Warum man in den verschneiten Karpaten wandern sollte
Der Winter in den Karpaten ist eine besondere Zeit. Die Sonnenstrahlen färben den Schnee golden, rosa und lila, und der Morgennebel ähnelt einem Meer mit weißen Wellenkämmen.
Auf das Wandern in den winterlichen Bergen muss man sich sorgfältig und ohne Eile vorbereiten. Man muss die Route planen, sich einen Ort zur Übernachtung überlegen, sich die Wettervorhersage ansehen und einen warmen Schlafsack nicht vergessen. Jeder hat seine eigene Liste, aber es lohnt sich, sich zu trauen und wenigstens einmal in die verschneiten Berge zu fahren.
„Setzen Sie sich, haben Sie keine Angst. Es gibt genug Platz für Sie, sowie für Ihre Taschen“ – der Mann rollt seine Sachen auf eine Seite des Schlittens und wartet, bis wir uns setzen und unsere Rücksäcke zurechtlegen. Das braune Pferd nickt und rennt vorwärts. Der Schnee knirscht unter den Schlittenkufen und flattert mit stachligen Funken.
Am Vortag schneite es viel, sodass die Hauptstraße des Dorfes Tschorna Tyssa (Dorf in Transkarpatien, A.d.Ü.) sich in eine feste Eisbahn verwandelte.
Bereits von der Straße aus sind Striche auf dem weißen Hintergrund des Berges zu sehen – das sind Kolyba (kleine Holzhäuser für Hirten in den Karpaten, A.d.Ü), Häuschen von Tschabanen (Tschaban, örtliche Bezeichnung für Hirten, A.d.Ü.). Es scheint, dass die Häuschen sehr nahe sind, aber man muss bis dahin mehrere Stunden gehen.
„Was gibt es denn da im Winter zu tun? Es gibt keine Menschen, Schafe werden nicht auf die Weiden getrieben, Beeren können Sie nicht sammeln… Man kann einfach nur dastehen und auf die Sonne und die Berge schauen…“
Von der Eisenbahnstation des Dorfes Jassinja bis zum Beginn des Weges auf den Berg Tschorna Klewa (Berg in Transkarpatien von 1.719 Meter Höhe, A.d.Ü.), sind es zehn Kilometer, der größte Teil der Straße führt durch das Dorf Tschorna Tyssa. Es ist noch sehr früh: Häuser mit farbigen Zäunen, Bäume und Passanten sind in einen leichten Dunst eingehüllt. Gleich ist der Rand des Dorfes, weiter kommt ein geneigter Aufstiegspfad durch den Wald. Die Tannen sind mit Schnee bestreut, ihre „Pfoten“ scheinen grau zu sein.
Wir halten, stellen unsere Rücksäcke rund um den alten Baum – einem Menschen würde es schwerfallen, den Stamm zu umarmen, und bereiten uns das Frühstück vor. Tee aus der Thermosflasche verbrennt Lippen und wärmt Hände. Durch einen Windhauch rutscht Schnee von Zweigen und zerstreut sich wie Mehl. Die Schneeflocken fallen in die Tasse und hinter den Kragen, die Kälte durchdringt den ganzen Körper, und man wünscht sich, sich so schnell wie möglich in einen warmen Schal einzuwickeln.
„Oh, schaut mal – das sind die Spuren eines Hasen“, Ira zeigt auf die Abdrücke im Schnee, die Ausrufezeichen ähnlich sind: zwei kleine Kreise von den Vorderpfoten und längliche Ovale von den hinteren.
Die Spuren folgen dem Weg und führen zur Polonyna (örtliche Bezeichnung für Almen, A.d.Ü.), zu den Hirtenhütten. Die mit Schnee verwehten Häuschen stehen in zwei Reihen – früher gab es hier einen großen Polonyna-Hof. Von einigen Hütten sind nur zerbrochene Baumstämme geblieben, andere sind wie Tierskelette, bei welchen die Zeit alle Fasern zerfressen hat.
