Sie zogen aus, um zu töten: Was geht in Lwiw nach dem Angriff auf das Roma-Lager vor sich


Gegen Mitternacht, am 23. Juni, griff eine Gruppe von Menschen in schwarzen Masken mit Messern eine Roma-Siedlung am Stadtrand von Lemberg an. Das war der Telefonanruf, den die Polizisten in Lwiw erhielten:

„Die Polizei erhielt eine Benachrichtigung darüber, dass in einem Waldgebiet am Stadtrand von Lemberg eine Gruppe unbekannter maskierter Personen ein Lager angegriffen hat, in dem Roma leben. Umgehend sind eine Ermittlungs-Task-Force-Einheit, Mitarbeiter anderer Dienste und Polizeieinheiten der Region Lwiw an den Ort der Vorfälle ausgerückt. Die Polizei hat die Straftat gestoppt und sieben am Angriff beteiligte Personen festgenommen.“

Laut Oksana Sanahurska, Oberinspektorin des Büros für Menschenrechte, lebten etwa 15 Menschen im Lager. Unter den Verletzten ist eine 30-jährige Frau, ein 10-jähriger Junge und zwei 19-jährige Männer. Ein Teil der betroffenen Roma befindet sich in einem Zentrum für vorübergehenden Aufenthalt, dessen genaue Lokalisierung niemandem mitgeteilt wird.

„Sie haben die Unterkunft angegriffen, mich geschlagen, er hatte ein Messer und einen Hammer. Wir waren ungefähr zehn Leute und diejenigen, die angegriffen haben, ungefähr auch. Im Lager waren Kinder. Sie haben uns mit Messern angegriffen. Ich kam am Samstag in dieses Lager, und am Abend ist es passiert. Die Angreifer schrien, ‚haut ab von hier’“, berichtete dem ukrainischen Dienst von Radio Liberty der verletzte Radsch Arpad. Der Junge ist gerade im Krankenhaus – er wurde mehrmals mit einem Messer in den Rücken getroffen.

Am meisten beschäftigt Lwiw freilich die Nachricht vom Tod des 24-jährigen David Pap. Er war 23 Jahre alt. David kam, wie die meisten von denen, die in der zerstörten Siedlung lebten, aus Transkarpatien. Nach Angaben des Menschenrechtanwalts der Roma, dem Abgeordneten des Uschhoroder Stadtrats Myroslaw Horwat [Name korrigiert, C.W.], hatte er eine Familie und Kinder, zum Lebensunterhalt sammelte er Altmetall. „Diese Leute kamen aus friedlichen Dörfern nach Lemberg, um zumindest einige Kopeken zu verdienen“, sagte der Abgeordnete. „David war ein gewöhnlicher junger Mann, nur aus einer Roma-Familie. Heute ist David weg. Seine Verwandten und die Dorfbewohner haben Angst, sie wissen nicht, was sie tun sollen. Gestern noch wusste man nichts von ihnen, und heute kennt sie das ganze Land. Sie haben Angst, dass sie morgen erneut überflüssig sind.“

„In deinem Blut ist die Kraft der Rasse“

Die Polizei nahm fast sofort sieben Jungen fest, die mutmaßlich in den Angriff verwickelt waren. Später verlautbarte die Abteilung für Kommunikation der Nationalpolizei die Festsetzung von 14 Personen, die an dem Pogrom beteiligt waren. Unter den Inhaftierten sind der 17-jährige Danylo und der 16-jährige Oleh. Das Gericht hat bereits eine Sicherheitsmaßnahme für sie gewählt – ihnen wurden 60 Tage Haft verordnet ohne das Recht, sich mit einer Kaution freizukaufen. Sie werden belastet nach Artikel 226 des Strafgesetzbuches der Ukraine, Hooliganhandlungen mit ernsten Folgen. Drei weitere wurden ebenfalls in Gewahrsam genommen, ohne das Recht, sich mit einer Kaution freizukaufen. Ihre Eltern sind mit dieser Situation nicht zufrieden: „Das ist alles eine Verleumdung“, sagt die Mutter eines der Inhaftierten. „Sie wurden einfach auf der Straße aufgesammelt, ohne Eltern oder Anwälte zu benachrichtigen. Am Tatort wurde niemand festgenommen.“

Die Polizei stellt ferner fest, dass die Angreifer nicht selbstständig agierten. Sie wurden von einem 20-jährigen Anführer geführt. „Der Organisator des Angriffs verteilte an die Minderjährigen verschiedene Werkzeuge, insbesondere einem einen Hammer, einem ein Eisenrohr, und gab ihnen zu verstehen, dass sie vier Minuten Zeit hätten, um die Zelte der Roma-Siedlung anzugreifen“, heißt es in der Nachricht. Man informierte jetzt den Lwiwer über den Verdacht einer Straftat, eines vorsätzlichen Mordes, begangen von einer Gruppe von Personen nach vorangehender Absprache, § 12 Abs. 2 des Artikels 115 des Strafgesetzbuches.

