Vor vier Jahren zog Pawlo Tkatschuk in den Festlandsteil der Ukraine, denn er wollte nicht auf der annektierten Krim bleiben. Auf der Halbinsel blieben aber sein Haus und seine Familie. Schon seit zwei Jahren wohnt der Mann in einem kleinen Dorf im Gebiet Poltawa und entwickelt zusammen mit seiner Partnerin Anastassija Melnytschenko den Weiler „Chruli am Sula“.
Bereits zwei Jahre lebt Pawlo im kleinen Dorf im Gebiet Poltawa und entwickelt den Weiler– „Schreiben wir uns später, ich gehe Ziegen melken“, antwortet Pawlo ein paar Tagen vor unserem Treffen.
Der Mann ist 32 und er trägt Verantwortung für vier Häuser, Katzen, Hunde, Hühner, einen Ziegenbock mit einem Schaf sowie einige Ziegen mit Ziegenlämmern. Er unterhält sich mit ihnen, als ob sie kleine Kinder wären. Jedem Tier gab er einen Namen.
– Die Ziegenlämmer Doschtschyk (dt. Regenchen) und Snischok (dt. Schneebällchen) wurden so genannt, weil sie bei Schneeregen geboren wurden“, erklärt er. „Es gibt noch Rischok (dt. Hörnchen), denn er hat kleine Hörnchen, auch gibt es noch Sirjena (dt. Sirene), denn sie mag es laut zu meckern.“
In Chruli leben nur 46 MenschenDie älteren Ziegen heißen Marta, Bilaschka (dt. Weißchen), Kulbabka (dt. Löwenzahn) und Kwitotschka (dt. Blümchen), das Schaf – Zylja und der Ziegenbock – Kremtschyk (dt. Cremchen). Außerdem ist hier auch noch der Hahn Ihor und seine Freundin – das Huhn Irotschka.
Eigenes schaffen
Früher hat Pawlo schon beim Ausbau der Weiler Tscherwonyj Kastrytschnik in Weißrussland und Obyrok im Gebiet Tschernihiw geholfen. Im letzteren wohnte er nach dem Umzug von der Krim.
Vor zwei Jahren aber wollten Pawlo und Anastassija ihren eigenen Weiler schaffen. Und sie fanden das Dorf Chruli im Gebiet Poltawa. Sie beschlossen einen solchen Weiler hier aufzubauen und kauften alte baufällige Hütten. Hier wohnen nur 46 Menschen. Es gibt weder eine Schule noch einen Laden – alles ist in den Nachbardörfern.
Nach Chruli kann man nur mit dem Taxi aus dem Nachbardorf Pisky fahren, wo die Vorortbahn hält, oder ungefähr acht Kilometer zu Fuß gehend.
– „Ich erinnere mich, aus welchem Babylon ich selbst gekommen bin, als ich zum ersten Mal in ein ähnliches ukrainisches Dorf gelangte“, erzählt Pawlo. „Ich war wie aus der Zukunft, wo ich alles hatte: eine Toilette drinnen und alles, was sich man nur wünschen kann. Vor zwei Jahren gab es in diesem Weiler nichts.“
Jetzt besteht Chruli an der Sula aus vier Häusern: eines von Anastassija, eines von Pawlo, wo er auch seine Werkstatt hat, es gibt noch ein Hostel und ein Lesesaal-Haus, das beiden gehört.
Fast alles haben Pawlo und Anastassija im Weiler mit eigenen Kräfte getanFast alles in dem Weiler haben Pawlo und Anastassija selbst gemacht.
Zweistöckige Betten bastelten sie auf die Schnelle aus alten Geschirrschranken und dem alten Zaun, denn sie konnten keine neuen Bretter kaufen – sie bereiteten schnell ein Lager für die Teilnehmer der Antiterror-Operation im Osten der Ukraine vor.
Jetzt ist es zu schade, diese Betten wegzuwerfen. Pawlo ist mit dem Arbeitsergebnis sehr zufrieden und findet, dass das ein Erfolg ist, denn es gelang ihnen binnen kürzester Zeit auf die Idee mit den Betten zu kommen und diese zu verwirklichen.
In Chruli an der Sula gibt es sogar ein Dampfbad. Den Heizungsbehälter machten sie aus einer alten Waschmaschine, die beim Schrott gekauft wurde. Dieses Herangehen an die Arbeit bezeichnet Pawlo als Dorf-Punk.