Wir wählen uns eine Hirtenhütte, welche Hirten im Sommer benutzen – ein festes Blockhaus, im Inneren befindet sich ein Ofen. Die Fenster sind ohne Glas, jedoch sind sie sorgfältig vor Schnee mit Folie bedeckt. Hier werden wir übernachten, heute ist das unser Haus.
An einer Wand sind fünf Sterne gezeichnet und steht der Aufschrift „Hotel Klewa“. Die Bedingungen entsprechen nicht wirklich einem Fünf-Sterne-Hotel, jedoch würde die Landschaften jeder Palast beneiden. Direkt von der Hausschwelle aus ist das Tschornohora-Gebirgsmassiv zu sehen, darunter die Berge Howerla (der höchste Berg der Ukraine von 2061 Meter Höhe, Gebiet Transkarpatien, A.d.Ü.) und Petros (der höchste Berg des Tschornohora-Gebirgsmassivs in Transkarpatien, 2020 Meter hoch, A.d.Ü.), Gorgany – das vom Schnee weiße Dreieck des Berges Chomjak (Berg im Gebiet Iwano-Frankiwsk von 1.542 Meter Höhe, A.d.Ü.) kann man kaum mit anderen Gipfeln verwechseln, sowie die Gebirgsmassive Swydowez und Marmarosy (Munții Maramureșului in Rumänien, A.d.R.).
Der Berg Tschorna Klewa – einer der Gipfel des Bratkiwska-Gebirgszuges in den Gorgany, ist nicht so beliebt bei Reisenden. Er befindet sich am Rande der touristischen Wege: im Sommer ist es dort trocken, und das Dickicht der Bergkiefern, die sich wie ein dichter Teppich am Abhang ausbreiten, stört beim Gehen.
Im Winter gibt es keine Probleme mit Wasser, die Hauptsache ist, dass man etwas hat, womit und wo man Schnee schmelzen kann. Wir haben einen Gaskocher, einen gusseisernen Topf und Zutaten für Borschtsch. Es wird ein leckeres Abendessen sein, und Frühstück wird es auch geben.
Am Morgen will man den Schlafsack gar nicht verlassen und aus dem Zelt bzw. aus der Hirtenhütte hinauszugehen. Draußen ist es kalt und dunkel, aber am Horizont sind schon rosa Streifen zu sehen.
„Bald geht die Sonne auf, es wäre schade, wenn wir die Morgendämmerung verpassen“, sagt Saschko und öffnet die Tür des Häuschens.
Im Tal breitet sich dichter Nebel aus, von welchem nur die Gipfel hinausschauen. Die Sonnenstrahlen verwandeln den dicht geschlagenen Schaum in die zarte Spitze, die sich an die Bergketten schmiegt. Weiß gibt es nicht mehr, doch wird alles himbeerenfarbig, veilchenfarbig und dann golden.
Bei der Hirtenhütte wächst ein Busch, auf welchen sich ein Vogel gesetzt hat, ihm haben sich noch welche angeschlossen, und schon in wenigen Minuten sind alle Zweige besetzt. Sich schön machen, sich streiten, die Flügel ausbreiten und sich wieder auf den Ast setzen. Vielleicht lieben die Vögel es auch zu schauen, wie die Sonne aufgeht.
Ja, im Winter gibt es in den Bergen keine Beeren, keine Menschen, keine weidenden Schafe und die Hirten bereiten keinen hausgemachten Käse zu. Aber wie der Mann aus dem Dorf Tschorna Tyssa sagte, kann man in den winterlichen Karpaten immer einfach dastehen und auf die Dämmerungen und die Berge schauen. Und jedes Mal sind sie anders, was von der Gesellschaft, vom Wetter und von der Stimmung abhängt.
2. Januar 2018 // Kateryna Moskaljuk
Quelle: Ukrajinska Prawda – Schyttja