Wie bedeutsam wird Russland als EU-Handelspartner nach Aufhebung der Wirtschaftssanktionen sein?


In den zurückliegenden Monaten haben eine ganze Reihe von EU-Politikern und Wirtschaftsvertretern – nicht zuletzt aus Deutschland – zu einer teilweisen oder vollständigen Aufhebung der EU-Sanktionen gegen Moskau aufgerufen. Meist bleibt in diesen Appellen allerdings unklar, ob der Kreml Bedingungen erfüllen muss und, falls ja, welche, um in den Genuss dieser oder jener Erleichterung zu kommen. Damit stehen solche Aufrufe im Widerspruch zur offiziellen Position des Europäischen Rates, welcher 2014 die einmütige Auffassung der 28 EU-Mitgliedsstaaten ausdrückte, dass die Aufhebung der Wirtschaftssanktionen an eine „vollständige Umsetzung des Minsker Abkommens“ und somit an einen vollständigen Abzug russischer Truppen, Söldner, Berater und Freiwilliger aus dem ukrainischen Donezbecken gekoppelt ist.

Häufig bleibt bei der Kritik der westlichen Wirtschaftssanktionen auch Moskaus Annexion der Krim unerwähnt. Schon gar nicht wird eingegangen auf die De-facto-Okkupation des moldauischen Transnistriens sowie der georgischen Regionen Abchasien und Südossetien. Auch die jüngsten russischen Aktionen in Syrien bleiben bei dieser Diskussion bislang noch meist außen vor. Ohne eine russische Umsetzung zumindest des Minsker Abkommens wäre daher jede Aufhebung von Wirtschaftssanktionen ein ungerechtfertigter Akt der Beschwichtigung und unverantwortliches Signal an derzeitige sowie künftige irredentistisch eingestellte Politiker rund um die Welt.

Meist versuchen Befürworter einer nachgiebigeren Haltung gegenüber Russland die Debatte umzulenken – weg von völkerrechtlichen Erwägungen, vom Thema europäische Sicherheit und von der Frage der Einheit des Westens hin zu geschäftlichem Kalkül. Sie selbst seien pragmatischer und realistischer als ihre angeblich allzu idealistischen Gegenspieler, so die Selbstdarstellung vieler Kremllobbyisten und „Russlandkenner“. Die nationalen Sicherheitsbedenken osteuropäischer Staaten müssten dieser Logik zu Folge hinter dem handfesteren Nutzen besserer Wirtschaftsbeziehungen zu Russland zurücktreten. Argumente der Sanktionsgegner beziehen sich auf eine vorgeblich große Bedeutung des russischen Marktes heute sowie auf dessen angeblich noch größeres Potenzial in der Zukunft. Diese Sichtweise führt zu ständigen Klagen etlicher europäischer Unternehmen und deren Lobbyisten – zumal in Deutschland – über die vermeintlich hohen ökonomischen Kosten, die der EU aus jeder weiteren Verlängerung des Sanktionsregimes entstünden.

Aber welcher tatsächliche Gesamtschaden ist der europäischen Wirtschaft durch die Sanktionen bisher entstanden? Welche unmittelbaren Effekte hatten die Sanktionen für die russische Wirtschaft im Vergleich zu anderen Faktoren, welche das Wachstum Russlands behindern? Wie bedeutsam ist der russische Markt für den EU-Außenhandel der Gegenwart? Und wie relevant wäre der russische Markt nach einer teilweisen oder vollständigen Aufhebung der Sanktionen?

In den letzten beiden Jahren haben die Wirtschaftsbeziehungen zwischen der EU und Russland einen starken Abschwung erfahren. Laut Zahlungsbilanzstatistik von Eurostat hatte der EU-Warenexport nach Russland im Jahre 2012 mit 122,1 Milliarden Euro seinen Höhepunkt erreicht und betrug im Jahre 2015 dagegen nur noch 73,1 Milliarden Euro – ein Minus von rund 40%. Der EU-Dienstleistungsexport nach Russland hatte im Jahre 2013 mit 30,3 Milliarden Euro kulminiert, bevor er im Jahre 2015 auf 24,4 Milliarden Euro sank (-19%). Der Zufluss an Kapitalerträgen aus Russland in die EU ging zwischen 2013 und 2015 von 26,7 auf 19,1 Milliarden Euro zurück (-28%).

