Ein Weg für die Überlebenden


Immer öfter kehre ich zurück in meine Vergangenheit, zu meinen teuren Freunden, die noch leben und von ihrer traurigen Zukunft noch so gar nichts ahnen. Da, bei der Baracke dort, da seh‘ ich sie: den lächelnden Dmitrij Bassarab, Jewgenij Prischlak ganz konzentriert, Ionas Matusewitschus etwas gebückt… In der Zone, da wollte ich ein Drama schreiben über Sisyphus, der seinen Stein auf die Bergspitze gerollt hatte. Über den verlorenen Sisyphus, dem der Sinn des Lebens abhanden gekommen ist. Ich hab’s nicht gemacht… Nicht geschafft. Geschrieben habe ich aber viel. Täglich. Immer.

Ich habe überlebt. Aber die anderen, die gibt’s nicht mehr. So nah waren sie mir, so unverzichtbar. Hingehen, sie umarmen und gemeinsam schweigen. Mit jemandem schweigen zu können, ist ein großes Glück. Einfach nur schweigen. Nicht sprechen, nicht über ihren baldigen Tod, nicht über die unmenschliche Folter in der Straf-Zone (ja, Pidgorodezkij, der wusste von seinen 37 Jahren Knast und Lager auch nichts). Ich habe überlebt, aber das Siysyphus-Drama immer noch nicht geschrieben. Vieles andere schreibe ich, täglich, immer. Ich bin dazu verpflichtet, weil ich überlebt habe. Damit sie nicht in Vergessenheit geraten.

Wer hat gewonnen? Stalin oder Breschnew? Oder etwa die alten Lagerinsassen, deren Jugend im Gulag begann? Eines weiß ich mit Sicherheit: Der Tyrann gewinnt dann, wenn sich auf den Gräbern der Opfer namenlose Hügel befinden. Ich bin ein Überlebender, stelle die Schilder auf, zur Erinnerung. So wie ich’s kann, wie ich’s weiß. Mit Herz und Verstand. Und die anderen Schilder, die auf einen mit Unkraut zugewachsenen Weg zeigen, einem Weg für die Lebenden. Für die gedächtnislosen, verlorenen Lebenden, die dem Führer immer treu sind. Ich lebe in einem gedächtnislosen Land.

Immer öfter kehre ich in die Vergangenheit zurück. Zu denen, die gesiegt haben, über sich selbst, ihr Leben, ihre Angst. Jahre des Widerstandes verbrachten sie in Wäldern und Bergen, in Erdlöchern bei Nacht, dann 25 Jahre Haft in Gefängnissen und Lagern. So sah es aus, ihr Leben. Einfache Leute, nicht sehr gebildet, wenig belesen, wollten sich keiner Geschichte widmen. Schwer hab‘ ich’s ohne sie in diesem gedächtnislosen Land. Sehr schwer. Ich bin immer noch der Fremde, der Einsame. Wie auch damals, vor meinem Arrest und der Verurteilung im Jahr 1972. Verurteilt: Ein fremder, einsamer, nicht mehr ganz junger, russischsprachiger Jude, der sich selbst als Ukrainer sieht. Die alten Lagerinsassen – das waren meine Leute.

Der weise Camus hatte davor gewarnt: Kehre nie dahin zurück, wo du deine Jugend verbracht hast. Aber ich kehre immer häufiger dorthin zurück, immer öfter und öfter. Keine Träume, sondern Erinnerungen. Nicht, weil ich die Chroniken der Zone WS 389/35 lese, sondern ich hab‘ die geschrieben, ich hab‘ den Abtransport in die Freiheit vorbereitet. Erinnerungen, die sind am ehrlichsten. Die eigenen, subjektiven Erinnerungen. Ich bin kein Historiker, das sind meine subjektiven Erinnerungen. Ich lebe auf dem Friedhof? Ja, kann sein. Auf einem Friedhof mit bespuckten Gräbern, wo ich Schilder aufstelle. Eine sehr eigenartige Tätigkeit, der ich da nachgehe – sich erinnern, schreiben und Schilder aufstellen.

Camus hat über Sisyphus geschrieben. Ein großartiger Text übers Heldentum. Aber er blieb unveröffentlicht in der SU. Alber Camus war kein „Anti-Sowjet“. Er zerstörte die Grundlage totalitärer Ideologien. Die der Nazis und der Sowjets. 1972 warf man mir anti-sowjetisches Verhalten vor und propagandistisches Lesen und Verbreiten der Werke Alber Camus. Ja, so ein Land war das. Eines, das Angst hatte vor Camus und seinem Sisyphus.

Soll ich mein Sisyphus-Drama noch schreiben? Ich bin mir nicht sicher.

20. Januar 2012 // Semjon Glusman – Arzt, Mitglied des Kollegiums des Staatlichen Gefängnisdiensts der Ukraine

Quelle: Lewyj Bereg

Übersetzerin:   Maria Ugoljew  — Wörter: 596

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