Vielschichtige Therapie


Einhäupl, Chefneurologe der Charitee in Berlin und sein orthopädischer Kollege sind sich einig: Timoschenko braucht dringend eine vielschichtige Therapie, die in einem Haftkrankenhaus nicht geleistet werden kann.

Die Anwälte Timoschenkos gaben an, dass ihre Mandantin zuletzt nicht mehr richtig gehen konnte und die Tochter berichtete, dass T. unter einem schmerzhaften Bandscheibenvorfall leide. Die Vollzugsbehörden bestritten allerdings die Gangstörung von Timoschenko, obwohl sie offensichtlich in einem Rollstuhl in ihre neue Haftanstalt in der Ost-Ukraine überstellt wurde.

Ein unklarer Fall!

Bleiben wir also zunächst bei der vielschichtigen Therapie für Timoschenko und wenden uns danach der vielschichtigen Therapie für die Ukraine zu.

Timoschenko muss nach Angaben der deutschen Ärzte nicht in ein Krankenhaus und sie muss nicht operiert werden. Bandscheibenvorfälle, die mit motorischen Störungen, also Lähmungen einhergehen, operiert man aber sofort! Wenn wir also bei dem Bandscheibenvorfall als Hauptdiagnose bleiben wollen, könnte die Gangstörung Timoschenkos ja auch schmerzbedingt sein. Die Therapie wäre dann physikalische Anwendungen, Krankengymnastik und effektive Schmerzbehandlung. Nach internationalen Maßstäben, auf die Einhäupl sich beruft, kann eine solche Behandlung in jedem besseren Haftkrankenhaus durchgeführt werden. Einhäupl und seine Kollegen sagen aber, dass das nicht möglich sei und bieten sogar Hilfe bei der erforderlichen vielschichtigen Behandlung an.

Es ist also kein einfacher Bandscheibenvorfall. Diesen hätte man ohnehin mit einer Kernspintomografie ohne weitere internationale medizinische Hilfe in der Ukraine diagnostizieren können. Im Zweifel reicht auch ein Computertomogramm aus. Nur für den Fall, dass es in Kiew keine Kernspintomografen gäbe, was ich nicht glaube.

Komplexbehandlungen, eine anderes Wort für vielschichtige Behandlungen, die man nicht in einem Haftkrankenhaus durchführen kann, sind in aller Regel psychiatrisch oder psychosomatisch ausgerichtet. Gangstörungen bis hin zu kompletten Bewegungsstörungen, bei denen die Patienten starr im Bett liegen können, ohne somatische Ursache benötigen eine „vielschichtige“ psychiatrisch-psychotherapeutische Komplexbehandlung. Meistens liegt dann diagnostisch entweder eine schwere somatisierte Depression, eine psychosomatischer Beschwerdekomplex oder eine somatoforme Schmerzstörung vor. Alles psychiatrische Erkrankungen. Daneben ist auch ein Polymyalgie-Syndrom denkbar, welches ebenfalls häufig in der Psychiatrie behandelt wird, da es komplexe psychosomatische Ursachen hat und nicht selten in Verbindung mit Depressionen auftritt.

Nicht unterschlagen werden soll, dass Einhäupl Spezialist für Multiple Sklerose war. Eine Autoimunerkrankung des zentralen Nervensystems, die auch mit Gangstörungen, neurologischen Ausfällen und psychischen Störungen einher gehen kann. Wenn Timoschenko aber tatsächlich eine Multiple Sklerose hätte, wäre die Aussage, dass sie im jetzigen Erkrankungsschub nicht ins Krankenhaus muss, für mich unverständlich. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass bei einer solchen Diagnose nicht umgehend die entsprechenden Medikamente gegeben würden. Sie müsste dann in relativ kurzer Zeit aus dem Erkrankungsschub herausgekommen sein.
Also spricht auch der Zeitfaktor, die Tatsache, dass sich die Sache schon über Monate hinschleppt und eher schlechter als besser wird für eine Erkrankung aus dem depressiven Umfeld.

Warum reist dann ein Neurologe nach Kiew und nicht ein Psychiater?

Diese Frage würde sich relativ leicht aus der politischen Bedeutung einer psychiatrischen Diagnose erklären lassen. Weder Timoschenkos Anhänger noch Janukowitsch und die ukrainische Regierung können ein Interesse daran haben, dass eine schwere psychiatrische Erkrankung bei Timoschenko öffentlich wird. Auch wenn Depressionen extrem häufig sind und eine schwere depressive Episode durch die aktuellen Lebensumstände der ehemaligen Regierungschefin mehr als begründet wäre, lässt diese Diagnose irrationale Zweifel an der Belastbarkeit der Politikerin in der Öffentlichkeit aufkommen und diskreditiert Timoschenko möglicherweise. Anders herum könnten die Anhänger Timoschenkos eine solche Diagnose direkt auf das Schuldkonto des ukrainischen Präsidenten buchen.

Man ist also gut beraten, einen unverfänglichen Spezialisten aus einem der Psychiatrie angrenzenden Fachgebiet kommen zu lassen. Nebenbei bemerkt haben alle hochgestellten Persönlichkeiten mit psychiatrischen Problemen einen Neurologen, keinesfalls einen Psychiater! Das gehört sich einfach so.

Es könnte also wirklich passieren, dass Timoschenko zur Behandlung nach Deutschland ausreist. Ein schöner politischer Kompromiss mit der EU. Allerdings frage ich mich, wie man dann die psychiatrische Behandlung geheim halten möchte. Das wird in Deutschland wohl kaum funktionieren. Also vielleicht doch nach Amerika oder Kanada? Dort gibt es Kliniken, die im Vertuschen psychiatrischer Diagnosen wesentlich professioneller vorgehen. Man wird sehen.

Zuletzt möchte ich aber die vielschichtige Therapie nicht vergessen, welche die Ukraine dringend nötig hat. Schließlich ist das ganze Land erkrankt. Neben dem wirtschaftlichen Abstieg haben wir das Syndrom der Identitätsstörung, der emotionalen Instabilität, der psychosozialen Isolation und der Alkoholsucht in Verbindung mit schwersten Auflösungserscheinungen von Moral, Glaubwürdigkeit, Courage, Meinungsfreiheit und Demokratie. Da wird es wohl nicht reichen, einen deutschen Professor einzufliegen. Aber vielleicht kann man noch auf die nächste Generation von Politikern hoffen. Das müssten dann aber Leute mit therapeutischen Qualitäten sein, die den Ukrainern ihr Selbstbewusstsein zurückgeben. Leute wie Vitalij Klitschko könnte ich mir vorstellen. Allerdings müsste er dann langsam mit dem Boxen aufhören und sich vornehmlich der Politik widmen. So wie sein Widersacher, Viktor Janukowitsch, nur eben besser!

Sönke Paulsen

Hat Ihnen der Beitrag gefallen? Vielleicht sollten Sie eine Spende in Betracht ziehen.
Diskussionen zu diesem Artikel und anderen Themen finden Sie auch im Forum.

Benachrichtigungen über neue Beiträge gibt es per Facebook, Google News, Mastodon, Telegram, X (ehemals Twitter), VK, RSS und per täglicher oder wöchentlicher E-Mail.