Der ukrainische Traum minderjähriger Immigranten


Der junge afghanische Mann Asmat träumt davon, ein ukrainisches Ingenieurs-Diplom zu erhalten. Vor drei Jahren verließ er daher das unruhige Kabul. Asmat wählte die Ukraine, weil sein Onkel hier wohnt. Einmal in Kiew angekommen verließ er zehn Monate die Wohnung des Onkels nicht, des Kontakts und der Möglichkeit die Sprache zu lernen beraubt. So wäre die Bildung ein Traum geblieben, wenn ihn nicht die sozialen Dienste entdeckt hätten.

Die Frage, was man mit solchen Kindern wie Asmat machen soll, wurde 2007 brennend, als sich deren Zahl verzehnfachte, erzählt das Oberhaupt der Abteilung zum Schutz der Kinderrechte und Adoption des Sozialministeriums Ruslan Kolbassa. Wenn 2003 4 Kinder einen Antrag auf Asyl stellten, waren es 2007 bereits 130.

In Übereinstimmung mit den Daten von Vertretern des UNO-Hochkomissariats für Flüchtlinge in der Ukraine zählte man bis zum Ende des letzten Jahres 33 solcher Kinder, von denen 20 in Kiew und dem Kiewer Gebiet lebten. Im Moment befinden sich 15 Kinder im Blickfeld des UNO-Flüchtlingskommissariats.

Es ist unbekannt, wie viele minderjährige Ausländer ohne Begleitung Erwachsener sich in der Ukraine befinden, insbesondere da Kinder, die nicht in den Migrationsdiensten erfasst werden, sich im rechtsfreien Raum des Staates befinden, erzählt die Vertreterin des Bevollmächtigten für Kinderschutz, Antidiskriminierung und Gendergleichheit Oksana Filipischina.

Das Verfahren der Arbeit mit diesen Kindern scheint deutlich vorgegeben: vorübergehende Unterbringung in Rehabilitationszentren, Benennung eines gesetzlichen Vertreters, der den Asylantrag beim Migrationsdienst stellt, nach dessen Bestätigung die Unterbringung des Kindes in Pflegefamilien, Kinderheimen oder Internaten. Aber auf jeder dieser Etappen stoßen die Kinder auf eine große Zahl von Hindernissen, die zu überwinden nicht jedem gelingt.

Erstes Hindernis: das Aufspüren

Die ausländischen Kinder befinden sich aus unterschiedlichen Gründen ohne Eltern in der Ukraine. Manchmal schicken Familien den ältesten Sohn in andere Länder, damit er nicht als Kämpfer angeworben wird, erzählt die Direktorin der Stiftung „Rokada“ (ausführender Partner des UNO-Flüchtlingskommissariats) Natalija Gurschij. Es kommt vor, dass Kinder mit ihren Eltern in die Ukraine kommen und nach deren Tod ganz allein zurückbleiben. Am häufigsten sind diese minderjährigen Ausländer Abkömmlinge aus Syrien, Afghanistan, Bangladesch, Myanmar, der Demokratischen Republik Kongo, Somalia, Indien, Sri Lanka, Elfenbeinküste, Irak, Angola, Äthiopien oder Russland.

Nach einem Bericht des Bevollmächtigten lebten im Jahr 2014 53,3 Prozent der minderjährigen Ausländer bei Erwachsenen, mit denen sie sich schon unmittelbar in der Ukraine angefreundet haben.

In einigen Fällen führt dies zu Kindesmissbrauch. Oksana Filipischina erzählt, dass sie vor einigen Jahren Wohnorte solcher Kinder in Odessa und im Winnizaer Gebiet besucht hat – man hielt sie in völlig abgeschlossenen Räumen. „Sie waren verschreckt, hatten Angst sich zu unterhalten, waren depressiv. Diese Kinder hatten kaum Essen. Wenn das Essen alle ist, bedient man sich ihrer in der schlechtesten Form des Arbeitszwangs, darunter zur Prostitution“, erzählt die Vertreterin des Bevollmächtigten.

Zweites Hindernis: gesetzlicher Vertreter

So lange Amat bei seinem Onkel lebte, gelang es ihm nicht, einen gesetzlichen Vertreter zu bekommen. Und er ist kein Einzelfall. So erhielten 2014 nach Angaben des Staatlichen Migrationsdienstes nur 23 der 35 Kinder, die man in Wolhynien, den Transkarpaten, Odessa, Lwiw und Charkow entdeckte, einen gesetzlichen Vertreter zugewiesen.

Die Vormundschaftsorgane sind verpflichtet innerhalb von drei Tagen nach Auffinden eines Kindes, einen gesetzlichen Vertreter zu stellen. In den meisten Regionen ist nach den Worten der Direktorin von Rokada dieses Vorgehen üblich, aber in Kiew und dem Kiewer Gebiet ist die Situation schwieriger. „Wenn es in Lwiw noch möglich ist, ein Kind in einem Zentrum vorübergehend unterzubringen, So ist das in Kiew schon schwierig, in Belaja Zerkow unmöglich. Die örtliche Administration stellt ihnen keinen gesetzlichen Vertreter für die Dauer einiger Jahre zur Seite, weil sie keine Ausländer auf ihrem Territorium sehen möchte“, erzählt Natalija Gurschij.

