Was ist rentabler: Freihandelszone mit der EU oder Zollunion?
In einem Monat, Ende November, beabsichtigt die Ukraine, auf dem Gipfeltreffen der „Östlichen Partnerschaft“ in Vilnius das Assoziierungsabkommen mit der EU, das als Kernpunkt die Schaffung einer Freihandelszone beinhaltet, zu unterzeichnen.
Hinsichtlich der ökonomischen Konsequenzen sind unterschiedlichste Meinungen zu hören.
Die Befürworter des Abkommens sprechen von dessen unbestreitbaren Nutzen für die ukrainische Wirtschaft. So würde gemäß dem Minister für Landwirtschaft und Ernährung, Nikolaj Prisjaschnjuk, allein die Abschaffung der Zollabgaben nach der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU der Ukraine zusätzliche Exporterlöse aus dem Agrarbereich in Höhe von 4 Mrd. Hrywnja einbringen.
Die Gegner des Abkommens – einschließlich der diesem negativ gegenüberstehenden Russen – sind im Gegensatz dazu überzeugt davon, dass die Unterzeichnung der ukrainischen Wirtschaft schaden würde. So erklärte der Berater des russischen Präsidenten, Sergej Glasjew, dass „der Ukraine höchstwahrscheinlich der wirtschaftliche Ruin droht“.
Die Vertreter beider Seiten verweisen dabei oftmals auf die eine oder andere Untersuchung, die ihren jeweiligen Standpunkt untermauern soll. Natürlich widersprechen sich die Ergebnisse dieser Untersuchungen gegenseitig. Welche aber sind richtig oder zumindest näher an der Wahrheit?
Die Freihandelszone
Die umfassendste Untersuchung zu den ökonomischen Effekten eines FTA mit der EU für die Ukraine stellt die Arbeit von Veronika Mowtschan vom Institute for Economic Research and Policy Consulting und Ricardo Giucci von der Deutschen Beratergruppe der Regierung der Ukraine dar (Studie auf Englisch).
Im Kontext dieser Arbeit wird ein Modell angewandt, das ursprünglich für die Analyse der Folgen des Beitritts der Ukraine in die WTO entwickelt wurde. Anhand dieses Modells analysieren die Verfasser:
- die potenziellen Folgen eines einfachen Freihandelsabkommens mit der EU (das lediglich ein Absenken der Zölle vorsieht),
- die Folgen eines umfassenden Abkommens mit der EU (das eine Reduzierung der Handelskosten infolge harmonisierter Regelungen, der Vereinfachung des Zollsystems u. Ä. einbezieht). Ein solches umfassendes Abkommen ist eben auch im Rahmen des Assoziierungsabkommens mit der Europäischen Union vorgesehen.
- Ebenso werden im Kontext der Arbeit die Folgen eines Beitritts der Ukraine zur Zollunion analysiert.
Zudem werden zwei Zeithorizonte analysiert:
- der mittelfristige (der lediglich den „statischen“ Effekt berücksichtigt und eine Produktionssteigerung infolge zusätzlicher Investitionen außer Acht lässt),
- der langfristige (eine Produktionssteigerung wird berücksichtigt).
Die Berechnungen basieren auf der „ceteris paribus“-Annahme, d.h. sämtliche ökonomischen Veränderungen, die die von den Autoren analysierten Szenarien zur ökonomischen Integration nicht berühren, bleiben unberücksichtigt.
Die Resultate der Forscher sprechen eindeutig für ein umfassendes FTA mit der EU. Gemäß ihren Berechnungen würde diese Integrationsmöglichkeit mittelfristig zu einem Anstieg des allgemeinen Wohlfahrtsniveaus um 4,3 Prozent, des Exports um 2,8 Prozent, des Imports um 2,6 Prozent und der Reallöhne (inflationsbereinigt) um durchschnittlich 1,2 Prozent führen. Demgegenüber würde das Wohlfahrtsniveau in der Zollunion um 0,5 Prozent sinken, der Export um 3,1 Prozent, der Import um 2,9 Prozent und die Löhne um 0,9 Prozent zurückgehen.