Seinen Arbeitsansatz nennt Pawlo Dorfpunk– Es kommt vor, dass man etwas plant, aber setzt man sich aber keine zeitlichen Rahmen, und alles dauert sehr lange. Und hier haben wir innerhalb eines Monats einfach Wunder getan.
Jetzt können sie im Hostel bis zu 15 Personen unterbringen. Aber auch diese Zahl an Schlafplätzen ist in dem Weiler zu wenig, erzählt der Mann:
– Einmal haben wir Leuten auch im Hause von Anastassija Unterkunft gegeben, obwohl wir nicht vorhatten, es in ein Hostel zu verwandeln.
Die Werkstatt in seinem Haus bastelte er auch selbstständig. Hier beschäftigt er sich mit Töpferei und bringt es den Besuchern des Weilers bei. Den Brennofen für die Töpferei erhielt er dank eines Unterstützungsprogramms für Binnenvertriebene.
Bei der Einrichtung des hiesigen Haus-Lesesaals halfen ihm Freiwilligen des Kultur- und Bildungsprojekts „Budujemo Ukrajinu rasom / Errichten wir die Ukraine zusammen“. Die Bücher schenkten alle Interessenten aus ihren Hausbibliotheken.
Hier gibt es auch ein Zimmer für Künstler, damit verschiedene Künstler hier wohnen und ihre Projekte entwickelten können, wenn sie nach Chruli kommen.
Die Ortseinwohner fragen Pawlo schon, ob sie schon in den Lesesaal reinkommen können. Er will dennoch Leute empfangen, wenn der Raum vollständig fertig wird.
Pawlo
Pawlo ist ausgebildeter Politologe.
– „Ich studierte zur Zeit der Orangen Revolution. Im dritten Studienjahr fand ich Arbeit bei einer politischen Partei, arbeitete einige Zeit dort und wurde enttäuscht“, erinnert er sich. „Jetzt, bereits nach allen Ereignissen, habe ich verstanden, was uns dort beigebracht wurde. Es war eine harte politische Propaganda, aber damals haben wir das noch nicht gespürt.“
Von der Ausbildung her ist Pawlo PolitologeNach dem Universitätsabschluss war er in unterschiedlichen Bereichen tätig, unter anderem im Bau.
Er sagt, dass diese Arbeit einträglich war, denn er konnte in einer Woche mindestens 100 US-Dollar verdienen. Damals war er 20. Außerdem verdiente er mit Töpferwaren, die er selbstständig hergestellt hatte.
– „Als ich von der Krim gekommen bin und mich als Binnenvertriebenen registrieren ließ, wurde ich zur Arbeitsvermittlung geschickt. Hier im Dorf leben fast alle von Sozialhilfe.
Jeden Monat, als man in die Stadt fahren und die Bescheinigung mit den Worten „Es gibt ja keine Arbeit“ zeigen musste, ist im Bus das halbe Dorf gefahren. Einige Zeit fuhr ich so zur Vermittlung, aber sehr schnell widerte es mich an, dass ich auch wie alle anderen um Sozialhilfe bitte.“
Pawlo gewöhnte sich schon daran, im Festlandsteil der Ukraine zu wohnen, obwohl er die Krim bislang noch vermisst. Im vorvorigen Jahr kam sein Vater nach Chruli.
– „Mir scheint, das es einigermaßen gefährlich ist, wenn der Vater hierher öfter kommt. Hier halte ich verschiedene Veranstaltungen für die Teilnehmer der ATO ab – das gefällt mir und ich werde es weiter machen“, erklären. „Aber dem Vater wurde nach seinem Besuch hierher gesagt, dass er in ein Bandera-Lager gefahren war.“ (gemeint ist der Anführer der Organisation Ukrainischer Nationalisten Stepan Bandera (1909-1959), A.d.R.)
Pawlo +1
– „Guck mal, da kommt der hiesige Kleine“, zeigt der Mann. „Er spielt auch in dem so genannten Spiel mit dem Weiler, obwohl er selbst das nicht begreift.“
Der Junge heißt auch Pawlo. Er ist elf. Er hat noch eine Schwester und zwei Brüder. Der Kleine kommt oft, um dem älteren Pawlo im Haushalt zu helfen.
Allen seinen Ziegen hat Pawlo Namen gegeben– „Nun, Pawlo, bist du bereit zu arbeiten?“, fragt der Ältere den Jüngeren.
– „Ich gehe jetzt Boot fahren“, antwortet der Junge stolz.
