Wiktor Palij: „Russland verfügt über die Mittel für eine Luftlandeoperation in Kiew“.
LB.ua bat den Generaloberst der Reserve Wiktor Palij, die Maßnahmen der ukrainischen Führungsspitze während der Okkupation der Krim durch russische Truppen zu bewerten. Den Worten des ehemaligen Kommandeurs der Akademie für Nationale Verteidigung und der Zentralverwaltung des Nachrichtendiensts des Verteidigungsministeriums ist zu entnehmen, dass die Situation im Grunde genommen eine Pattsituation darstellte. Zumindest erhielten wir einen solchen Eindruck. Palij verzichtet auf Säbelrasseln und zeigt lediglich Kausalzusammenhänge auf. Wenn sich unsere Streitkräfte nach 23 Jahren immer noch auf dem Abstellgleis befinden, wie solle dann eine organisierte Verteidigung möglich sein.
Inwiefern war die Taktik, sich zurückzuhalten und nicht auf die russische Aggression auf der Krim zu reagieren, die mit der Einnahme lokaler Parlamentsgebäude durch „grüne Männer“ begonnen hatte und mit den letzten Ereignissen im Zusammenhang mit den ukrainischen Schiffen endete, richtig?
Es wäre falsch, sämtliche Ereignisse auf der Krim ohne eine umfassende Analyse der kausalen Zusammenhänge, die zu diesen geführt hatten, zu bewerten.
Anscheinend hätte die Einnahme der Gebäude der Zentralbehörden der Krim zu einer unmittelbaren Reaktion des Innenministeriums, des Nachrichtendienstes, der Staatsanwaltschaft der Ukraine und der Krim führen müssen. Es wäre folgerichtig gewesen, mit den Invasoren Kontakt aufzunehmen, um die Wiederfreigabe der eingenommenen Objekte zu verhandeln, und im Falle des Scheiterns die Gebäude mit Hilfe von Sondereinsatzkommandos – bis hin zum Einsatz von Gewalt – zu befreien.
Ja, das ist dann möglich und auch richtig, wenn der Staat stark, handlungsfähig und für diese Aufgabe bereit ist. Aber eben darin liegt das große Problem.
Als Resultat dessen, dass die sogenannte «Entwicklung» des unabhängigen ukrainischen Staates über 23 Jahre lang in die falsche Richtung verlief, sind wir nun an einem Point of no Return angelangt, an welchem der Zusammenbruch des gesamten ukrainischen Staates droht. Die Rechtsschutzorgane, deren Spezialeinheiten und militärischen Verbände sind nicht in der Lage, ihre Aufgaben zu erfüllen. Die Streitkräfte der Ukraine sind während der gesamten Phase der sogenannten „Reformierung“ in einen Zustand des völligen Verlustes der Kampfkraft überführt worden.
Infolgedessen, dass in den letzten Jahren in der Führungsspitze sämtlicher Institutionen, die in der Ukraine für Sicherheit, Recht und Ordnung sorgen sollen, fachlich ungeeignete Menschen (die Mehrheit von diesen waren Mitglieder der sogenannten „fünften Kolonne“) saßen, ist die Verwaltbarkeit und Kampfkraft der Militärorgane mittlerweile gleich Null.
Während der Ablösung der alten Führungsspitze wurde unter schwierigen Bedingungen eine Eile an den Tag gelegt, die dazu führte, dass die zentralen Machtorgane, einschließlich der Sicherheitsorgane, mehrheitlich von Personen geleitet wurden, die zur Erfüllung ihrer ureigensten Aufgaben nicht in der Lage waren.
All dies führte zur Auflösung der Verteidigungsfähigkeit des Landes und schuf schließlich die objektiven Bedingungen für die Befriedungspolitik des Aggressors auf der Krim.
