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Das Goldene Zeitalter

1 Kommentar
Goldenes Zeitalter Petro Poroschenko

Der achte Höllenkreis, der vierte Graben. Der raffinierte Dante setzte hierhin die Sünder mit Gesichtern, die zurückblicken. Unglückliche, die nur das sehen können, was sich hinter ihrem Rücken befindet.

In den vorherigen Jahren wurde dieses trübe Muster auf die Gegner der Ukraine im hybriden Krieg projiziert. Leute mit Gesichtern, die zurückblicken, verachtenswerte „Sowjetleute.“

Gefangene der eigenen Nostalgie, welche die moderne Realität zurückweisen. Verehrer des dahingeschiedenen Imperiums, die dem verlorenen „Goldenen Zeitalter“ nachtrauern. Leidende, die im Gestern leben.

Uns schmeichelte, dass der Kampf um eine subjekthafte Ukraine der Kampf zwischen dem Gestern und dem Morgen war. Und wir haben nur selten darüber nachgedacht, dass der ukrainische Auftritt auf der Seite der Zukunft in vielem situativ ist.

Dem imperialen „Goldenen Zeitalter“ konnte das nationale einfach nicht standhalten: ferne und flüchtige Projekte von der Art der Ukrainischen Volksrepublik oder dem Hetmanat eigneten sich für diese Rolle offensichtlich nicht.

Patriotische Ukrainer mussten nach vorn schauen, denn hinter ihnen lag keine greifbare und zur gleichen Zeit attraktive Vergangenheit.

Doch am 20. Mai 2019 tauchte so eine Vergangenheit auf. Sie tauchte für Zehntausende unserer Landsleute auf, die Pjotr [Petro] Poroschenko unterstützten und die Ankunft Selenskijs [Wolodymyr Selenskyj] als nationale Katastrophe auffassten.

Von nun an hat dieser Teil der Gesellschaft sein verlorenes „Goldenes Zeitalter.“ Das eigene nostalgische Ideal, vor dessen Hintergrund die aktuelle Realität Verachtung und Ekel hervorruft.

Das eigene Analog zum „köstlichsten Eis“, dem „belesensten Land“ und dem „Staat, der überall in der Welt geachtet wurde.“

Die Epoche Poroschenko erstreckte sich auf weniger als ein Viertel des sowjetischen Stillstands [gemeint ist die Breschew-Ära, A.d.Ü.], doch vermochte sie es eine Vielzahl der aktiven Bürger zu begeistern, die weiter unsere öffentliche Agenda prägen. In ihren Augen wurde die Ukraine der Jahre 2014-2019 zu einer Referenz für das wahre Ukrainertum.

Sich nicht mit der Niederlage abfindend, sind sie dazu verdammt, stetig aufs Neue zurückzublicken.

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Den Patrioten, welche die UdSSR hassen und den Abgang Pjotr Alexejewitschs [Poroschenko] beweinen, wurde eine einzigartige Möglichkeit gewährt: auf das Leben mit den Augen ihrer langjährigen Gegner zu schauen. 1991 und 2019 gebaren eine Masse gleichlautender Gedanken und Emotionen. Von ihrer Natur her verschieden seiend, schaffen die an der Niederlage krankenden zur Verwunderung ein ähnliches Weltbild.

Beginnen wir damit, dass das Ende des „Goldenen Zeitalters“ als absolut irrational und widernatürlich erscheint. Objektive Vorbedingungen der Vorgänge werden vom Prinzip her nicht betrachtet.

Als einziger Grund für den Zusammenbruch werden eine massenhafte Geistestrübung, vervielfacht durch feindliche Ränkespiele gesehen.

„Idioten haben das große Land gegen amerikanischen Kaugummi und Jeans getauscht!“ – von seinem Inhalt und Klang her ist diese klassische These äußerst nah am aktuellen „Idioten haben die starke, unabhängige, europäische Ukraine gegen einen Kleinrussenclown getauscht!“

Bemerkenswert ist, dass in beiden Fällen eine besondere Rolle dem Einfluss der zersetzenden Massenkultur zukommt. Vulgäre Hollywoodkomödien und geistlose Actionfilme mit Stallone und Schwarzenegger, das „95 Kwartal/Quartal“ [Firma von Selenskijs, A.d.Ü.] mit seinem minderwertigen antinationalen Humor – das ist die teuflische Flöte des Rattenfängers, die Millionen Normalbürger vom wahren Weg abbrachten.