Auf den ersten Blick scheinen diese Zahlen ernsthafte Auswirkungen der westlichen Sanktionen sowie der Gegensanktionen Russlands auf die EU-Wirtschaft zu illustrieren. Das ist jedoch nicht der Fall. Zum einen erging es dem EU-Außenhandel insgesamt seit Einführung der Sanktionen Mitte 2014 relativ gut. Während einige Bereiche und Unternehmen stärker als andere gelitten haben, hat die EU-Wirtschaft als Ganzes das Sanktionsregime zufriedenstellend verkraftet und in verschiedenem Maße die entstandenen Lücken bei den Einnahmen aus dem Außenhandel gefüllt. Trotz des russischen Wirtschaftsabschwungs der letzten Jahre und der Sanktionen ist der Wert des Gesamtwarenexports der EU zwischen 2013 und 2015 von 1.692 Milliarden Euro auf 1.785 Milliarden Euro gewachsen. Auch stieg der Dienstleistungsexport von 700 Milliarden Euro auf 811 Milliarden Euro und der Zufluss an Kapitalerträgen von 541 Milliarden Euro auf 580 Milliarden Euro im selben Zeitraum.

Zum anderen waren nicht die westlichen Sanktionen der Hauptgrund für den Rückgang des EU-Handels mit der Russischen Föderation, sondern Russlands Rezession und der Verfall seiner Währung als Resultat vor allem des starken Ölpreisverfalls ab Ende 2014. Strukturell haben Russlands Wirtschaftsprobleme eher mit der hohen Abhängigkeit des Landes von Einnahmen aus Rohstoffexporten (vornehmlich Rohöl, Ölprodukte und Erdgas) sowie mit der fehlenden Wettbewerbsfähigkeit des russischen verarbeitenden Gewerbes zu tun. Letztere wird noch durch institutionelle Schwächen, unvorhersehbare Eingriffe des Staates in die Wirtschaft, das hohe Maß der Korruption und einen stetigen Rückgang der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter verstärkt. Die westlichen Sanktionen und Russlands kontraproduktive Antwort, d.h. die teilweise Beschränkung westliche Lebensmittelimporte, haben für den Abfall der Wirtschaft und des Außenhandels Russlands nur eine zweitrangige Rolle gespielt.

Die am meisten zitierte Schätzung hinsichtlich des Einflusses der Sanktionen auf die russische Wirtschaft stammt aus dem IWF-Länderreport Russland vom August 2015. Darin wird ein Rückgang des russischen BIP von einem bis anderthalb Prozentpunkten im Ergebnis des ersten Jahres der Sanktionen festgestellt. Diese Zahlen müssen im erweiterten Kontext der Rezession Russlands im Jahre 2015 betrachtet werden, während der das reale BIP um 3,7% sank. Russlands Rate gleichgewichtigen Wachstums bei einem stabilen Ölpreis liegt bei rund 1,5%. Somit betrug der relative Abschwung der russischen Wirtschaft im Jahre 2015 insgesamt rund 5%. Auf Grundlage dieser Annahmen wiederum lässt sich der Einfluss der Sanktionen auf zwischen einem Viertel und einem Drittel des geschätzten Gesamtabschwungs beziffern.

Wie erwähnt, waren die Verluste für die EU überschaubar, da ihre Gesamteinnahmen aus Exporten und auswärtigen Investitionen seit Einführung der Sanktionen gestiegen und nicht gesunken sind. Die Bedeutung des russischen Marktes für die EU ist, wie dieses paradoxe Phänomen nochmals illustriert, gering. Diese Zahlungsbilanz zeigt ein Bild, das im Widerspruch zur Rhetorik kremlfreundlicher Lobbyisten steht. So ergeben sich laut weltweiter EU-Bilanzstatistik (ohne innergemeinschaftlichen Verkehr) für das Jahr 2015 folgende Anteile Russlands am Gesamterlös aus Wirtschaftsbeziehungen der Europäischen Union mit dem außereuropäischen Ausland: 4,1% bei Warenexporten, 3,0% bei Dienstleistungsexporten und 3,3% bei Kapitalerträgen. Im Vergleich dazu betrugen die EU-Daten bezüglich der Einnahmen aus dem Handel etwa mit den USA für dasselbe Jahr: 21,3% bei Warenexporten, 21,6% bei Dienstleistungsexporten und 28,5 % bei Kapitalerträgen.

