beobachten. Für ihn existieren keine kräftezehrenden Trainings, keine exorbitanten Belastungen während des Spiels, keine physischen Verletzungen – einzig fesselnde Bilder.
Natürlich wird genauso auch in anderen Ecken des Planeten mitgefiebert. Doch die Besonderheit des derzeitigen Russlands liegt darin, dass hier eine derartige Weltsicht zu einer generellen wurde. Geschichte, Politik, Krieg – alles gleicht dem sportlichen Mitfiebern.
Ein riesiges Land wurde vollständig vom Syndrom des Fußballfans verschlungen – dem Gefühl der Zugehörigkeit zu Ereignissen, an denen du nicht teilgenommen hast und auch nicht die Absicht hattest teilzunehmen.
Wenn die Russen die UdSSR Stalins verklären, dann bedeutet das nicht, dass sie tatsächlich von der Welt der Fünfjahrespläne, der Gemeinschaftswohnungen, Baracken und blutigen Soldatensachen angezogen sind. Nein, der gemeine Bewohner Russlands möchte in der Welt der ausländischen Autos, des Pops, modischer Kleidung und lockerer Zerstreuung leben.
Und für das Land der siegreichen Großväter fiebert er wie für den Lieblingsfußballclub. Und das prahlerische „Das können wir wiederholen!“ ist nicht mehr als die Angeberei des Fernsehzuschauers mit Bierbauch, der grölt „Wir haben sie fertiggemacht!“
Wenn Russen Nordkorea und Venezuela preisen, dann folgt daraus ebenso nicht, dass jemand von ihnen bereit ist, den Platz mit den Einwohnern Pjöngjangs oder Caracas zu tauschen. Für die ausgegrenzten Staaten ist man nur den Amerikanern zum Trotz. Und man kann ebenfalls für Putin und die von den Knien aufgestandene Heimat sein, dabei gleichzeitig in der EU leben und alle Vorteile der verfaulenden westlichen Zivilisation genießen.
Diesen Weg haben zehntausende Patrioten gewählt, die es vorziehen aus der Entfernung stolz auf das große Russland zu sein.
Den Krieg in der Ukraine betrachtet der russische Durchschnittsbewohner eben aus der Position des Fußballfans. Entgegen des gängigen Irrtums, gibt es hier sehr wenig Ideologie – es ist eher ein Durst nach Schauspiel und Nervenkitzel.
Das berüchtigte „Neurussland“ war für die Russen niemals irgendetwas nahes. Es wurde wie eine Sportmannschaft aufgenommen, die den Banderowzy tüchtig Zunder macht.
Los Strelkow! Vorwärts Motorola! Die russische Welt ist der Champion! Doch sobald das Spiel von „DNR“ und „LNR“ saft- und kraftlos wurde, verlor das russische Publikum jedes Interesse an den „Volksrepubliken“.
Die Illusion der Solidarität schmolz dahin und es zeigte sich, dass die Russen nichts mit dem Donbass und dessen unglücklicher Bevölkerung verbindet. Der Durchschnittsrusse-Fußballfan schaltete mit Leichtigkeit auf das spannendere Bild um: die Bombardierung Syriens durch die russischen Luftstreitkräfte.
Der gewöhnliche Russe unterstützt bereitwillig die Putin’schen Militärabenteuer. Doch mit den tödlichen Folgen dieser Abenteuer konfrontiert, ist er ernsthaft beleidigt. Er versteht nicht, warum er Verantwortung für die Geschehnisse übernehmen soll.
Der Fußballfan, der vor dem blauen Bildschirm sitzt, muss nicht für die Handlungen der Spieler büßen! Das ist nicht richtig! Als ob der Ball plötzlich aus dem Fernseher dem leidenschaftlichen Zuschauer direkt ins Gesicht flöge.
Fremde Leiden, Tränen, Blut, Tod bleiben für die russische Gesellschaft etwas in Art eines sportlichen Wettkampfes und dieser allgemeine Infantilismus ist richtig erschreckend.
