Das zerbrochene Leben eines künstlich gezeugten Menschen: Die Geschichte von Brizzy aus Saporischschja, geboren von einer Leihmutter


46 Babys, geboren durch eine Leihmutterschaft, verbringen ihre ersten zwei Lebensmonate aufgrund der Quarantäne nicht in ihren Elternhäusern, sondern in einem Hotel in Kyjiw.

Sie sind zukünftige Staatsbürger vieler Länder, deswegen sind Diplomaten aus der ganzen Welt daran beteiligt, sie mit ihren Familien zu vereinen.

Doch in der Ukraine gibt es ein Kind, geboren auch von einer Leihmutter, das von seiner Familie nicht abgeholt wird, auch wenn die Ländergrenzen geöffnet werden.

Außerdem konnte bis zum letzten Jahr keiner der ukrainischen Beamten genau sagen, die Staatsbürgerschaft welches Landes das Kind hat.

Brizzy ist vier Jahre alt. Sie wurde in der 25. Schwangerschaftswoche in einem Entbindungsheim in Saporischschja geboren und wog etwas mehr als 800 Gramm.

Sie wurde von einer Leihmutter ausgetragen – einer Binnenflüchtlingsfrau aus der Oblast Donezk.

Ihr Zwillingsbruder starb bei der Geburt. Die Eltern von Brizzy hinterließen ihr den amerikanischen Namen Bridget, sowie ein offizielles Dokument, laut welchem „alle ukrainischen Krankenhäuser das Recht bekommen, sie von allen lebenserhaltenden Geräten zu trennen“.

Die Ärzte sagten Bridget nur eine vegetative Existenz voraus, und selbst amerikanische Spezialisten, mit welchen sich das Paar beriet, konnten keine tröstlichen Chancen geben.

Die ukrainische Gesetzgebung erlaubt es nicht, die Geräte auf Wunsch der Verwandten abzuschalten, sondern nur im Falle eines medizinischen Attests über den Hirntod. Deswegen wurden die Geräte erst dann abgeschaltet, als das Mädchen begann, selbstständig zu atmen.

Brizzy – die Voreilige

In den Krankenhäusern in Saporischschja ist der amerikanische Name nicht heimisch geworden. Die Krankenschwestern aus dem regionalen Krankenhaus, die sich um das Mädchen in den ersten drei Jahren kümmerten, nannten es auf ihre Art und Weise – Brizzy.

So nennt sie auch Maryna Bojko, Krankenschwester in der Abteilung der Pathologie der Neugeborenen, die dem Kind ein besonderes Wohlwollen zeigte.

Sie fütterte Brizzy stundenlang, als sie noch nicht schlucken konnte, blieb länger nach der Arbeit, um einfach mit ihr zu spielen.

In einem Video auf ihrem Handy zeigt sie, wie das Mädchen sich über eine große Torte freute, die Maryna zur Feier ihres Geburtstags ins Krankenhaus mitbrachte.

„Als wir uns zum ersten Mal trafen, war sie 3,5 Monate alt, lag in der Wiege und reagierte auf nichts“, erinnert sich Maryna.

„Ungefähr nach einem Monat schloss jemand laut die Tür und sie zuckte auf, dann wurde uns klar, dass sie hören kann.

Nach einer Weile fing sie an, ihren Blick zu fixieren, und das war für uns ein richtiges Fest, weil wir dachten, dass das Kind blind sei.

Später brachten wir ihr bei, nicht aus der Ernährungssonde, sondern aus einer Flasche zu essen – für fünf Milliliter der Mischung brauchten wir zunächst mehrere Stunden.“

Während fast alle Kinder im Alter von einem Jahr anfangen zu gehen, lernte Brizzy in diesem Alter gerade ihren Kopf zu halten.

„Sie hat ein großes Potenzial“

Nach drei Jahren wurde Brizzy aus dem regionalen Krankenhaus in das Waisenhaus „Sonetschko“ in Saporischschja gebracht, wo sie noch immer wohnt.

Vor der Quarantäne besuchte Maryna sie dreimal in der Woche für mehrere Stunden.

„Sie versteht ganz klar, wer sie liebt und auf ihre Liebe reagiert.

Dieses Kind erlebte in seinem Leben bereits so viel, dass es versteht, wer kommt, um es zu lieben, und wer, um mit ihm ein paar Stunden zu spielen“, sagt die Frau.

Das Mädchen versteht ganz gut, wenn man zu ihm etwas sagt. „Sie gibt sich viel Mühe“, fügt Maryna hinzu.

Das gibt Hoffnung, dass sie eines Tages normal gehen kann. Die Ärzte können nicht sagen, wann genau, weil das davon abhängt, wie ihre Zukunft in den nächsten Jahren aussehen wird. „Sie hat bestimmt ein großes Potenzial“, glaubt Maryna.