– „Aber doch nicht jetzt“, erwidert der Mann.
– „Pawlo, du bist kein guter Mensch. Russe! Moskal!“, lacht der jüngere Pawlo. „Du schwätzt nicht auf Ukrainisch!“
– „Wie ich schwätze nicht?! Manchmal schwätze ich doch“, entrüstet sich der Mann. „Wenn du älter wirst, wirst du dich an deine Poltawaer Mundart erinnern. Hier ist ein solcher Dialekt, mit dem ich noch nicht sprechen kann.“
Pawlo ist russischsprachig, doch lernt er mehr Ukrainisch zu sprechenDer ältere Pawlo ist russischsprachig, dennoch lernt er mehr Ukrainisch zu reden.
Er sagt, dass für den 11-jährigen Burschen die Idee mit dem Weiler ein Durchbruch ist, denn er lernt viele interessante und offene Leute von außerhalb des Dorfes kennen.
Der kleine Pawlo fährt wie auch andere einheimische Kinder praktisch nirgendwo hin, außer ins Nachbardorf – jeden Morgen fährt für sie der Schulbus.
Im Winter liefen die beiden Pawlos Schlittschuh auf der eingefrorenen Sula, die das Dorf umsäumt. Jetzt hat der Junge gerade gelernt, Boot zu fahren. Der ältere Pawlo repariert noch ein weiteres, bastelt einen Katamaran.
Pawlo repariert ein Boot gemeinsam mit dem NachbarnPläne bezüglich Chruli
Außer der Entwicklung der Handwerke und des grünen Tourismus haben Pawlo und Anastassija vor, die Landwirtschaft in Chruli an der Sula zu entwickeln – Sie wollen einen Ziegenlandwirtschaftsbetrieb schaffen und Käse herstellen.
– „Früher hatte ich ein einfacheres und weniger verantwortungsvolles Leben. Ich töpferte und war glücklich. Aber es ist nicht klug in einem Dorf zu wohnen und keine Haustiere zu haben“, ist der Mann überzeugt.
Im Laufe der letzten zwei Jahre hat er nur zweimal seinen Hof in Chruli für ein paar Tage verlassen – er fuhr nach Kyjiw und Poltawa. Anastassija besucht Chruli einmal pro Monat.
Die beiden haben vor, in Chruli an der Sula Festivals zu veranstalten. Sie begannen schon mit kleineren Veranstaltungen: Vor zwei Jahren kamen hierher im Winter Kinder aus Kyjiw und hatten hier eine Schule der Sternensingerlieder. Im nächsten Winter organisierten sie die Malanka (ein Fest am Abend des 13. Januar, dem Silvesterabend nach altem Kalender, wo man sich in Tiere und in folkloristische Personen verkleidet, A.d.Ü.) mit Kindern und Erwachsenen – Sie machten Kostüme, haben eine Ziege geführt. Im Weiler wurden Lager für die Kinder aus der Kriegszone organisiert.
– „Früher wurde mir gesagt: „Wer kommt schon hierher? Lass das doch!“. Und jetzt kommen diese Leute hierher und sagen, wie hier ihnen in Chruli alles gefällt. Manche kommen aus den Städten und kaufen auch Häuser in der Nähe vom Weiler.“
Pawlo träumt davon, dass dereinst zu einer Veranstaltung ins Dorf 3000 Menschen kommen werdenDie Aufgabe von Chruli an der Sula ist nicht nur ein Winterfestival zu schaffen. Pawlo träumt, dass irgendwann zu einer Veranstaltung im Dorf 3.000 Menschen kommen.
– „Einige werden in Zelten wohnen, noch ein anderer findet bei den Einheimischen Unterkunft. Wenn die Einheimischen Ihr erstes Geld damit verdienen, beginnen sie alle Tourismus zu spielen. Mein Ziel ist es, dass die Einheimischen daran verdienen.“
Ich bin dafür, damit alles auch schon morgen gemacht wird. Ich mache lieber etwas auf meine Art, aber schon jetzt, nicht dann und wann. Es war auch so mit diesen Betten oder mit dem Dampfbad. Ich wurde oft für dieses Herangehen an die Arbeit kritisiert. Hätte ich aber nur daran gedacht, wie das alles hier in dem Weiler aussehen wird, wenn ich alles in fünf Jahren mache, wäre hier nichts passiert.
16. Mai 2018 // Olena Semenjuk
Quelle: Ukrajinska Prawda – Schyttja
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