Hätte es sich gelohnt, im Rahmen einer „Eindämmungspolitik“ sofort sämtliche Flugzeuge auf Ausweichflugplätze verlegen zu lassen (das gleiche betrifft die Kriegsschiffe), und nicht zu warten, bis sie vom Gegner übernommen oder in der Bucht blockiert wurden?
Die Flugzeuge hätten auf den nächstliegenden Flugplatz auf dem Festland verlegt, während die Kriegsschiffe aufs offene Meer und anschließend nach Odessa geschickt hätten werden müssen. Warum ist das nicht geschehen? Aus einem einfachen Grund: dem Ausbleiben von Entscheidungen seitens der obersten Führungsspitze.
In der gesamten Geschichte der Schwarzmeerflotte kam es zu zwei sogenannten strategischen Militäroperationen. Zum einen die Konzentration der eigenen Schiffe in den Buchten von Sewastopol, um das Eindringen feindlicher Schiffe zu verhindern. Dies geschah während des Krimkrieges 1854. Zum zweiten auf Befehl Lenins während des Bürgerkrieges. Und nun fand die „dritte strategische Militäroperation der Schwarzmeerflotte“ statt, um Schiffe des Brudervolkes daran zu hindern, die Bucht zu verlassen.
Gab es die Möglichkeit, die Situation auf der Halbinsel zu unseren Gunsten zu drehen?
Die Beantwortung dieser Frage erfordert die Berücksichtigung solch philosophischer Kategorien wie der Zeit, einschließlich einer ihrer für den Menschen unangenehmen Besonderheiten – ihre Unumkehrbarkeit.
Die Führung des Landes hätte die historischen Fakten und Besonderheiten der Autonomen Republik Krim unbedingt erfassen und berücksichtigen, die Rolle und Stellung der Russischen Föderation, insbesondere ihrer Führungsspitze, bewerten und abschätzen müssen. Aber die Geschichte lehrt uns, dass sie den Führungsspitzen unseres Landes nichts lehren kann.
Immerhin fanden auf der Krim analoge Ereignisse bereits 1992 statt. Zu dieser Zeit versuchte ein spezifischer Teil der Führungsspitze der Krim gemeinsam mit dem Kommando des 32. Armeekorps (AK-32) Ziele, die den heutigen gleichkommen, durchzusetzen.
Unter diesen Bedingungen habe ich die Funktion des Kommandeurs des AK-32 und des obersten Вefehlshabers auf der Krim übernommen. Da die schwierige Situation auf der Halbinsel erfasst und davon ausgegangen wurde, dass wahrscheinlich auch zukünftig die Voraussetzungen für eben solche Operationen geschaffen würden, wurde das AK-32 innerhalb von sieben Monaten vollkommen umstrukturiert und dessen Gefechtsstärke von 2.500 auf 10.000 Mann erhöht.
Und hier stellt sich die Frage: Wo sind diese, wo die 10. SEK-Brigade und was passierte mit den anderen Truppenteilen und -verbänden, die schnell die Situation auf der Halbinsel zu unseren Gunsten hätten drehen können?
Zudem steht eine Frage globalerer Natur zur Diskussion: Warum hat die Führungsspitze des Landes keine Konsequenzen daraus gezogen, dass die russische Machtspitze über Jahre hinweg in schöner Regelmäßigkeit die Lage verschärfte und mit medialen, ökonomischen, religiösen, politischen Maßnahmen in unserem Land die eigenen Bürger vorbereite sowie die Bedingungen für einen Angriff auf die Ukraine schuf?
Meiner Meinung nach war das Finale dieser Vorbereitungen für 2015 (Präsidentschaftswahlen in der Ukraine) geplant. Aber die Ereignisse in der Ukraine und insbesondere die Aktionen auf dem Maidan haben den Einsatz der russischen Truppen mit dem Ziel der Annexion der Krim beschleunigt. Derartige Militäroperationen (ohne Schusswechsel) sind nicht neu. Die gleichen Mittel setzte Hitler bekanntermaßen am Vorabend des Zweiten Weltkrieges in Österreich und Tschechien ein.
