Wenn Forscher den Nationalsozialismus analysieren, schieben sie normalerweise die Hauptverantwortung auf die Kleinhändler, Angestellte und die übrigen gesichtslosen deutschen Bürger, die sich einfach und schnell in einer gutgläubigen Masse vereinigten. Nur wenige westliche Forscher nahmen an, dass an der Erschaffung des nationalsozialistischen Staates auch die so genannten „proletaroiden Intellektuellen“ (nach Max Weber) beteiligt waren. Gerade sie als Gebildete trugen sowohl im Mittelalter als auch im 20. Jahrhundert die Schuld für alle gewaltvollen Revolutionen. Diese zerstörerische Ambivalenz gab es auch in den Unruhen 1968 in Frankreich, in welchen das kluge und ein bisschen karnevaleske Gesicht des Ideologen und Studentenführers Daniel Cohn-Bendit nicht das Gesicht der Bewegung an sich verstecken konnte, einer grausamen und rachsüchtigen Bewegung.
Sowohl Revolutionen als auch Kriege sind unvermeidlich. Einfach deswegen, weil wir Menschen unvollkommen sind. Die Schönheit der Vielfalt birgt die Gefahr der Aggression in sich. Irgendjemand sagte mal: Ein abgeschlossener Krieg sät die Samen für den nächsten. Deshalb sind wir verpflichtet, uns nicht nur der Geschichte, sondern auch den derzeitigen Ereignissen bewusst zu werden. Auch die Verortung dieser Geschichte in der heutigen Zeit muss uns klar werden. Die Politikwissenschaft betrachtet die Teilnehmer dieser Ereignisse, die Philosophie deren Gründe. In diesem Sinn stand Putins Thronbesteigung in keinem Widerspruch zu den Ereignissen in Russland, sondern folgte deren Logik. Wir erinnern uns an die Kleinhändler, Angestellte und andere gesichtslose deutsche Bürger… Man kann endlos diskutieren, ob der russische Ideologe Alexander Dugin besonders klug ist oder ob er und seinesgleichen zu dem Eierkopfklub dazugehört. Ja, er gehört dazu. Die Mitgliederaufnahme in diesen Verein erfolgt auf jeden Fall nicht wegen besonders hoher moralischer Qualitäten.
Ich verstehe, ich vereinige das Unvereinbare. Die Ideologien von Daniel Cohn-Bendit und des Neueurasianisten Alexander Dugin kann man nicht gleichsetzen. Außer in einem wesentlichen Punkt: Beide verachten den Otto Normalverbraucher, der jedes Risiko und jeden Wutanfall scheut. Den klassischen Rentier, der Kupons schneidet. Den stillen, ängstlichen und folgsamen Menschen, der sich immer leicht mit dem Ruf der Menge solidarisiert. Den Menschen, der sich – ohne es selbst zu bemerken – von einem Arbeiter, einem Schuster oder einem provinziellen Clerk in einen SS-Offizier, einen erbarmungslosen Tschekisten, einen Revolutionsführer von Studentenmassen verwandelt.
So ein Bürger wird nie ein einzelgängerischer Held werden, er wird nie auf die Straße gehen, um gegen soziale Ungerechtigkeit zu protestieren. Er ist immer solidarisch mit der Masse, in der er die Erlaubnis erteilt bekommt, sich toll zu führen und vor niemandem Angst zu haben.
Putin ist kein Ideologe. Und augenscheinlich verhält er sich zum intellektuellen Schaffen des Dr. Alexander Dugin reichlich ironisch. Putin ist ein echter Praktiker, der früher einmal – bedauerlicherweise – denkenden Historikern Glauben schenkte. Ich bin mir sicher, dass die Periode des romantischen Blickes auf die russische Vergangenheit bei Herrn Putin nur eine kurze war. Dugin und ähnliche Mythenerschaffer interessieren ihn schon lange nicht mehr. Wenn überhaupt, dann findet er sie allenfalls unterhaltsam. Die moderne russische Mythologie wird von vollkommen anderen Menschen geschrieben, von klugen, gebildeten und zynischen Menschen. Diese „proletaroiden Intellektuellen“ des 21. Jahrhunderts werden, so wie auch ihre sowjetischen, deutschen und französischen Vorgänger, in kurzer Zeit ganz andere soziale Nischen in der russischen Gesellschaft füllen. So war es auch in Frankreich, wo die hitzigen Kampfgefährten von Daniel Cohn-Bendit mit ihrer ideologischen Vergangenheit brachen und bourgeoise Antimarxisten wurden – in Funktionen von Ministern, progressiven politischen Philosophen oder respektablen Universitätsprofessoren.
So wird es auch in Russland passieren. Dass da Platz für einen Alexander Dugin oder einen Strelkow-Girkin sein wird, glaube ich eher nicht.
21. November 2016 // Semjon Gusman, Psychiater
Quelle: Lewyj Bereg
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