Langfristig würde ein FTA mit der EU laut den Berechnungen von Mowtschan und Giucci noch positivere Effekte nach sich ziehen, während ein Beitritt in die Zollunion noch negativere Auswirkungen haben würde. Ersteres würde mit einem Anstieg des Wohlfahrtsniveaus um 11,8 Prozent, des Exports um 6,3 Prozent, des Imports um 5,9 Prozent, der Löhne um 5,5-5,7 Prozent und der Kapitalreserven (Rücklagen, die zur Finanzierung von Warenproduktion und Dienstleistungserbringung verwendet werden können) um 8,1 Prozent einhergehen. Ein Beitritt zur Zollunion würde im Gegenzug langfristig zu einem 3,7-prozentigen Wohlfahrtsverlust, einem Absinken des Exports um 4,6 Prozent, des Imports um 4,3 Prozent, der Löhne um 2,8 Prozent, und der Kapitalressourcen um 3,4 Prozent führen.
Es existieren aber auch andere Meinungen.
Eine äußerst umfangreiche und den Ergebnissen von Mowtschan und Giucci widersprechende Untersuchung stellt die Studie „Die Ukraine und die Zollunion“ der Eurasischen Entwicklungsbank (EDB) dar (EDB-Studie).
Das Finanzierungsinstitut wurde von den Mitgliedern der Zollunion gegründet und soll die ökonomische Integration im postsowjetischen Raum vorantreiben. Für die Ausarbeitung der Studie wurden russische und ukrainische Experten herangezogen, einschließlich des Mitglieds der Nationalakademie der Wissenschaften der Ukraine Walerij Gejez sowie des vom Ministerkabinett Bevollmächtigten zur Zusammenarbeit mit der Russischen Föderation, den GUS-Staaten und der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft, Walerij Muntjan.
Die Studie stellt im Gegensatz zu Mowtschan und Giucci einige Prognosen vor, die aus einem spezifischen Szenario zur langfristigen Entwicklung der Weltwirtschaft abgeleitet werden. Anders als in der anderen Arbeit werden zudem keine nachvollziehbaren Berechnungen oder Modelle, auf deren Basis die Forscher operieren, angeführt.
Als Ausgangsprognose der EAD-Studie dient ein Szenario, in welchem die Ukraine weder ein FTA mit der EU abschließt, noch der Zollunion beitritt. Die Prognosen aus den weiteren Szenarien ergeben sich aus Veränderungen der Entwicklung unterschiedlicher Parameter im Vergleich zum Ausgangsszenario.
Die Studie der EBD analysiert die folgenden Integrationsvarianten:
- den Beitritt zur Zollunion unter den Bedingungen des Abkommens, das Ende 2011 in St. Petersburg unterzeichnet worden war und das eine ganze Reihe von Ausnahmen beinhaltet;
- den Beitritt zur Zollunion ohne diese Ausnahmen;
- den Beitritt zur Zollunion unter Schaffung einer einheitlichen Währung innerhalb der Gemeinschaft;
- den Beitritt zur Freihandelszone mit der EU.
Die Prognosen sind am besten im Falle des Beitritts der Ukraine zur Zollunion ohne Bildung einer Währungsunion. Das durchschnittliche jährliche Exportwachstum erhöht sich bis 2030 um 1,9 Prozent (3,4 Prozent ohne Ausnahmen), das des Imports um 0,1 Prozent (0,2 Prozent ohne Ausnahmen), des BIP um 0,5 Prozent (0,9 Prozent ohne Ausnahmen). Im Falle eines Freihandelsabkommens mit der EU sehen die Kennzahlen schlechter aus: kein zusätzliches Exportwachstum, ein Anstieg des Imports um 3,9 Prozent jährlich und Abfall des durchschnittlichen jährlichen BIP-Wachstums um 1,1 Prozent. Im Falle einer Gemeinschaftswährung ist die Prognose noch schlechter: ein negatives Exportwachstum in Höhe von 7,2 Prozent, ein 3-prozentiges Importwachstum und ein negatives Wachstum des BIP in Höhe von 2,5 Prozent.