Die meisten Wirtschaftsprognostiker rechnen mit einer mittelfristigen Aufhebung der Sanktionen, wobei diese Einschätzung keine politische Vorhersage ist oder gar eine politische Meinung ausdrückt. Vielmehr funktioniert diese Annahme als ein notwendiger Bestandteil mathematischer Modelle, welche Ökonomen für ihre Prognosen nutzen. In seinem jüngsten Weltwirtschaftsausblick (World Economic Outlook) vom April 2016 zum Beispiel geht der IWF implizit davon aus, dass von 2018 an wieder „normale“ Bedingungen herrschen, also die Sanktionen aufgehoben werden. Außerdem schätzt der IWF, dass der durchschnittliche Ölpreis im Jahre 2016 34,75 US-Dollar pro Barrel sowie im Jahre 2017 40,99 US-Dollar pro Barrel betragen und mittelfristig stabil bleiben wird.

Anhand der darauf aufbauenden IWF-Berechnungen zum russischen BIP-Wachstum und zum Rubelkurs gelangen wir für das Jahr 2020 zu einer groben Schätzung der zukünftigen, auf Russland bezogenen Erlöse der EU im Vergleich zu jenen aus dem Rest der Welt. Wir nehmen für jeden einzelnen der Posten Warenexport, Dienstleistungsexport und Kapitalerträge an, dass die Verhältnisse zwischen deren Volumen (in Euro und zu jeweils gegenwärtigen Preisen) und dem BIP eines EU-Partners (ebenfalls in Euro und zu je gültigen Preisen) im Jahre 2020 durchschnittlich dieselben sein werden, wie die der Jahre 2010 bis 2015. Diese Verhältniszahlen werden dann mit der IWF-Prognose für das russische beziehungsweise weltweite BIP multipliziert und in Euro umgerechnet. Unser Herangehen geht davon aus, dass im Jahre 2020 die Präsenz der EU sowohl auf dem russischen Markt als auch auf dem gesamten Weltmarkt im Verhältnis ein ähnliches Niveau haben wird, wie in den Jahren 2010 bis 2015.

Auf Grundlage dieser Berechnungen halten wir es selbst bei einer vollständigen Aufhebung der Sanktionen ab 2018 für unwahrscheinlich, dass Handels- und Kapitalerlöse aus Wirtschaftsbeziehungen mit Russland den Höchststand der Jahre 2012 und 2013 erreichen, geschweige denn übertreffen werden. Wir schätzen zum Beispiel, dass das Volumen des Warenexports nach Russland im Jahre 2020 weniger als 100 Milliarden Euro zu gegenwärtigen Preisen betragen könnte. Im Vergleich dazu war im Jahre 2012 der Höchststand bei 122 Milliarden Euro. Kurz vor der Eskalation der sogenannten Ukraine-Krise betrugen Russlands Anteile an den Außenhandelserlösen der EU 7,1 % bei Warenexporten, 4,3 % bei Dienstleistungsexporten und 4,9 % bei Kapitalerträgen. Selbst wenn die Sanktionen zum Jahre 2018 aufgehoben würden, deuten unsere Berechnungen mit einem Anteil von 3,9 % bei Warenexporten, rund 2,4 % bei Dienstleistungsexporten und rund 2,4 % bei Kapitalerträgen auf einen starken Rückgang der relativen Bedeutung Russlands für die EU im Jahre 2020 hin.

Unsere Prognosen für den russischen Anteil am EU-Außenhandel für das Jahr 2020 fallen so gering aus, weil entsprechend der IWF-Prognose Russlands BIP, ausgedrückt in gegenwärtigen Preisen und umgerechnet in Euro, im Jahre 2020 immer noch geringer sein dürfte, als im Jahre 2013. Der IWF prognostiziert zwar eine positive, aber nur gedämpfte Gesundung des russischen BIPs in Rubel. Natürlich gelten für solche Voraussagen, wie stets, bestimmte Vorbehalte. Vor allem könnte sich der durchschnittliche Jahresölpreis weitaus stärker erholen, als es der IWF gegenwärtig annimmt. Im Ergebnis würden sich die russische Wirtschaft und ihre Währung stärker oder womöglich sogar weitaus stärker erholen. Unsere Vorhersagen sind auch insofern spekulativ, als sie von einer Ceteris-paribus-Bedingung ausgehen, nach der alle anderen Faktoren unverändert bleiben. Tatsächlich kann sich in den kommenden fünf Jahren natürlich vieles verändern.