Hinsichtlich der Krim befand sich die Ukraine zu diesem Zeitpunkt in einem Zustand, der ein Drehen der Situation zu Beginn der Aggression zu ihren Gunsten ausschloss…
Viele Militärexperten behaupteten, dass Russland die „kontinentale“ Ukraine nicht angreifen könne, weil es hier keine kontinuierliche „Frontlinie“ sicherstellen könne. Ist eine solche Perspektive mittlerweile nicht überholt, da diese auf einer Taktik beruht, die noch aus dem Zweiten Weltkrieg stammt?
Wer benötigt unter heutigen Bedingungen noch eine durchgängige „Frontlinie“? Derartige Formen der Kriegsführung sind charakteristisch für die Zeit während des Ersten Weltkriegs. Das ist ein feststehendes Axiom. Aus militärischer Sicht gibt es keine Gründe, die die Möglichkeiten einer militärischen Invasion in den kontinentalen Teil der Ukraine einschränken würden.
Inwieweit war die Konzentration gepanzerter Verbände an den östlichen Grenzen der Ukraine richtig: Hätten sich unsere Truppen nicht bei einem raschen Angriff im Rücken des Gegners befunden?
Sehr berechtigte Bedenken korrelieren mit dieser Frage. Wenn die Streitkräfte des Landes nicht in der Lage sind, die gesamte Frontlinie durch eine gestaffelte Verteidigung zu sichern, müssen in einer bestimmten Tiefe unseres Territoriums Panzerverbände zum Schutz der wahrscheinlichsten Angriffsrichtungen der Truppen des Gegners stationiert werden.
Liegt ein Panzerangriff auf Kiew von Tschernigow aus mit gleichzeitiger Landung russischer Truppen in der Hauptstadt der Ukraine im Bereich des Möglichen?
Ja, über solche Mittel verfügt Russland. Aber ich möchte an die Geschichte erinnern. Nicht an den Großen Vaterländischen Krieg. Die Erfahrungen aus dem sogenannten Ersten Tschetschenienkrieg sind hinreichend. Stellen Sie sich mal folgende Frage: „Was geschah mit dem Personal, den Panzern und den Schützenpanzern, die in Grosny, der Hauptstadt Tschetscheniens, stationiert waren? Genau – die gesamte Panzertechnik wurde zerstört. Hieraus lässt sich auch ableiten, dass es sehr gefährlich ist, aus rein militärischen Erwägungen Panzer und andere Technik in einer Stadt einzusetzen – insbesondere in einer großen Stadt.
Aber das ist bei einer organisierten Verteidigung einer Stadt der Fall. Im Hinblick auf die Militäroperationen auf der Krim im März diesen Jahres fehlte der Widerstand seitens unserer Seite gegen die russischen Truppen, und anscheinend kann in einer Stadt in solchen Fällen ungestraft Panzertechnik vorhanden sein.
Aber es existiert auch eine politische Komponente in Bezug auf dieses Problem. Stellen Sie sich mal vor, dass im 21. Jahrhundert in einer Hauptstadt eines friedlichen Landes im Zentrum Europas, dessen Volk einfach in einem gerechten und demokratischen Staat leben möchte, nachts plötzlich „grüne Männer“ eindringen und morgens ein Panzerangriff stattfindet – mit Panzern ohne Erkennungszeichen. Was wird das talentierte ukrainische Volk dann singen: „Kiew wurde zerstört, uns wurde erklärt, brüderliche Unterstützung sei da“?.. Obgleich das „weiße Haus“ (Regierungsgebäude in Moskau, A.d.R.) und die tschetschenische Hauptstadt zerstört wurden. Aber dann wurde nicht das Brudervolk, sondern das eigene vernichtet.
Aus diesem Grund benötigen wir nicht nur Schlussfolgerungen, sondern vor allem die schnellstmögliche Wiederherstellung der Kampfkraft der eigenen Truppen und Stärkung der Verteidigung des Landes insgesamt.