Nach den Worten Ruslan Kolbassas schickte das Sozialministerium einen Brief an die örtliche Führung mit der Ankündigung: Wenn den Kindern aus Somalia kein gesetzlicher Vertreter zugewiesen wird, wird sich die Behörde ans Gericht wenden.

„Die Position der Beamten ist folgende: Wenn wir diesen Kindern den Flüchtlingsstatus zuerkennen, öffnen wir die Büchse der Pandora und Belaja Zerkow wird sich mit Kindern füllen, von denen wir nicht wissen, was wir mit ihnen machen sollen. Ich denke, die Position der Stadt Kiew ist die gleiche“, versucht Filipischina das Verhältnis der Hauptstadtführung zu den minderjährigen Asylbewerbern zu erklären.

Ähnliche Situationen gibt es in den Transkarpaten und Wolhynien. Die örtlichen Vormundschaftsorgane und die Vormünder weigern sich, sich mit diesen Kindern zu befassen, solange sie den Flüchtlingsstatus nicht zuerkannt bekommen haben, erzählt die Vertreterin des Bevollmächtigten.

Drittes Hindernis: Zentren zur Unterbringung der Kinder

Die Vormundschaftsorgane sollten ausländische Kinder in speziellen Kindereinrichtungen unterbringen. In Kiew ist der einzige solche Ort das Zentrum für sozial-psychologische Rehabilitation Nr. 1. Der Aufenthalt hier ist auf neun Monate begrenzt, aber Ausländer, die auf den Erhalt des Status warten, bleiben länger. Ohne Status können sie nicht von Schulinternaten, nicht von familiären Kinderheimen aufgenommen werden.

Es kommt vor, dass Kinder weglaufen oder auf das Domizil verzichten. Die Direktorin des Zentrums, Irina Duwanskaja, erzählt, dass zu Erziehende, die sich fürs Weglaufen entscheiden, dies jedes Mal nach dem gleichen Schema tun. „Es geschieht während des Spaziergangs oder wenn wir zu Ausflügen fahren. Irgendwer ruft sie an und sie reißen sich los. Dann erfahren wir über die sozialen Netzwerke, dass sie in einem anderen Land Geld verdienen“, sagt Duwanskaja.

Derzeit befinden sich drei Jungen unter Rund-um-die Uhr-Aufsicht durch Erzieher im Zentrum. Es ist ihnen verboten, die Grenzen der Einrichtung ohne Begleitung eines Erwachsenen zu verlassen.

Der 17-jährige Radschak kam vor sieben Monaten aus Bangladesch in die Ukraine. Seine Mutter blieb dort zurück, sein Vater kam ums Leben. Wie viele andere Kinder lebte er in Kiew zunächst zusammen mit seinen Landsmännern – in einer Wohnung zusammen mit fünf anderen Menschen aus Bangladesch. Nach drei Monaten brachten ihn die Sozialdienste im Zentrum für sozial-psychologische Rehabilitation Nr. 1 unter.

Radschak besucht zweimal in der Woche gemeinsam mit den anderen Kindern den Ukrainisch-Unterricht.
„Ich kann Urdu, Hindi, Bengalisch, Englisch und ein bisschen Russisch. Ukrainisch zu lernen ist das schwerste von allen. Aber ich versuche es“, sagt der junge Mann. Die Bemühungen Radschaks bemerkte auch die Lehrerin, die ihn lobt.

Im Zentrum lernen die Kinder als Externe. Nach einem Jahr dieses Unterrichts bestand Asmat das Lernprogramm der 9. Klasse und hat auch schon ein Zeugnis bekommen.

Irina Wassiljuk, eine Psychologin des Zentrums erzählt, dass die Kinder die zu ihnen gelangen durch das, was sie erlebt haben, traumatisiert sind. Die Rehabilitation dieser Kinder beginnt mit dem Prozess der Adaption, mit der Schaffung eines angenehmen und gefahrlosen Zustands.

Aber keine Methode funktioniert so gut, wie die Möglichkeit, die eigenen Traditionen zu entdecken, beteuert Wassiljuk. „Religiöse Erziehung ist für diese Kinder sehr wichtig. Wir fahren mit den Jungen jeden Freitag in die Moschee. Keine andere Methode würde so gut funktionieren wie die Möglichkeit zu beten“, erklärt die Psychologin.

Und dennoch können diese Rehabilitationszentren, die eigentlich für ukrainische Kinder eingerichtet wurden, die Bedürfnisse der minderjährigen Flüchtlinge zum Lernen der Sprache und bei der Adaption nicht vollständig decken, glaubt Filipischina.

„Es werden spezielle Zentren gebraucht, die bereit sind, diese Kinder aufzunehmen, (Ausländer – Anm. d. Autors) – mit Übersetzern, Psychologen, vorbereiteten Lehrern, die verstehen, dass sie zukünftige Bürger der Ukraine erziehen“, erläutert die Vertreterin des Bevollmächtigten.