Dennoch ziehen wir folgende vier Schlussfolgerungen: Erstens hatte der russische Markt selbst auf seinem Höhepunkt im Jahre 2013, als der Ölpreis bei über 100 US-Dollar pro Barrel lag und der Rubel stark war, eine verhältnismäßig begrenzte Bedeutung für die EU. Zweitens ist dieser ohnehin geringe Russland-Anteil am EU-Handel im Weiteren durch die Auswirkungen vor allem des Ölpreisverfalls, aber auch westlicher Sanktionen in Kombination mit den ökonomischen Auswirkungen der Aggression des Kremls gegen die Ukraine, seiner Syrien-Kampagne, seines temporären Konflikts mit der Türkei sowie verschiedener anderer wirtschaftsschädigender Aktionen geschmälert worden. Drittens ist eine substanzielle Erholung vom niedrigen Niveau des Jahres 2015 mittelfristig zwar möglich, aber nicht garantiert. Viertens und unabhängig davon, ob eine nennenswerte Erholung der russischen Ökonomie eintritt oder nicht, wird Russlands relative wirtschaftliche Bedeutung für die Europäische Union, d.h. sein Anteil im Vergleich zum Gewicht anderer Märkte für die EU-Wirtschaft, für viele Jahre unter oder sogar weit unter dem Niveau bleiben, das er vor der Ukraine-Krise hatte.

Westliche Politiker und Wirtschaftslenker sollten diesen Gegebenheiten Beachtung schenken. Gestrige Erfahrungen einfach in die Zukunft zu extrapolieren, führt zu illusionären Erwartungen. Außenpolitische Empfehlungen sollten nicht auf lautstark verbreiteten ökonomischen Fehlprognosen basieren. Russlands enorme geografische Ausmaße und seine bedeutende Rolle in der internationalen Diplomatie sollten westliche Entscheidungsträger nicht dazu verleiten, wirtschaftliche Chancen auf dem russischen Markt zu sehen, die es, zumindest in nächster Zukunft, nicht geben wird. Eine mögliche Aufhebung der Sanktionen sollte deshalb besser einer werteorientierten, völkerrechtlich argumentierten und sicherheitspolitisch basierten Logik folgen, als vermeintlich dringenden wirtschaftlichen Interessen. Einzelne Gewerbe in der EU würden zwar von einer Lockerung der Sanktionen profitieren. Der Effekt einer Schwächung oder Aufhebung des Sanktionsregimes auf die EU-Wirtschaft als Ganzes aber wäre marginal.

Die enormen menschlichen und natürlichen Ressourcen des postsowjetischen Russland sind zwar verheißungsvoll. Allerdings waren Moskaus gegenwärtige Herrscher nicht in der Lage, das enorme Potenzial ihres Landes in der zurückliegenden Periode günstiger Bedingungen zu nutzen. Während der ersten Dekade des neuen Jahrhunderts tat Russland trotz hoher Ölpreise und des ständigen Strebens westlicher Länder nach engerer Partnerschaft wenig, um sich zu modernisieren, bis sich dann das Zeitfenster im Jahre 2014 wieder schloss. Für mehr als zehn Jahre machten es hohe Öl- und Gaspreise dem Kreml möglich, die tief gehenden strukturellen Pathologien in der russischen Wirtschaft zu übertünchen. Diese Periode der (Selbst)Täuschung ist nun vorbei – sowohl für das Volk Russlands als auch für dessen ausländische Partner. Der russische Markt, den sie einst kannten, existiert nicht mehr und wird in absehbarer Zukunft auch nicht wiedererstehen.

Zuerst erschienen auf der Webseite des „Harvard International Review“. Aus dem Englischen übertragen von Thomas Meyer.

Edward Hunter Christie ist Verteidigungsökonom am NATO-Hauptquartier in Brüssel. Die in diesem Beitrag geäußerten Ansichten geben nicht zwangsläufig die Position der NATO oder deren Mitgliedsstaaten wieder.

Andreas Umland ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Euro-Atlantische Kooperation in Kiew und Herausgeber der Buchreihe „Soviet and Post-Soviet Politics and Society“ beim ibidem-Verlag Stuttgart.

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