Zwei Welten einer Fußball-EM
Vor kurzem konnte ich mich überzeugen, welche Einstellung zur Euro-2012 in Polen herrscht. Der Unterschied zur Ukraine ist frappierend.
Polen empfinden die EM wie ein Sportfest, sind stolz auf ihr Land, auf neue Stadien, sie diskutieren über die unbestimmten Perspektiven ihrer Nationalmannschaft. Massenmedien, Werbung, Schaufenster polnischer Geschäfte, Gespräche auf den Straßen – all das zeugt davon, dass Polen der EM entgegenfiebern, der so genannte piłkoszał (Fußballfieber) breitet sich aus.
Ukrainer hingegen schauen verbissen auf die Perspektive, dass das Land bald Tausende von Fußballfans überfluten („Kommen hier welche!“), diskutieren über Einkommen von den Unternehmern und Machthabern, die sich an Vorbereitungen bereichert haben, schätzen sehr kritisch die Bereitschaft der Infrastruktur, überlegen, ob ein Boykott der Ukraine sinnvoll wäre, und denken nach, wohin man so verschwinden könnte für die Zeit der EM.
Ich vereinfache und verallgemeinere einiges absichtlich, aber es gibt keine Zweifel, dass der Unterschied in den Einstellungen zur EM-2012 zwischen der Ukraine und Polen gigantisch ist. Und dieser Unterschied entstand, noch lange bevor diese Meisterschaft zur Geisel der Politik gemacht wurde.
Was bildet die Grundlage dieses Unterschiedes? Bekommt etwa ein Bürger in Polen im Durchschnitt mehr in seine Tasche / an die Hand als ein Bürger in der Ukraine? Gab es keinen Missbrauch während der Vorbereitungen in Polen? Und nennen Sie mir bitte ein Land, wo es keinen Missbrauch im Zuge der staatlichen Ausschreibungen für Bauprojekte gibt! Oder, vielleicht, mögen polnische Bürger ihre Regierung und vermeiden es, an ihr Kritik zu üben?
Ich bin sicher, dass diese Fragen mit „nein“ beantwortet werden. Von Anfang an war der ukrainische EM-Enthusiasmus viel bescheidener, und während des letzten Jahres verschwand er überhaupt.
Die Gründe sind tiefer zu suchen, als es auf den ersten Blick zu sein scheint. Die Ukrainer identifizieren sich im großen Maße nicht mit ihrem Land. Das Land identifiziert sich eher mit seiner Regierung.
Warum ist es so? Ukrainer sind an fremde Regierungen gewohnt, die ihnen „von oben“ aufgezwungen wurden, und eben deswegen sind sie ihrer Verantwortung für die eigene Regierung und ihre Taten nicht bewusst. Die Tradition von „wir und sie“ ist keine europäische Tradition, dies ist eine euroasiatische Tradition des unterjochten Lebens, des Lebens unter Besatzung. Deswegen neigen wir zur Sichtweise, die man mit dem Motto beschreiben kann „je schlechter, umso besser“.
Und noch. Ukrainische Identifikation ist sehr oft örtlich gebunden, regional, ethnisch schmal. So eine Identifikation entspricht eher den Einstellungen aus dem 18. Jahrhundert, nicht denen aus dem 21. Das Land scheint moderner zu sein als seine Bürger.
Im 18. Jahrhundert hatten wir kein eigenes Land, also sind wir nicht den langen Weg gegangen, bekamen aber aus dem Nichts eine moderne parlamentarische Republik mit allgemeinem Wahlrecht, ohne das im Laufe von Jahrhunderten gegen Autokratie, Oligarchie, Wahlzensur und Standprivilegien erkämpft zu haben.
Also, in solchen Kategorien denkend, ist es nun überhaupt möglich für uns, eine verantwortungsvolle Regierung zu bekommen und Respekt seitens der Nachbarn – sei es Europa oder Russland – zu erreichen?
Wir sind nicht fähig, ein Land zu werden, solange wir uns selbst nicht mit der Ukraine, sondern mit Galizien, dem Donbass, der Krim oder Kiew identifizieren. Solange wir uns unserer eigenen Verantwortung nicht bewusst sind für das Parlament, die Regierung und Präsidenten, die wir selbst gewählt haben. Ja, wir selbst, nicht irgendwelche bösen Onkel aus einer anderen, fremden Region.
Wir waren es doch, die für die Partei abgestimmt haben, die nun stapelweise Abgeordnetenkarten aufstockt.
Wir waren es, die für die Partei abgestimmt haben, deren Liste von Überläufern voll war.
Wir waren es, die gegen alle gestimmt haben oder einfach nicht zur Wahl gegangen sind.
Wir selbst haben keine gesellschaftliche Nachfrage nach neuen Menschen geschaffen.
Aus diesem Grund müssen wir alles Mögliche tun, damit Tausende von EM-Gästen, die zu uns kommen, sich wie zu Hause fühlen. Schließlich werden sie die Ukraine mit uns und nicht mit der Regierung identifizieren.
Von uns hängt alles ab, in keinster Weise von der Regierung. Lasst uns zusammen für unsere Nationalmannschaft mitfiebern, alle zusammen – der Donbass und Galizien, Kiew und die Krim. Selbst wenn die Fußballchancen der ukrainischen Elf nicht die besten sind. Lasst uns uns endlich wie eine Nation fühlen, die nicht durch Sprache oder Geschichte vereint ist (denn wir haben verschiedene Sprachen und ein unterschiedliches historisches Gedächtnis), sondern durch ein gemeinsames Zukunftsprojekt.
Und lasst uns nicht vergessen: nach UEFA-Regeln kann die EM nur von einem europäischen Land ausgetragen werden.
30. Mai 2012 // Walerij Pekar
Quelle: Ukrajinska Prawda