"Wildes Feld": Gebietsmarkierung
In den ukrainischen Verleih ist „Wildes Feld“ gekommen, das Regie-Debüt in Spielfilmlänge von Jaroslaw Lodygin, die Verfilmung „Woroschilowgrads“ von Sergej Schadan [international Serhij Zhadan, A.d.R.] – das Buch des vergangenen Jahrzehnts nach Meinung von BBC Ukraina – jenes Romans, der für ukrainische Verhältnisse zu einer solchen Bedeutung aufgebläht wurde, dass man seine Ankunft im Kino nicht ruhig erwarten konnte. Alldieweil lässt sich „Wildes Feld“ am besten dafür nutzen: Um sich von jeglichen Erwartungen und Vorurteilen frei zu machen.
German, irgendwo in seinen Dreißigern, nimmt in seiner zugemüllten Wohnung den Hörer ab: Der schläfrige Morgen wird von der beunruhigenden Mitteilung zerrissen, dass sein Bruder, der irgendwo im Norden des Donbass lebt und eine Tankstelle betreibt, plötzlich abgereist sei, nach Berlin oder nach Amsterdam. Nach kurzem Nachdenken (sehr kurzem und man wünschte, er dächte länger nach) macht sich der Hauptheld in seine Kindheitsheimat auf, um die vom Bruder zurückgelassenen Sachen zu klären und in der absurden Welt der Raubzüge zu versinken, des „Entscheider“ und der auf den Kopf gestellten Hierarchien.
In all seinen Interviews erzählt Regisseurs Jaroslaw Lodygin, dass er aus dem Buch von Sergej Schadan nur einen Hauptgedanken entnommen habe, der sich ausdrücken lasse im Slogan des Films „Wildes Feld“: „Verteidige das Deine“. Dieser simple Gedanke wird wörtlich im Film ausgerufen und unterlegt den Rhythmus mit dem Krieg im Donbass (der Dialog im Zug etwa: Glauben Sie also etwa, dass Ihnen alles hier gehört, nur weil Sie hier geboren wurden?). Übrigens ist der Regisseur unaufrichtig, wenn er es als ein Motiv darstellt: Im Film macht es weniger als ein Motiv aus. Die andere nicht-gare Hälfte des Films ist romantisch, eine Liebes-Dreiecksbeziehung, die leider nichts zum Bild der Hauptfigur hinzufügt.
Im Übrigen fügt niemand nichts dem Bild des Haupthelden hinzu, er verändert sich im Laufe des gesamten Films überhaupt nicht, während er gefangen in den ihn umgebenden Umständen vergammelt. Sie vergessen sogar, ihn im Laufe der Handlung umzukleiden, während es möglich gewesen wäre, wie bei der literarischen Vorlage durch die wechselnde Kleidung Germans zu verstehen, dass er für lange im Donbass bleibt und dass er es schafft, mit der Tankstelle im Laufe des trägen und staubigen Sommers (der bei Lodygin, dem Eindruck nach, auf wenige Tage zusammengepresst ist) vollständig zu verwachsen und darüber seine aussichtsvolle Karriere als „unabhängiger Experte“ mit geisteswissenschaftlicher Bildung zu vergessen. Die amorphe Stabilität Germans wird besonders deutlich im Finale von „Wildes Feld“ spürbar, wenn der Konflikt durch einen „deus ex machina“ (im wörtlichen Sinne, wie es Lodygin anschließend zeigt) gelöst wird, als dessen Resultat der Hauptheld eine nur unterproportionale Erschütterung in seiner infantilen Persönlichkeit erfährt.
Das ist, bitte sehr, das größte Problem der ersten Hälfte von „Wildes Feld“, in ihr passiert praktisch nichts, obwohl das Getöse, so mag es scheinen, laut ist – die Streitereien rund um die Tankstelle an dem strategischen Ort, wo sich Schmuggler, Fernfahrer und Narren begegnen. Nicht eine der Filmszenen führt zur irgendetwas, alles erscheint als einzeln ausgeschnittenes Fragment, um dessen Zugehörigkeit zum Ganzen sich kaum jemand kümmert. Den Zusammenhang des Filmes stellt der Zuschauer her, durch seine Kenntnis der literarischen Vorlage – derjenige, der den Roman Schadans nicht gelesen hat, wird es erheblich schwerer haben.
