Anfang Dezember 2016, am Tag eines weiteren Jahrestages der Unterzeichnung des bekannten Budapester Memorandums, hat das Institut für Weltpolitik die Studie „Sicherheit in der Übergangszeit. Wie der Aggression mit beschränkten Ressourcen widerstehen“ veröffentlicht. Eines der fünf Sicherheitsmodelle, die in der Studie analysiert wurden, ist die bewaffnete Neutralität. Insofern von allen Seiten der verschiedenen Fraktionen von Friedensstiftern erneut damit begonnen wurde eine Neutralität für die Ukraine als effektivstes und lang anhaltendstes Beruhigungsmittel für Putin anzupreisen, haben wir beim Institut für Weltpolitik beschlossen noch ein Memo aus diesem Anlass vorzubereiten und zu präsentieren. Unten stehend veröffentliche ich die Schlussfolgerungen zu den Folgen der Realisierung eben jenes Sicherheitsmodells.
Von mir selbst füge ich lediglich hinzu, dass erstens der Vorschlag auf die Integration in die Nato zu verzichten, gleichbedeutend damit ist, nicht zu einem Abendessen zu gehen, zu dem einen keiner eingeladen hat. Oder jemanden nicht zu heiraten, der sowieso nicht vor hatte einen Antrag zu machen. Und Putin ist vielleicht noch nicht derart verrückt geworden, dass er an eine Mitgliedschaft der Ukraine in der Nato und der EU in absehbarer Zukunft glaubt.
Zweitens geht es für die Ukraine, in deren Fall eine Modernisierung der Armee zu einer Existenzfrage wurde, bei der Integration in die Nato nicht nur um die Mitgliedschaft, wie es die Anhänger der Neutralität vereinfacht der Welt beizubringen versuchen. Es geht darum, welche Standards übernommen, mit welchen Ausbildern und Beratern Erfahrung angeeignet wird und wessen Waffen gekauft werden. Und hier reicht es aus die Frage zu beantworten: Wollen wir eine Armee russischer Ausrichtung mit russischen Waffen oder eine solche, wie in den fortgeschrittensten Nato-Mitgliedsstaaten? Man muss sich dabei festlegen, neutral zu bleiben gelingt nicht.
Drittens, wenn die Erfahrung der Ukraine mit der Blockfreiheit die zeitgenössischen ukrainischen Realisten (oder illusorischen Realisten) nichts lehrt, dann sollten sie aufmerksam die Erfahrung Moldovas studieren, wo die Neutralität sogar in der Verfassung festgeschrieben wurde (es schien so, als ob Moskau nichts mehr wünschen könne), doch Russland erscheint das zu wenig, sie wollen noch ein Gesetz und eine Menge anderer Dinge als Bonus.
Und schlussendlich: Jede von der Ukraine vorgeschlagene Neutralität ist nicht in der Lage den Aggressor zu beruhigen, solange seine Politik gegenüber der Ukraine sich klar einer einfachen Formel unterordnet: „Entweder existiert die Ukraine innerhalb der Parameter, in denen sie Putin sieht oder Putin wird alles mögliche tun, damit sie überhaupt zu existieren aufhört.“
Und für mich ist dabei einfach interessant: Meinen die alten oder frischgebackenen Realisten wirklich, dass eine Neutralität der einzige Parameter ist, auf dem sich die Sicht der Ukraine durch Putin gründet? Und dass dieser Parameter ausreichend dafür sein wird, dass nach der Ausrufung der Neutralität WWP (Wladimir Wladimirowitsch Putin) die Ukraine in Ruhe lässt?
Zumal ich aus irgendeinem Grunde dachte, dass die Neutralitätsanhänger sich als einfallsreicher und pragmatischer erweisen, denn wenn man schon irgendeine Variante der Neutralität vorschlägt, dann wäre es doch wert- a.) von Anfang an verständlich zu argumentieren, auf welche Weise die Neutralität den Interessen der ukrainischen Gesellschaft und nicht denen Russlands und Putins entspricht (ich schließe nicht aus, dass die Ukrainer mit ihrem Hang zu Isolationismus auch selbst mit der Zeit beginnen würden, mit dem Modell der Neutralität zu sympathisieren, wenn es Russland nicht so demonstrativ aufzwingen würde)
- b.) wenn die Neutralität solch ein Wunsch für Putin ist, dann warum diesen Posten nicht zum maximalen Preis in die Verhandlungen einbringen (mit der Rückgabe der Krim usw.) und nicht Russland quasi gratis anbieten und das noch vor jeder Ankündigung jeglicher Versteigerung aus diesem Anlass?