Wahrscheinlich hätte das bereits früher passieren können, wenn ihr Leben anders verlaufen wäre und wenn sie von Anfang an in einer liebevollen Familie aufgewachsen wäre.

Eltern

Gemäß den Unterlagen, die das australische Fernsehunternehmen ABC im Mai 2019 erhielt und die in einem halbstündigen Film über Leihmutterschaft in der Ukraine veröffentlicht wurden, sind Bridgets leibliche Eltern amerikanische Staatsbürger.

Sie nutzten die Dienstleistungen des Unternehmens BioTexCom (eine der bekanntesten und größten Kliniken für Reproduktionsmedizin in der Ukraine, A.d.Ü.). 46 Babys, die sich in der Ukraine aufhalten, wurden durch eine Leihmutterschaft über die Vermittlung dieser Firma geboren. [Gemeint ist die Zeit der Grenzschließung für Ausländer wegen der Coronavirus-Quarantäne, A.d.R.]

In demselben Material von ABC bestreitet Albert Totschylowskyj, Besitzer des Unternehmens, die Tatsache, dass die Geschichte mit Brizzy eben in seiner Firma passierte.

Nach der Frühgeburt des Mädchens mit einem extrem geringen Gewicht meldeten die Eltern das Kind an und gaben ihm einen vollen Namen – Bridget Irmgard Pagan-Etnyre.

Doch später weigerten sie sich, sich um das Kind zu kümmern.

Sie schrieben einen Brief, in welchem sie sagten, Bridget befinde sich „in einem vegetativen Zustand und habe keine Chancen, ein normaler Mensch zu werden oder einen mit dem Leben unvereinbaren Zustand zu verlassen.“

„Ärzte empfehlen uns, dass wir jede Behandlung abbrechen, damit sie in Frieden ruhen kann… Wir werden sie nicht nach Amerika holen. Dieses Kind ist unheilbar“, schrieben die Eltern.

In diesem Brief erteilten sie BioTexCom sowie allen Krankenhäusern in der Ukraine die Erlaubnis, sie sofort von lebenserhaltenden Geräten zu trennen.

18 Monate später, als Bridget überlebte und fast zwei Jahre wurde, schickten sie noch einen Brief, in welchem sie bestätigten, dass sie das Kind nicht abholen werden und Erlaubnis zur Adoption gaben.

Seitdem fragten sie nie nach ihrem Kind, wobei Maryna Bojko sich bemühte, den Vater über soziale Netzwerke zu kontaktieren. Er antwortete nicht.

Er weigerte sich auch, Kommentare an ABC zu geben, als sie ihn persönlich wegen eines Kommentars anriefen.

Brizzys Zukunft

Seit der Zeit, als das Video von ABC über sechshunderttausendmal auf YouTube angeklickt wurde, drückten einige ausländische Familien Interesse aus, das Kind zu adoptieren.

Aber bis zum fünften Lebensjahr des Kindes erlaubt das ukrainische Gesetz die Adoption nur Staatsbürgern der Ukraine.

Eine Ausnahme kann nur wegen des Gesundheitszustandes des Kindes gemacht werden, und Brizzy gehört theoretisch zu dieser Kategorie.

Wenn das Mädchen vor dem siebten Lebensjahr nicht adoptiert wird, kommt sie in ein Internat, aber ob ihre Rehabilitation dort fortgesetzt werden kann, ist nicht bekannt.

„Mein größter Traum ist, dass Brizzy, solange es noch nicht zu spät ist, eine Familie bekommt, die bereit wäre, ihr ihre Liebe, Zeit und das wichtigste – Geld zu widmen.

Es sollte nicht verschwiegen werden, dass die Rehabilitation, die sie benötigt, etwas kosten wird“, erklärt Maryna.

Die Quarantäne nahm ihr die Chance zu gehen

Nach dem Film über Brizzy sammelten Zuschauer in Australien sowie Marynas Freunde Spenden für Brizzys Reise ins Kosjawkin-Rehabilitationszentrum in Truskawez, wo Kindern mit Zerebralparese oder Schädigungen des Nervensystems das Gehen beigebracht wird.

Die Reise wurde noch im Herbst 2019 für April gebucht, aber wegen der Quarantäne wurde sie abgesagt. Bis jetzt ist nicht bekannt, ob sie in der näheren Zukunft stattfinden kann.

Die Quarantäne schränkte auch die Kommunikation des Mädchens mit seiner echten Freundin Maryna ein: Im Waisenhaus sind Besuche verboten. Sie sahen sich also seit zwei Monaten nicht.

Maryna versuchte mit ihr per Video in Kontakt zu bleiben, aber das Mädchen wirft das Handy ärgerlich weg. Ihre größte Angst ist, wieder verlassen zu werden.

19. Mai 2020 // Sofija Kotschmar-Tymoschenko

Quelle: Ukrajinska Prawda – Schyttja

Übersetzerin:   Roksoliana Stasenko  — Wörter: 1179

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