Dem Regisseur fehlt es ganz klar an Geduld – abgesehen von der Tatsache, dass bei der Verfilmung von „Woroschilowgrad“ eine ganze Menge zweitrangiger Personals verschwunden ist – irgendjemand hätte die Erzählung komplexer machen müssen und irgendjemand hätte, im Gegensatz, Tiefe hinzufügen müssen, und so ist es ihm nicht gelungen, sich ein bisschen näher mit den verbliebenen Helden zu beschäftigen. Deshalb geht zwischen Anfang und Ende der Szenen manchmal bemerkbar die Luft aus: Sie lassen die Zuschauer emotional nicht mit den Personen mitgehen und vergessen sie über allerlei Nahaufnahmen oder verwirrenden Montagen.
Zur Mitte der zweiten Hälfte erleidet der Regisseur zudem eine Geschmacksverirrung: Die erotische Szene unter munterer Musikbegleitung erinnert beinahe schmerzhaft an Medikamentenwerbung im Fernsehen. Und das feuerspeiende Finale ähnelt eher einer Entscheidung in dem Stil „Nun dann machen wir halt irgendwie hübsch Schluss“ als einem durchdachten Regiegang.
Im Übrigen nimmt all dies „Wildes Feld“ nicht den Status eines wichtigen Films für die ukrainische Filmindustrie. Hier sind die wichtigen Leute aus der Kinobranche der Ukraine zusammengekommen: Die Dramaturgin Natalja Woroschbit wurde Co-Autorin des Drehbuchs (sie ist auch die Autorin des Stücks „Schlechte Wege“ und Drehbuchautorin bei „Kiborgi“ [engl. Filmtitel „Cyborgs“, A.d.Ü.]), als Kameramann trat Sergej Michaltschuk auf (der den Preis der Berlinale für seine Mitarbeit an „Unter elektrischen Wolken“ erhalten hat), den Ton verantwortete Sergej Stepanskij (Preisträger der „Goldenen Dsiga/Kreisel“ [neuer ukrain. Filmpreis, A.d.Ü.] ausgezeichnet für seine Arbeit bei dem Film „Stremglaw“). Die Produktion der ganzen Geschichte hat eine Firma übernommen, die vorher vor allem Werbung gemacht hat und die nun Kino macht (übrigens nicht das einzige Beispiel für neue Mitspieler auf diesem Feld in der letzten Zeit). Beim heutigen Entwicklungszustand der ukrainischen Filmindustrie ist jeder Film, der produziert wird und der einen Verleih findet, ein Fall, der besondere Beachtung verdient.
Und so ist es im Fall von „Wildes Feld“ – das ukrainische Kino macht schon lange keine Testläufe mehr, sondern, um eine Metapher aus dem Film aufzugreifen, schießt Satelliten ins Weltall. Es gibt noch keine echten Sterne in diesem Himmel, aber etwas, das schimmernd und mit wechselndem Erfolg, immerhin fliegt.
Und obwohl ich mich nicht durchringen kann, „Wildes Feld“ ein erfolgreiches Regie-Debüt zu nennen, will mir auch nicht gelingen, Jaroslaw Lodygin seinen Platz in der Hierarchie des ukrainischen Kinos zu verweigern. Am Ende ist es ihm gelungen, aus „Woroschilowgrad“ eine Kinoversion zu machen, mit linker Hand und bezahlt mit sieben Jahren seines Lebens. Keine perfekte, aber eine, die den absolut vernünftigen Gedanken zulässt, dass wir uns möglicherweise zu sehr haben mitreißen lassen durch den überhöhten Kultstatus des Romans von Sergej Schadan. Letztendlich ist jedes literarische Werk für Interpretationen offen, und von derartigen Interpretationen geht die Welt nicht unter. Und auch der „Roman des Jahrzehnts“ nach Meinung der ukrainischen BBC stellt hiervon keine Ausnahme dar.
13. November 2018 // Darja Badjor, Kulturredakteurin
Quelle: LB.ua