Das nur so, laut ausgesprochene Gedanken, ohne Anspruch auf irgendein programmatisches Dokument und hier unsere Schlussfolgerungen aus dem Memo:
- Abwesenheit von Garantien der Einhaltung des hypothetischen neutralen Status der Ukraine vonseiten Russlands.
Die zahlreichen Verletzungen der bilateralen und multilateralen Verpflichtungen zur Ukraine vonseiten der Russischen Föderation berücksichtigend, hat eine hypothetische Verkündung der Neutralität durch die Ukraine in den derzeitigen Bedingungen alle Chancen das Schicksal des Budapester Memorandums zu wiederholen. Ein neutraler Status der Ukraine gestattet es Russland Verantwortung für die Aggression zu vermeiden und den Zugang zu westlichen Ressourcen zurückzuerlangen, die Aufmerksamkeit des Westens gegenüber der Problematik der Ukraine zu verringern und ebenfalls Bedingungen für die Wiederaufnahme der aggressiven Handlungen zu schaffen.
- Die Verkündung eines neutralen Status hat keine breite Unterstützung in der Bevölkerung.
Soziologische Befragungen bezeugen, dass die Option der Ausrufung eines neutralen/blockfreien Status der Ukraine von bis zu 25 Prozent der Befragten unterstützt wird. Auf diese Weise könnte die Ausrufung des neutralen Status durch die ukrainische Regierung nicht nur eine Spaltung innerhalb der Gesellschaft hervorrufen, sonder auch eine innenpolitische Krise. Das stärkt seinerseits die nationale Sicherheit der Ukraine nicht, sondern untergräbt sie.
- Die Blockfreiheit (ein hybrider Status, der Einschränkungen auferlegt, die der Neutralität eigen sind, jedoch gibt er keine Sicherheitsgarantien, die für neutrale Staaten charakteristisch sind) hat die russische Aggression gegen die Ukraine nicht verhütet.
Im Verlaufe der Jahre 2010-2014 hat die Ukraine eine Politik der Blockfreiheit durchgeführt und einseitig auf das Recht frei ein militärpolitisches Bündnis zu wählen verzichtet (was die Forderung des Kremls war), dabei hatte sie von den führenden regionalen und globalen Playern keine Garantien, welche die Neutralität kennzeichnen. Darüber hinaus wahrte der Kreml den legitimierten Einflusshebel auf die Ukraine in Form einer Aufenthaltsverlängerung für die Schwarzmeerflotte auf der Krim (was unmöglich im Falle eines neutralen Status der Ukraine wäre, der einen Abzug aller ausländischen Militäreinheiten von ihrem Territorium verlangen würde). Zusammen haben diese Faktoren die Aggression der Russischen Föderation nicht verhindert, sondern geeignetere Bedingungen für sie geschaffen.
Auf diese Art ist die Idee davon, dass die Ausrufung des neutralen Status und der Verzicht auf die euroatlantische Integration vonseiten der Ukraine die Russische Föderation zufriedenstellen und zu einer Einstellung der aggressiven Politik ihr gegenüber führen könnte, eine falsche Interpretation der Ursache-Wirkungs-Beziehungen der russischen Aggression gegen die Ukraine.
- Die Ausrufung des neutralen Status führt nicht zur Unterbrechung der russischen Aggression und der Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine.
Russland strebt nicht nur eine garantierte Nichtbeteiligung der Ukraine an militärpolitischen Organisationen, sondern vor allem den Erhalt eines entsprechenden Kontrollniveaus über die Prozesse, die mit der Ukraine verbunden sind, an. Daher interessiert den Kreml vor allem ein realer Mechanismus der Garantie dieses Status und dabei: die Wahrung der Kontrolle – de facto oder de jure – über die okkupierte Krim und der Separatistengebiete (Einzelner Kreise der Gebiete Donezk und Luhansk) und über sie über den Rest der Ukraine. Daher sind Szenarien „territoriale Integrität im Austausch für einen neutralen Status“ (nach dem Vorbild der österreichischen Deklaration über die Neutralität von 1955) wenig wahrscheinlich.