Übrigens ist das zeitgenössische Russland lediglich ein Sonderfall. Das Syndrom des Fußballfans kann jeden treffen, unabhängig von der nationalen Mentalität oder dem Kulturniveau. Im 20. Jahrhundert litt daran ein bedeutender Teil der europäischen Intelligenz, die menschenfresserische Regime der bürgerlichen Gesellschaft zum Trotz unterstützten.
Beispielsweise Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir fieberten für das maoistische China. „Das heutige Leben in China ist ausnahmslos angenehm“??, bekräftigte Mademoiselle Simone. Doch versteht sich von selbst, dass weder sie, noch ihr Begleiter daran dachten, den gewohnten bürgerlichen Komfort mit dem „ausnahmslos angenehmen“ Leben in der chinesischen Volkskommune zu tauschen. Darin lag keine Heuchelei.
Im gemütlichen Pariser Café sitzend, konnte man aufrichtig für die Rote Garde am anderen Ende des Planeten fiebern. Die Burschen mit den Zitatsammlungen Maos schaffen das Bild eines grandiosen sozialen Experiments und diesem wurde sehr aufmerksam aus sicherer Entfernung gefolgt.
Es ist sinnlos dem politischen Fan Inkonsequenz vorzuwerfen. Er meint nicht, dass er an der eigenen Haut all das erproben sollte, was er so innig unterstützt. Und er sieht in seiner Position nichts verwerfliches. Daran muss man sich beim Versuch, ihm etwas zu beweisen, erinnern.
Es ist kein Geheimnis, dass das oben gesagte auch für die Ukrainer aktuell ist. Der Sofa-Patriotismus, der in der Ukraine in den letzten zwei Jahren blühte, das ist eben jenes Fußballfansyndrom. Ein nicht so kleiner Teil der Gesellschaft fiebert für „unsere“ und dürstet nach dem baldigen Sieg, doch denkt er nicht an seinen Preis und will für ihn auch nichts opfern.
Der typische Fan träumt vom Panzervorstoß auf die Krim und stürzt in Panik ins Krankenhaus, sobald die Einberufung kommt. Heute fordert er den Kriegszustand auszurufen und morgen entrüstet er sich, wenn jemand seine persönliche Bewegungsfreiheit einzuschränken versucht.
Doch vom infantilen Sofa-Kämpfer, der in den sozialen Netzwerken tobt, gibt es nur wenig Schaden. Schlimmer ist es, wenn sich Menschen in Fans verwandeln, die tatsächlich die Tagesordnung bestimmen: Journalisten, Personen des öffentlichen Lebens, Politiker.
Leider sind die ukrainischen Herren des Schicksals auf ihre Weise anfällig.
Es ist leicht das Fansyndrom zu übernehmen, wenn du dich im Kreis von Gleichgesinnten bewegst und nur schwer die Stimmungen vorstellen kannst, die außerhalb dessen herrschen. Wenn du dich hunderte Kilometer von der Zone der Antiterroroperation entfernt befindest und nicht mit den zerstörerischen Folgen des Krieges konfrontiert wirst. Wenn dein materieller Wohlstand praktisch nicht vom Zustand der ukrainischen Wirtschaft abhängt. Nolens volens wirst du dann zum Zaungast, der sich um die Ukraine sorgt, doch schrittweise die Verbindung zum eigenen Land und dessen Bevölkerung verliert.
Alles weitere hängt dann lediglich von deiner Vernunft und Verantwortung ab. Es lohnt sich, sich mitzureißen lassen, den Emotionen freien Lauf lassend und der Krieg wird für dich zum anstrengenden Spiel, die Ukraine zu einer Art Fußballmannschaft und der Sieg zum entscheidenden Tor, das deine Selbstverliebtheit befriedigen soll. Du wirst hingebungsvoll mitfiebern und du wirst niemals darüber nachdenken, dass hinter diesen packenden Bildern das Schicksal von Millionen lebendiger Menschen steht.
20. Juni 2016 // Michail Dubinjanskij
Quelle: Ukrainskaja Prawda
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