Inoffizielle Quellen bringen den Angriff mit drei Organisationen gleichzeitig in Verbindung. Vor allem ist dies die nicht registrierte Organisation „Nüchterne und böse Jugend“. In ihrem Telegram-Kanal verbreiten sie Bilder von Nazisymbolen, Zitaten Hitlers, Mussolinis und Donzows (Dmytro Donzow – 1883-1973, Theoretiker des ukrainischen „integralen“ Nationalismus – A.d.R.). Darüber hinaus verteilt der Kanal Postulate der Organisation wie „Sei treu zu Blut und Erde. In deinem Blut ist die Macht der Rasse, in deiner Erde die Gebeine der Ahnen.“ Die letzte Nachricht datiert momentan vom 4. Juni. Die Zugehörigkeit der Angreifer zu dieser Organisation wurde in einem Kommentator für hromadske.tv von der Inspektorin des Büros für die Einhaltung der Menschenrechte der Nationalpolizei der Ukraine Oksana Sanahurska bestätigt. Der russischsprachige Telegram-Kanal „Nüchterne und böse Jugend“ hat gleichzeitig eine Zurückweisung seiner Beteiligung am Pogrom veröffentlicht.

Es sei darauf hingewiesen, dass beide Kanäle Symbole der „Misanthropic Division“ verwenden, die schon im Jahr 2016 die Verantwortung für die Verhinderung des Gleichheitsmarschs in Lemberg 2016 übernommen hatte. Zu den wichtigsten Markern der Organisation gehören Kalaschnikow-Gewehre mit zwei in verschiedene Richtungen blickenden Schädeln, eine Hockeymaske und zwei gekreuzte Baseballschläger.

Die „Nüchterne und böse Jugend“ hatte auch einen eigenen Youtube-Kanal namens Lemberg Jugend. Laut dem Lwiwer Portal Zahid.net erschien der Kanal erst am 21. Juni 2018 und enthielt ein Video, auf dem Jugendliche Romas auf den Straßen von Lwiw verfolgten. Der Kanal wurde inzwischen aus Youtube entfernt. Der Lemberg-Jugend-Telegramkanal richtete sich hauptsächlich gegen Angehörige der linken Gruppierungen „Schwarzes Banner“ und „Autonomer Widerstand“. Der Kanal ist nur eingeschränkt zugänglich und die darin enthaltenen Informationen werden nicht aktualisiert.

Das menschliche Leben ist der größte Wert

In Lemberg kommt es beinahe jeden Sommer zu einer Verschärfung der Situation um die Roma. Gerade in dieser Zeit jetzt kommen die Roma aus anderen Gebieten auf der Suche nach Verdienstmöglichkeiten her und lassen sich spontan in den Wäldern und am Stadtrand nieder – solange es draußen warm ist, ist dies möglich. 2016 wurde in Lwiw über das Betteln unter den Roma diskutiert, 2017 schlug der Abgeordnete des Lemberger Stadtrats Ljubomyr Bosanewytsch vor, alle Roma aus Lwiw nach Transkarpatien zu überführen. Im Januar 2018 hat sich die Situation in der Öffentlichkeit entfaltet mit der Bildung der Gemeinschaft „L.O.V.Z.I“ („Lwiwer Organisierte Erzieherische Zivile Initiative“, über Facebook organisierte Nazigruppe in Lwiw, die Abbreviatur kann mit Jäger oder Fänger übersetzt werden, A.d.R.), deren Zweck es war, Rechtsbrüche aufzuspüren und der Polizei zu helfen. Allerdings lief die gute Sache darauf hinaus, dass die Gruppe Volksverhetzung betrieb und zu Radikalisierung aufstachelte. Im Mai 2018 steckten Unbekannte in der Bahnhofsgegend der Stadt ein Roma-Lager in Brand. Damals gelang es den Opfern, zu entkommen, aber die Schuldigen wurden nicht bestraft.

Der Bürgermeister von Lwiw Andrij Sadowyj rief die Polizei auf, eine gute Untersuchung vorzunehmen und die Bürger von Lwiw, geduldig zu sein: „Ich bitte Sie, dieses Bild klar wahrzunehmen, bevor Sie Kommentare im Stil ‚So gehört es sich für sie’ zu schreiben. Die Geschichte zeigt, dass der Abstand zwischen einem zivilisierten menschlichen Wesen und einer seelenlosen Bestie klein ist.“ Außerdem wurde in der Lwiwer Bildungsabteilung angewiesen, Elterntreffen in allen lokalen allgemeinbildenden Schulen über die Beteiligung von Jugendlichen bei dem Pogrom abzuhalten.