Welche Truppenformen und -gattungen betrachten Sie im Falles einer Stärkung der Verteidigungskraft des Landes als prioritär?
Die Ukraine verfügt zum jetzigen Zeitpunkt nicht über die Möglichkeit, innerhalb kürzester Zeit zwei der drei Bereiche der Streitkräfte und die Mehrheit der Truppen auszubauen, da wir den Point of no Return passiert haben.
Beispielsweise existiert die ukrainische Marine nach dieser sogenannten „erfolgreichen und friedlichen Verteidigung der Krim“ jetzt nicht mehr – diese muss von Grund auf neu aufgebaut werden. Und die Luftstreitkräfte müssen unbedingt gerettet werden. In einem annähernd gleichen Zustand befinden sich die Landstreitkräfte und Truppenverbände der Armee.
Welchen Bereichen der Streitkräfte, Truppenteilen sollte der Vorzug gegeben werden? Hier muss die Geschichte ebenso berücksichtigt werden wie für die Zukunft prognostizierte militärische Vorgänge.
Und nun eine Frage: „Wer hat die erste Phase des Großen Vaterländischen Krieges verloren?“. Eine einfache Frage. Eine einfache Antwort. Die Kavallerie. Personen wie Stalin, Woroschilow, Budjonny und andere „Kavalleristen“ der Ersten Reiterarmee, die die Anhänger der Theorie tiefgreifender Offensivoperationen liquidierten und die die gepanzerten und mechanisierten Verbände der Roten Armee auflösten. Infolgedessen konnten die Panzerverbände Guderians, Manstein und Hoths durch die strategische Verteidigung der Roten Armee wie durch ein Stück Butter schneiden und standen zu Beginn des Herbstes 1941 vor den Stadtmauern Moskaus.
Gehen wir noch etwas weiter. Wer verlor den Kalten Krieg? Die Panzerverbände. In der UdSSR stand der Ausbau der Panzereinheiten im Vordergrund: mehr als hunderttausend Panzer wurden „gestählt“. Wo sind diese? Sie wurden aus Europa geschafft und wegen des Metalls eingeschmolzen. Und die Gegner der UdSSR entwickelten zukunftsfähige Bereiche der Streitkräfte und Waffengattungen, die jetzt erfolgreich eingesetzt werden.
Angenommen man hätte die Wahl: Hundert Panzer des Typs „Bulat“ bauen oder 10 F-16-Flugzeuge kaufen. Was wäre besser?
Nötiger und deshalb besser wäre es 10 F-16-Flugzeuge zu kaufen (theoretisch). Vor allem, weil die Luftwaffe der Ukraine 1991 noch über mehr als 800 Flugzeuge und Hubschrauber verfügte, heute aber lediglich mehrere Dutzende übrig geblieben sind. Und über Panzer verfügen wir.
Können wir wieder den Status einer Atommacht erlangen?
In absehbarer Zeit, im momentanen Zustand unseres Staates, wird es sehr schwer und problematisch diesen Status zurückzuerlangen.
Und die jüngsten Ereignisse zeigen, dass wir übereilt auf taktische Atomwaffen verzichtet haben.
Wiktor Nikolajewitsch Palij, Generaloberst der Reserve
1992-1993 – Kommandeur des 32. Armeekorps
1993-1999 – Stabschef – Erster Stellvertreter des Militärkreises der Vorkarpaten
1999-2000 – Chef der Nationalen Akademie für Verteidigung der Ukraine
2000-2003 – Chef der Hauptverwaltung der Aufklärung beim Verteidigungsministerium der Ukraine
seit 2004 – Vorsitzender der Allukrainischen Union gesellschaftlicher Vereinigungen von Teilnehmern von Kampfhandlungen, Veteranen militärischer Dienste und der Rechtsschutzorgane
22. März 2014
Quelle: Lb.ua