Die derzeitige Debatte um Putins und Assads Bombardierung von Zivilisten in Aleppo hat eine bereits zwei Jahre alte Diskussion um eine Einschränkung europäischer Energieimporte aus Russland wiederaufleben lassen. Das wichtigste nichtmilitärische Druckmittel gegen Moskauer außenpolitisches Abenteuertum war bereits im Sommer 2014 in der westlichen Debatte um die verdeckte russische Intervention in der Ostukraine aufgetaucht, damals jedoch politisch unbeachtet geblieben. Der damalige EU-Energiekommissar Günther Oettinger hatte den Einsatz von Energieimportsanktionen gegenüber Russland mehrfach ausgeschlossen. Eine Beschränkung der enormen westlichen Energieimporte der EU aus Sibirien stellt jedoch den wohl längsten potenziellen Hebel des Westens gegenüber dem Kreml dar. Eine signifikante Kürzung bzw. sogar Einstellung der monatlichen europäischen Einfuhren russischen Rohöls wäre für den Westen zwar ebenfalls mit Einbußen verbunden. Sie wären jedoch für die EU verkraftbar, während sie das russische Regime in enorme Schwierigkeiten bringen würden.
Im Jahre 2014 reagierte der Westen auf die russische Expansionspolitik in der Süd- und Ostukraine mit finanziellen, politischen und Exportsanktionen sowie mit Strafen gegen bestimmte Personen. Darunter sind Einreiseverbote für russische Politiker, der Ausschluss Russlands aus den G8 (nunmehr wieder die G7), ein Verbot der Ausfuhr bestimmter westlicher Technologien nach Russland, Beschränkungen des Zugangs russischer Firmen zu westlichen Finanzmärkten und einige andere Maßnahmen. Diese Sanktionen haben einige Wirkung gezeigt. Die stärkste ökonomische Waffe des Westens jedoch – ein umfassendes Embargo auf Erdölimporte aus Russland – ist bislang jedoch noch nicht zur Anwendung gekommen und nur sporadisch in der Öffentlichkeit diskutiert worden.
Vielmehr debattieren die US und EU inzwischen sowohl die Zurverfügungstellung von moderner militärischer Technologie und Ausbildung für die Ukraine als auch Waffenlieferungen an die moderate syrische Opposition. Paradoxerweise geschieht dies, obwohl der Westen bei weitem noch nicht alle zu seiner Verfügung stehenden ökonomischen Mittel zur Beendigung der fortgesetzten russischen Scharmützel im Donezbecken und Bombardierung syrischer Zivilisten zum Einsatz gebracht hat. Dabei wäre die Sanktionierung von Ölimporten aus Russland für die EU-Länder weniger kostspielig, als von vielen angenommen. Die Einkünfte aus dem Ölexport sind eine bedeutende Stütze des Staatshaushalts Russlands und für dessen Gesamtwirtschaft wichtig. Ein Großteil der umfangreichen monatlichen Einfuhren von russischem Öl könnte von der EU relativ problemlos durch erhöhte Importe aus anderen erdölexportierenden Ländern ersetzt werden.
Offiziellen Statistiken zufolge bestanden die Einnahmen im Staatshaushalt Russlands z.B. 2014 zu etwa 37% aus „Erlösen aus dem Außenhandel“ (Website des Finanzministeriums der Russischen Föderation). Der Löwenanteil kommt aus Erdölexporten in die EU, wobei Erdgas eine geringere Rolle spielt als manchmal angenommen. Vor diesem Hintergrund nahm bereits Anfang November 2014 einer der führenden deutschen Experten für russische Wirtschaft, Roland Götz in den Russland-Analysen (Nr. 285) in seinem Beitrag „Die Russlandsanktionen: Ihre Konzeption, ihre Wirkung und ihre Funktion innerhalb der Russlandpolitik“ zur Frage des westlichen Vorgehens gegen den Kreml Stellung. Götz wies darauf hin, dass „ein vom Westen gegenüber Russland verhängtes Ölembargo eine höchst wirksame Sanktion“ wäre (S. 3). Er ergänzt, dass solch ein Embargo „durch den Einsatz der Ölreserven in der EU und in den USA und durch Nutzung der freien Förderkapazitäten Saudi-Arabiens viele Monate durchgehalten werden könnte, ohne dass ein Anstieg des Ölpreises auf dem Weltmarkt zu befürchten wäre“ (ebenda).