Ein solches Zentrum soll Jagotinskij werden, wo man die Einrichtung einer Kinderabteilung plant. Aber weil das Zentrum bisher noch nicht eröffnet wurde, ist die Situation düster.

Viertes Hindernis: Migrationsdienst

Radschak betrachtet im Unterschied zu vielen anderen Kindern die Ukraine nicht als Transitland. Seine Zukunft möchte er hier aufbauen. Sein Schicksal hängt von der Entscheidung des Migrationsdienstes ab, vom Nicht-/Erhalt des Flüchtlingsstatus.

„Ich werde nach Amerika reisen, nach Neuseeland, Australien“, träumt Radschak davon, was nach der Asylanerkennung sein wird. Er plant sein Geld für die Reisen mit einem eigenen Geschäft zu verdienen – ein Laden mit Kleidung aus Bangladesch.

Solche wie ihn, die im Wartezustand verharren, zählte man 2014 nach Angaben des Staatlichen Migrationsdienstes 62. Das Verfahren zur Bearbeitung der Gesuche sollte nicht mehr als zwei Monate dauern, real dauert es aber zwei, drei Jahre, erzählt Filipischina.

Nach dem Bericht des Bevollmächtigten für das Jahr 2013 beantragten in den Jahren 2009-2013 255 Kinder Asyl in der Ukraine. 5,5 Prozent erhielten den Flüchtlingsstatus, 7 Prozent den Status der besonderen Schutzbedürftigkeit. Ein Drittel der Kinder erhielt eine Ablehnung. Aber die meisten (42,3 Prozent) befanden sich im Warteprozess.

„Die Migrationsdienste lassen sich unserer Meinung nach extra Zeit mit der Zuerkennung des Status, damit das Kind volljährig wird. Oder sie nehmen das Entscheidungsverfahren nicht auf, um das Alter der Kinder feststellen zu lassen, weil deren Angaben in Zweifel gezogen werden“, unterstreicht Filipischina bemerkend, dass jährlich zwei oder drei solcher Statuszuerkennungen ausgestellt werden.

Wenn sie in den Organen das Alter eines Kindes anzweifeln, können sie diese zur psychologisch-pädagogischen Altersfeststellung schicken. „Als diese Kinder gerade erst auftauchten, erlaubte sich der Migrationsdienst, das Alter aller Kinder anzuzweifeln“, erzählt Gurschij, „damals erstellte man die Expertise anhand des Speichenknochens, was eine Toleranz von fünf Jahren ergibt. Diese Toleranz legten sie nicht zum Wohle der Kinder aus: meistens korrigierten sie das Alter nach oben, um das Kind als volljährig anzuerkennen.“

Letztes Hindernis: die Zukunft

Wenn die auf ihre Weise volljährigen Kinder ihren Flüchtlingsstatus erhalten, können sie weiterführende Bildungseinrichtungen besuchen, man kann sie in Pflegefamilien oder Internaten unterbringen. Aber Wohnungen teilt man ihnen nicht zu.

Wie das Oberhaupt der Abteilung für den Schutz der Kinderrechte und Adoption des Ministeriums für Sozialpolitik mitteilte, steht den Kindern, deren Asylantrag abgelehnt wird, keine Deportation bevor. Sie bleiben in der Ukraine mit dem Status Illegaler, verschwinden aus dem Blickfeld der Dienste oder wohnen bei ihren Landsleuten. „Die Kinder, die in Rehabilitationszentren waren, kann man nach ein, zwei Jahren an den Festsetzungsstellen für illegale Migranten treffen, wo sie auf die Abschiebung aus der Ukraine warten“, erzählt die Vertreterin des Bevollmächtigten Oksana Filipischina.

Ruslan Kolbassa glaubt, dass die Zukunft der Kinder von ihrem Integrationswillen und vom System abhängt, das ihnen Bildung und Arbeit zur Verfügung stellen sollte.

„Wenn ein Kind in der Ukraine auftaucht und den Flüchtlingsstatus zuerkannt bekommen möchte, heißt das, dass es vollwertiger Bürger der Ukraine werden möchte. Vom Moment der Antragstellung an sollten wir uns dem Kind zuwenden, um es maximal in die ukrainische Gesellschaft zu integrieren“, beteuert Oksana Filipischina.

Die Geschichte Asmats ist ziemlich erfolgreich. Er ist der Einzige in Kiew und dem Gebiet, der 2015 den Status als Kind mit besonderem Schutzbedürfnis erhalten hat. Jetzt bereitet er sich auf den Eintritt in die Berufsschule vor und kommt damit seinem Traum sehr nah.

Radschak hat auch einen Traum. Ungeachtet der Schwierigkeiten, auf die er stößt und noch stoßen wird, hat er immer noch einen Traum. Er will ukrainischer Geschäftsmann werden. Aber im Unterschied zu Asmat befindet er sich noch am Anfang seines Weges in seinen ukrainischen Traum.

23. August 2016 // Diana Buzko

Quelle: Lewyj Bereg

Übersetzerin:   Anja Blume  — Wörter: 1781

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