Wie „Neurussland“ den russischen Nationalismus wiederbelebt hat
Krieg befördert ganz allgemein den Nationalismus, und wenn es noch dazu ein Raubzug ist, dann ist patriotische Euphorie garantiert.
Die Annexion der Krim hat in der russischen Gesellschaft einen wahren Tsunami an Nationalismus ausgelöst. Auf den Zerfall der Sowjetunion folgten für Russland geopolitische Verluste und Niederlagen. Einst nannten die verhassten Amerikaner Russland ein Imperium des Bösen, jetzt schon nur noch eine als Land getarnte Tankstelle. Die Urenkel der großen ruhmreichen Vorväter sind schlecht – dies empfinden Russen, die das Rote Atlantis und das Dritte Rom betrauern. Und dann fängt auch noch die Ukraine an, sich der brüderlichen Umarmung zu entziehen … Man kann sich vorstellen, wie die unter Verlustsyndromen leidenden Russen sich über die „heimgeholte“ Krim gefreut haben müssen. Vielleicht hätten auch die Ukrainer auf solche Weise auf eine „Heimholung“ des Kuban-Gebiets reagiert – mit dem Unterschied, dass wir keinen hypertrophierten Hang zu Expansionismus verspüren und auch nicht an einem Heilsbringersyndrom leiden.
In noch größerem Maße inspirierte die russischen Nationalisten der Krieg um das so genannte „Neurussland“ (vom russischen Präsidenten Wladimir Putin wieder popularisierter Begriff, der heute für die südostukrainischen Gebiete herhalten soll, sich aber real auf wenige Kreise der Oblaste Luhansk und Donezk in Form der sogenannten „Volksrepubliken“ beschränkt, A.d.R.). Krieg befördert ganz allgemein den Nationalismus, das ist sein ureigenstes Element. Und wenn es noch dazu ein Raubzug ist, dann ist patriotische Euphorie garantiert. Doch es geht hier nicht allein um ein Gefühl. Bis vor Kurzem noch stand die rechtsradikale Bewegung in Russland unter keinem guten Stern. Je offener der Kreml mit dem Nationalismus gespielt hat, desto bedauernswertere Persönlichkeiten vertraten die Rechten in der Öffentlichkeit. Der drollige Nazi Dmitrij Djomuschkin erinnert eher an einen Traktorfahrer denn an einen Führer. Und bevor Maxim Marzinkewitsch sich der Gründung von Finanzpyramiden verschrieb, gab er Meisterkurse im Klauen im Supermarkt. Nicht umsonst ist der jährliche „Russische Marsch“ (das Analogon zu unserem „UPA-Marsch“) schon längst zu etwas wie einer Parade der Insassen der örtlichen Irrenanstalt verkommen.
Unterdessen brodelt im Untergrund ein Nationalismus von ganz anderer Qualität. Bewaffnete autonome Gruppierungen (BORN, NSO, die Borowikow-Bande und andere) betreiben echten Terrorismus – die Liquidierung von „Volksfeinden“ und Migranten, Plünderungen und andere „große Sachen“. Einmal traten die rechtsradikalen Banden ins Rampenlicht, das war im Jahr 2010, als sich auf dem Manegenplatz in Moskau keine Freaks, sondern ein paar Zehntausend echte Kämpfer versammelten. Tausende zum Nazigruß gereckte Hände vor dem Hintergrund der Kreml-Silhouette – so etwas bekommt man nicht oft zu sehen. Und klar ist, dass dieses Publikum echte Führer und eine echte große Sache braucht, für die sie kämpfen kann – keine Dummköpfe und keine politischen Inszenierungen.
Genau diese große Sache bietet ihnen der Krieg im Donbass. Jeder Feldkommandant der „Volksrepublik Donezk“ kann zu einem nationalistischen Helden stilisiert werden. Bei solchen Dingen sind die tatsächlichen Verdienste nicht so wichtig wie geeignetes Material zur Mythenbildung. Und das gibt es hier wirklich im Überfluss. Denken Sie nur daran, wie schnell die Feldzüge der UNSO von Legenden umrankt und verklärt wurden. Es würde völlig reichen, ein paar mittelmäßige patriotische Romane über die Volksrepublik Donezk zu schreiben, und eine ganze Generation der russischen Jugend wird für Strelkow und Gubarew beten. Es wäre naiv, zu glauben, dass all diese russischen Verbannten umkommen werden. In ein paar Jahren werden wir noch ihre Memoiren in den Buchläden wiederfinden und Lieder über den Krieg mit den „Benderas“ (Abfällige Bezeichnung für vermeintliche ukrainische „Faschisten“ und Ukrainer im allgemeinen, A.d.Ü.) hören. Der russische Nationalismus hat den Krieg geschmeckt, und das hat ihn für immer verändert. Kann man denn noch mit einem Plakat in der Hand demonstrieren gehen, wenn man bereits mit einem Maschinengewehr im Schützengraben lag? Der Appetit kommt beim Essen, und das sollte man nicht unterschätzen. Einen Präzedenzfall gibt es in Russland bereits – den inhaftierten Oberst Wladimir Kwatschkow, dem Vorbereitungen für einen Anschlag auf Anatolij Tschubajs sowie ein versuchter Staatsstreich zur Last gelegt werden.