Hinzu kommt, dass in den letzten beiden Jahren die Ölpreise auf ein stabil niedriges Niveau gesunken sind, was für Ölimporteure wie die EU zusätzlichen Manövrierraum schafft. Im Lichte der aktuellen Situation auf dem Ölmarkt würde die Sanktionierung von Ölimporten noch weniger riskant, sein als noch vor ein paar Monaten. „Doch der Westen scheut sich, dieses ‚finale‘ Instrument anzuwenden“, stellt Götz schon Ende 2014 fest (ebenda). Bereits 2009 hatte Götz in der einflussreichen Monatszeitschrift Osteuropa (59. Jg., H. 1) in einer Analyse unter dem Titel „Pipeline-Popanz: Irrtümer der europäischen Energiedebatte“ klargestellt: „Europa ist, anders als behauptet wird, nicht in gefährlichem Maße energiepolitisch verwundbar. Es verfügt neben erheblichen eigenen fossilen und erneuerbaren Energieträgern über breite Importmöglichkeiten und hohe Kaufkraft, die ihm die Energievorkommen der gesamten Welt zugänglich machen.“
Wenn der Westen nicht mehr im jetzigen Umfang Handel mit Russland betreiben würde, hätte der Kreml weniger Mittel für seine „hybriden“ Aktionen, also sein militärisches Engagement, Propaganda-Kampagnen, politischen Manipulationen usw. in Moldau, Georgien und der Ukraine sowie für sein offenes militärisches Eingreifen in den syrischen Bürgerkrieg. Ohne die Erlöse aus den umfangreichen Rohstoff- und vor allem Erdölexporten in den Westen, wäre die russische Regierung vielmehr damit beschäftigt, mit den verbleibenden Mitteln ihrer Grundfunktion als Staatsverwalterin und Wohlfahrtsgarant gerecht zu werden. Angesichts der hohen Zahl von russischen Staatsangestellten, Beziehern staatlicher Renten, Studenten an staatlichen Universitäten, Empfängern von Sozialleistungen usw. wäre Russland unfähig, seine Satellitenstaaten Transnistrien, Abchasien, Südossetien, Luhansk und Donezk sowie die annektierte Krim und sein Truppenkontingent in Syrien wie bisher zu finanzieren. Gerade vor dem Hintergrund der gegenwärtigen OPEC-Politik wäre die EU in der Lage, Russland als Öllieferant durch andere Länder zu ersetzen. Dies wäre zwar für den Westen mit Anstrengungen und Kosten verbunden, jedoch letztlich weniger problematisch als groß angelegte Waffenlieferungen an die existenzbedrohte Ukraine und verzweifelte Anti-Assad-Opposition in Syrien.
Russland seinerseits ist nicht in der Lage, ohne weiteres große Mengen Öls außerhalb Europas zu verkaufen. Die meisten russischen Pipelines führen in die EU. Russlands Infrastruktur, Häfen und Tankerflotte sind für einen Transport großer Mengen Öls auf dem Seeweg in andere Weltregionen bislang unzureichend. Der Kreml könnte nicht ohne weiteres sein westsibirisches Erdöl in großem Umfang zu anderen Käufern als der EU transportieren. Moskau bliebe auf dem Großteil seiner Energiereserven sitzen, solange die russischen Energiekonzerne keine Wege finden, entsprechende Mengen Öl an finanzkräftige nichteuropäische Kunden, etwa in Ostasien, zu verkaufen. Dafür müsste Russland zunächst entsprechende alternative Transportmöglichkeiten schaffen. Angesichts des Aufwands an Kosten, Zeit und Energie, der nötig wäre, um neue Märkte zu erschließen und dafür (ohne westliche Hilfe) die notwendige Exportinfrastruktur zu schaffen, wird die EU auf Jahre hinaus Russlands alternativloser Hauptabnehmer für Öl bleiben. Europa dürfte noch für lange Zeit der wichtigste Markt sein, auf dem Russlands Ölförder- und -lieferkosten durch entsprechende Verkaufspreise gedeckt werden.
Vor diesem Hintergrund wären auch die Folgen eines westlich-russischen Handelskrieges, der dem Embargo folgen würde, überschaubar. Freilich könnte Russland in einer Gegenaktion Brüssel durch einen Stopp seiner Gasexporte in die EU in Bedrängnis bringen, da Gas nur beschränkt fungibel ist. Russische Gasimporte könnten etliche europäische Länder nicht ohne weiteres durch andere Energieimporte oder -ressourcen ersetzen. Jedoch wären die russischen Haushalte und Wirtschaft im Falle eines Ölimportembargos der EU bereits enorm angeschlagen. Der Kreml würde eine weitere Reduktion der russischen Exporteinnahmen durch zusätzliche eigene Sanktionsmaßnahmen ökonomisch, sozial und politisch, wenn überhaupt, nur begrenzt umsetzen können.
Die Beziehungen des Westens zu Russland könnten bald in eine peinliche Situation münden: Westliche Waffen werden an die Ukraine und syrischen Oppositionellen geliefert, um einer verdeckten Invasion des Kremls im Donezbecken sowie der offenen Bombardierung von Aleppo entgegenzuwirken. Die militärischen Aktivitäten des Kremls wiederum werden aus dem russischen Staatsetat finanziert, welcher wesentlich durch Einnahmen aus Ölexporten in die EU aufgefüllt wird. Es ist der Kreml, der Waffen, Soldaten, Material und Finanzen usw. zur Verfügung stellt, um die beiden separatistischen Pseudostaaten „Lugansker“ und „Donezker Volksrepublik“ sowie das Assad-Regime am Leben zu erhalten. Russland tut das mit Etatmitteln, die zu einem beträchtlichen Teil aus Einnahmen für Energielieferungen in die EU stammen. Westliches Geld würde im Falle militärischer Unterstützung für die Ukraine und syrische Opposition somit einem Krieg von beiden Seiten her Nahrung geben.
Ein Handelskrieg zwischen Russland und dem Westen, der einem EU-Importembargo für russisches Öl folgen würde, ist keine hoffnungsvolle Perspektive. Die Alternative, nämlich eine weitere Eskalation der Kriege in der Ostukraine und Syrien, birgt jedoch Risiken, welche zu einer noch unerfreulicheren Zukunft führen könnten – sowohl für Russland, die Ukraine und den Nahen Osten als auch für den Westen.
Ersatz aus anderen ölproduzierenden Ländern käme deutlich teurer für die EU. Ich weiß nicht, ob diese politisch-wirtschaftliche Kosten-Nutzen-Kalkulation aufgeht.
Kommentar im Forum schreiben