Zu Geduld und Toleranz riefen auch Vertreter Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche auf, indem sie eine offizielle Erklärung veröffentlichten. Die UHKC war die erste Konfession, die auf das Pogrom im Roma-Lager reagierte. Manche Leute reagierten in Kommentaren negativ auf die Erklärung, und verwiesen auf ihre eigenen Erfahrungen über Beziehungen mit Romas. Ein Erzpriester der UHKC, Pater Ihor Jaziw, sprach, das Ziel der Erklärung sei es nicht gewesen, jemanden zurechtzuweisen, sondern darauf hinzuweisen, dass Ermordung und Überfall unchristliche Methoden der Klärung von Problemen seien. „Das Menschenleben ist der höchste Wert“, sagte der Pater. „Wir mussten diese Erklärung nicht deswegen machen, um eine größere öffentliche Resonanz zu erzielen, sondern um uns diese Erscheinung als eine Radikalisierung der Gesellschaft bewusst zu machen. Dies ist ein gefährlicher Trend in der Ukraine. Die Kirche musste ihre eigene Vision der Probleme äußern, diejenigen Leute, denen unsere Meinung wichtig ist, zu Toleranz aufrufen, darauf zu achten, dass alle Menschen unterschiedlich sind. Das, was die Ukrainer untereinander entzweit, das spielt in die Hand des äußeren Feindes.“

Bürgeraktivisten und Kulturakteure der Stadt reagierten auf das Pogrom im Roma-Lager ziemlich einmütig. So erklärte beispielsweise der Kulturwissenschaftler und Ukrainist Radko Mokryk auf seiner Facebookseite: „Wenn nicht der Staat die Gerechtigkeit regelt, der das Gewaltmonopol innehaben soll, sondern jemand anderes – dann kann so eine Gerechtigkeit leicht in ein ‚Dschungelgesetz’ verwandelt werden. Du bemerkst das bloß nicht, solange du auf der stärkeren Seite stehst.“ Die Hauptredakteurin des ‚Verlages des Alten Löwen’ Marjana Sawka schreibt: „Können sich die Mütter der Kerle diesen Horror vorstellen, wenn ihre Kinder, von ultraradikalen Ideen inspiriert, bewusst losgehen, um Menschen umzubringen, egal, was für eine Nationalität oder welchen Lebensstil sie haben?“ Der Mitbegründer des Bildungszentrums für Menschenrechte in Lwiw Wolodymyr Bjehlow stellt zugleich die nicht sehr rhetorische Frage: „Warten wir noch auf einen weiteren Mord während irgendeiner Vorlesung?“

Gleichzeitig ist die Reaktion der Facebook-Nutzer in den populären Lwiwer Communities nicht so klar. Einige Lemberger verurteilen den Überfall und stellen fest, dass an ihrer Stelle irgendjemand anderes sein könnte. Einige sympathisieren mit den Angehörigen des Verstorbenen, aber weiterhin beschuldigen sie die Opfer aufgrund ihrer eigenen oder ihnen weitergetragenen negativen Erfahrungen. Andere verurteilen offen die Lebensweise und das Verhalten einiger Vertreter der Roma-Gemeinschaft und sind über sie empört.

Die Roma-Menschenrechtlerin Semfira Kondur sagt, dass die negative Reaktion und die offene Diskriminierung der Roma keine nur auf Lwiw beschränkte Situation darstellt. Ihre Worte werden durch das Roma-Pogrom im Gebiet von Odessa, Angriffe auf Roma-Siedlungen in Kiew und Ternopil bestätigt. David Pap war nicht der erste ermordete Roma – früher wurde in dem Dorf Wilschany bei Charkiw der Älteste der lokalen Roma-Gemeinschaft getötet, Mykola Kaspizkyj. Der einzige Unterschied ist, dass ein Roma diesmal nicht zufällig während eines Straßenkonflikts getötet wurde. Die Kinder sind absichtlich losgangen, um zu töten.

„Für viele war der Fall von Lwiw schockierend angesichts des Alters der Angreifer – das sind junge Leute, die andere Menschen töten wollten“, sagt Semfira Kondur. „Es wäre schön, wenn alles mit der Polizeiermittlung und dem Gerichtsverfahren enden würde. Radikale Gruppen verstärken jedoch nur ihre Aktivität. Jetzt verbreiten sie gefälschte Nachrichten über andere Überfälle, darüber, dass Roma Drogen verteilen. Sie appellieren ständig an einige ‚gewöhnliche Menschen‘, die sie um Hilfe bitten. Aber Überfälle und Pogrome sind eine Verletzung der Menschenrechte.“

„Auf der anderen Seite muss man mit der ukrainischen Gesellschaft arbeiten. Wenn eine Person eine richtige Ausbildung und Arbeit hat, wird sie nicht umherziehen und unter den Bedingungen leben müssen, unter denen die Roma jetzt leben. Auch die Roma müssen sich diesem anschließen, erzählen, wer sie sind, was sie sind. Vielleicht wird dann wirklich jeder für die Welt offen sein.“

26. Juni 2018 // Anastassija Iwanziw

Quelle: Lewyj Bereg

Übersetzer:    — Wörter: 1738

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