Indem er die nationalistischen Leidenschaften in der Gesellschaft geschürt hat, hat der Kreml nicht nur die Machtvertikale Putins gestärkt, sondern auch die soziale Basis für Leute wie Strelkow und Kwatschkow geschaffen. Nach der Annexion der Krim hatte sich zwischen den russischen Rechten und Putin eine lose Allianz gebildet, die aber nach Putins „Verrat“ an Neurussland buchstäblich unter den Fingern wegbröselte. Vom Zerbrechen dieser Allianz profitieren die Rechten wesentlich stärker als der Kreml. Dies um so mehr, als Putin nicht in der Lage ist, die von Kriegshysterie ergriffenen Russen vollständig zu kontrollieren. Man sollte sich nicht der Hoffnung hingeben, dass Putin lediglich zum Hörer greifen müsste, und die russischen Medienschaffenden würden sofort die Stimmung in der Gesellschaft in die andere Richtung umkippen lassen. „Ich würde sogar so weit gehen, zu sagen, dass das russische Fernsehen heute die Denkweise des Kremls kontrolliert“, ließ der ehemalige Kreml-Polittechnologe Gleb Pawlowski kürzlich verlauten. Dasselbe betrifft auch die Kreaturen Putins. Dugin etwa könnte man nicht nur aus der Moskauer Universität vertreiben, sondern auch auf Golgatha kreuzigen – die Anzahl der Anhänger seiner obskuren Schriften würde darunter in keinster Weise leiden.
Faktisch hat Putin eine Welle erzeugt, die er selbst schon nicht mehr in seine Gewalt bringen kann. Jetzt reiten auf ihr die russischen Ultrarechten. Und sie haben beste Chancen, auch die Herzen der Russen zu erobern. Dabei ähnelt der russische Nationalismus der russischen Sprache – er saugt einfach alles in sich auf. Die Ideologie, die die Anhänger Neurusslands predigen, ist ein abgeschmackter Mix aus militanter Orthodoxie (sog. „Atom-Orthodoxie“), Stalinismus, Monarchismus und vielen anderen –ismen, Okkultismus mit eingeschlossen. Und all dies ist jetzt dick vermischt mit dem Blut der Kämpfer des Volksaufgebots Donbass, das den Schwarzerde-Boden des Donbasss durchtränkt. Und eine solche Blut– und Boden-Ideologie, da stimmt der geneigte Leser sicher zu, wirkt auf den einfachen Bürger nun mal wesentlich stärker als die schwächelnde „liberale Propaganda“ der Putingegner mit ihren weißen Bändern.
Wenn der Putinismus zusammenbricht, (und das wird eintreten, früher oder später) ist der kritische Punkt für Russland, für die Ukraine und für den gesamten Westen erreicht. Es ist inzwischen offensichtlich, dass der Kampf um den Kreml für die prowestlichen Liberalen nicht zu gewinnen ist. Und es sieht nicht so aus, als würde sich die Lage in naher Zukunft zu ihren Gunsten ändern. Es kann sein, dass wir schon Ende dieses Jahres ein Debüt der Ultrarechten sehen werden, jedoch werden das nicht länger Freaks und Marginale sein. Eine Niederlage Neurusslands wird den Ultrarechten nur nützlich sein, denn Revanchismus ist eine ganz gefährliche Sache. Vergessen wir nicht, dass die Nazis in Deutschland ebenfalls von einer Welle des Revanchismus an die Macht gebracht wurden. Berücksichtigt man die Sanktionen des Westens, erscheint die Analogie zu der Auflehnung gegen das „Versailler Diktat“ (jetzt: das Diktat Brüssels und Washingtons) gar nicht mehr so weit hergeholt. Dies um so mehr, als Russland auf eine lange Geschichte der Konfrontation mit dem Westen zurückblickt und schon längst entsprechende politische Reflexe ausgebildet hat.
Gestützt auf die geopolitische Lage könnten die russischen Rechtsradikalen das wackelige Kräftegleichgewicht innerhalb der Russischen Föderation zerstören und den Zerfall der Russischen Föderation auslösen. Aber auch das ist kaum ein Trost. Im vergangenen Jahrhundert haben wir bereits einmal den Zerfall des Russischen Imperiums durchlebt und fanden uns in den Krallen des Bolschewismus wieder. Und wer kann sagen, worin eine neue Periode des Chaos in Russland münden könnte? Die Feldkommandanten der Volksrepublik Donezk, die den „Heldentaten“ Murawjows nacheifern, könnten morgen zu den neuen Bolschewiken werden, und Putins Rotgardisten zu ihren Soldaten. In diesem Sinne haben wir von unserem nördlichen Nachbarn in Zukunft nur Probleme zu erwarten – mit Putin oder ohne ihn. Und alleine können wir dem nicht standhalten. Deswegen muss sich die Ukraine unbedingt in die euroatlantische Welt integrieren, sich auf jeden Fall die Unterstützung der führenden Länder sichern. Andernfalls könnten wir eines Tages ganz allein dem rasenden russischen Bären gegenüberstehen, in den die Dämonen Dostojewskis gefahren sind. Brauchen wir das?
20. Juli 2014 // Olexander Fomenko
Quelle: Zaxid.net