Ebenso muss im Blick behalten werden, dass der Kreml im Februar 2014 all seine nichtmilitärischen Einflussinstrumente auf das offizielle Kiew erschöpft hatte und zur militärischen Aggression der Beibehaltung der Kontrolle über die Ukraine übergegangen ist. Unter diesen Bedingungen findet eine weitere Militarisierung der Außenpolitik der Russischen Föderation statt. Die Bestätigung dafür ist die Schaffung einer Militärinfrastruktur an den Grenzen der Ukraine im Verlaufe der Jahre 2014-2017, gemeinsam mit der annektierten Krim und den okkupierten Teilen der Gebieten Donezk und Luhansk. Als Folge dessen wird der Kreml auch weiter gezwungen sein sich ausschließlich auf die Drohung der Anwendung militärischer Gewalt als Hauptinstrument des Einflusses auf die Ukraine zu verlassen.
Außerdem bestätigt das Beispiel Moldovas, dass eine ständige Neutralität weder dabei hilft, die aggressiven Handlungen Russlands zu verhindern, noch ihre Folgen zu beseitigen. Moldova hat einseitig nicht nur die ständige Neutralität verkündet, sondern diese auch in der eigenen Verfassung verankert, um Russland zu motivieren seine Truppen und Waffen aus Transnistrien abzuziehen. Jedoch setzt der Kreml faktisch damit fort, die territoriale Integrität und Souveränität Moldovas zu verletzen.
- Ein neutraler Status bedeutet de facto die Unmöglichkeit Auslandshilfe für Verteidigungszwecke zu erhalten.
Beispielsweise ist die Ukraine einer der größten Empfänger ausländischer Hilfe für Verteidigungszwecke vonseiten der USA. In den ersten zwei Jahren seit dem Beginn der russischen Aggression hat die Ukraine von den USA 760 Millionen Dollar für Sicherheits- und Verteidigungsprogramme erhalten. Die Ausrufung eines neutralen Status würde den Erhalt jeglicher Hilfen und Waffen von Partnern blockieren.
- Die historische Erfahrung beweist die Ineffektivität des neutralen Status als Mittel zur Vermeidung ausländischer Aggression.
Die Ausrufung des neutralen Status durch solche Länder wie Belgien, Dänemark, Finnland, den Niederlanden, Norwegens half ihnen im Verlauf des Zweiten Weltkrieges nicht, eine Aggression zu vermeiden. Dabei waren sogar Schweden und die Schweiz gezwungen, ihre Außenpolitik für eine Anpassung an die Interessen des Dritten Reiches zu ändern.
Mehr noch wurde mit dem Ende des Kalten Krieges unter den neutralen Staaten Europas eine Politik der Abkehr von der harten Einhaltung dieses Status und eine Stärkung der Kooperation mit der Nato/EU für Gegenmaßnahmen gegenüber den neuen Herausforderungen im Sicherheitsbereich populär. Unter den Bedingungen der Aggression der Russischen Föderation gegen die Ukraine haben solche Länder wie Schweden und Finnland ihre Kooperation mit der nordatlantischen Allianz und den USA bedeutend aktiviert, darunter über die Unterzeichnung neuer Verträge über Zusammenarbeit und die Erweiterung der Sphären des Zusammenwirkens.
- Die Neutralität als Nichtangriffsgarantie funktioniert nur in dem Fall, in dem der neutrale Staat sich außerhalb der Interessen des revisionistischen Staates befindet.
Das belegen die Erfahrungen Schwedens und der Schweiz im Verlaufe des Zweiten Weltkrieges und solcher Länder wie Finnland, Österreich, Schweden, Schweiz während des Kalten Krieges. Dabei war und bleibt die Ukraine Priorität Nummer eins in der Außenpolitik der Russischen Föderation.
Solange in der Russischen Föderation die derzeitige Sicht der Ukraine als Land vorherrscht, das ein Teil ihres Einflusses (im Sinne von Kontrolle) ist, bis dahin wird die Möglichkeit einer Einführung des Modells einer bewaffneten Neutralität nicht eine Normalisierung der Beziehungen zu Russland bedeuten, sondern den Verlust der internationalen Subjektivität.
18. Januar 2017 // Aljona Hetmantschuk
Quelle: Blogs Ukrajinska Prawda
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