Allerdings werfen die von den Verfassern der Studie verwendeten Hypothesen einige Fragen auf.
Erstens gehen die Autoren von einer positiven Entwicklung der Energiepreise bis 2030 aus. In der Studie wird ein Wachstum des Gaspreises der Marke Urals um durchschnittlich 3,1 Prozent jährlich erwartet. Dies entspricht nicht den Prognosen internationaler Organisationen. Der IWF prognostiziert bis 2018 ein durchschnittliches jährliches Negativwachstum der Gaspreise um 3,6 Prozent. Selbst das russische Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung erwartet ein schwaches Absinken der Preise bis mindestens 2016.
Zweitens erwarten die Verfasser, dass das BIP Russlands bis 2020 jährlich um etwa 5 Prozent wachsen wird, um anschließend bis 2030 sukzessiv auf 4,3 Prozent abzusinken. Der IWF sieht das Wachstum des russischen BIP auf einem Niveau von 3-3,3 Prozent jährlich.
Drittens wird angenommen, dass nach dem ukrainischen Beitritt zur europäischen Freihandelszone seitens der Zollunion für die Ukraine die gleichen Zölle gelten wie für die Länder der Europäischen Union. Die Ukraine und Russland sind allerdings Mitglieder der WTO, was der Ukraine erlaubt, sämtliche protektionistischen Maßnahmen seitens Russlands anzufechten. Die Europäische Union wird kaum als passiver Beobachter auftreten, wenn Russland beginnt, die Einfuhrzölle anzuheben. Die EU-Länder können zudem Druck auf Russland ausüben, wie sie dies auch während des „Milchkrieges“ zwischen Russland und Litauen getan haben. Zumal der Vorwand, unter welchem Russland mit einem Anstieg der Zölle droht – das hypothetische Überschwemmen Russlands mit über die Ukraine reexportierten Gütern – unhaltbar ist. Derartige Befürchtungen angesichts eines Freihandelsabkommens sollten sich durch die Umsetzung der Regelungen, die die Herkunft von Waren sowie deren Komponenten betreffen, auflösen.
Die Resultate der Studie werfen entsprechend aufgrund ihrer einseitigen und für Russland höchst förderliche Auswahl der Vorannahmen Zweifel auf. Diese widersprechen zudem den Prognosen internationaler Institutionen und russischer Staatsorgane selbst. Auch eine umfassende Anwendung protektionistischer Maßnahmen gegen die Ukraine seitens der Länder der Zollunion kann nicht als axiomatisch angenommen werden.
Unterm Strich scheinen die Argumente der Befürworter eines FTA mit der EU auf solideren Berechnungen zu basieren.
Institutionelle Verbesserungen
Im Vergleich zu einem Beitritt zur Zollunion ist allerdings nicht der ökonomische Effekt eines FTAs mit der EU bedeutender, sondern der, der durch die strukturellen und institutionellen Veränderungen durch die Integration mit der EU hervorgerufen wird.
Die Anforderungen hinsichtlich der Harmonisierung der Gesetzgebung und administrativ-regulativen Praktiken sowie das Monitoring ihrer Anwendung und der technische Support seitens der EU besitzen bereits einen enormen Effekt auf die institutionelle Entwicklung (insbesondere die des Verwaltungssystems und der Gerichtsbarkeit) der Länder Zentral- und Osteuropas. Vor allem dank der Politik der EU konnten diese Länder erfolgreich Reformen umsetzen, die ihnen ein hohes Wirtschaftswachstum sichergestellt haben.
Möglicherweise wäre unser Land jetzt ebenfalls merklich weiterentwickelt, wenn die Ukraine mit Beginn der 1990er Jahre eine analoge Unterstützung und ein analoges Anforderungspaket erhalten hätte. In diesem Sinne stellen die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens und die anschließende Umsetzung der EU-Forderungen hinsichtlich einer Harmonisierung – wenngleich verspätet – eine Chance auf eine solche Entwicklung dar.
28. Oktober 2013 // Pawel Kuchta
Quelle: Lb.ua