Harte Vorwürfe werden auch dem Intellektuellenstand präsentiert. Der sowjetischen Intelligenz, die eben das sowjetische System kritisierten. Den ukrainischen „Verratsanhängern“, die Präsident Poroschenko angriffen.

All dieses schädliche Publikum lässt sich gedanklich in zwei Kategorien teilen. Erstens in bewusste Agenten des Feindes, die das Land für das Geld Washingtons oder Moskaus zerstören. Zweitens in kurzsichtige Idealisten, die den unidealen Staat beschimpfen, um ein alptraumartiges Ergebnis zu erhalten. Und wenn mit den Ersteren ein Dialog ausgeschlossen ist, so wird den Letzteren sarkastisch zugerufen: „Und nun, zufrieden?!“

Die Realität, die das „Goldene Zeitalter“ ablöst, wird lediglich in einer Weise wahrgenommen: als unvermeidliche Degradation.

Die universale Degradation des Landes und der Gesellschaft. Stolz wird von Erniedrigung abgelöst, Stabilität mit Krisen, Leistungen und Siege mit der Preisgabe von Positionen.

Der Kontrast zwischen dem Erhabenen und dem Niedrigen, der die prosowjetische Öffentlichkeit in den 1990ern empörte, lässt sich ohne Mühe in der heutigen Ukraine entdecken.

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Statt der Eroberung des Kosmos, lebhaften Pionieren und einer großen Kultur – Krämergeist, Sex und Pop.

Anstelle der feierlichen Triade „Armee. Sprache. Glaube“ [Wahlkampflosung von Poroschenko, A.d.Ü.] – Schriftverkehr eines Abgeordneten mit einer Prostituierten, Pläne zur Legalisierung des Glücksspielbusiness und die Verwandlung der Politik des Präsidenten in eine groteske Show.

Die Geschehnisse verfolgend, ist der nostalgische Teil der Gesellschaft hin und her gerissen zwischen Schadenfreude und brennender Kränkung für den Staat.

Irgendwelche Lichtblicke sind in diesem trüben Bild nicht vorgesehen. Neue Schwünge können Apriori nicht aussichtsreich und wohltätig für das Land sein. Und jedes Stückchen Positiv wird als Erbe der Vergangenheit interpretiert, welches die Elends-Reformatoren und Vaterlandsverräter noch nicht zu zerstören vermochten.

Es versteht sich, dass ein derartiger Blick auf die Dinge keinerlei anderes Programm vorsieht, als das sakrale „Macht alles rückgängig!“ Als Alternative für das postsowjetische Dasein wird eine Restauration der UdSSR gesehen.

Als Alternative zu Selenskij wird die Rückkehr der richtigen Ukraine gesehen, die bis zum Sieg von Wladimir Alexandrowitsch existierte.

Die Suche nach anderen Lösungen und Entwicklungsstrategien wird aufgrund von Unzweckmäßigkeit nicht geführt. Von welchen Strategien kann die Rede sein, wenn das „Goldene Zeitalter“ bereits seinen Platz hatte und wir das Glück hatten in diesem zu leben?

Den einzigen Einwand, den Nostalgierende zu machen bereit sind, ist eine mögliche verschärfte Restaurierung des Vergangenen. „Man muss mit ihnen härter umgehen!“

Die den Breschnew’schen Stillstand Beweinenden träumen nicht selten von einem neuen Stalin, der wahrscheinlich keine Wiederholung der Perestroika zulässt. Und die dem Präsidenten Poroschenko Nachtrauernden denken immer öfter über eine Militärdiktatur nach, die der Bevölkerung bestimmt nicht erlaubt den nächsten Se[lenskij] zu wählen …

Nun, dann bleibt lediglich die bittere Ironie des zu beobachtenden in der Ukraine zu bewerten.

Die brennende Sehnsucht nach der Vergangenheit hat eben den Teil der Gesellschaft erfasst, der immer stolz auf seine Fortgeschrittenheit und Bereitschaft zu Veränderungen war.

Noch vor kurzem waren diese Leute kühne Visionäre und Futurologen. Sie spürten den Geschmack der Geschichte, stellten Betrachtungen über den Umbau des Landes an, identifizierten sich mit der neuen Epoche.

All ihre Gedanken und Gefühle waren auf den morgigen Tag gerichtet. Und jetzt verwandelten sie sich in leidende Dante’sche Gestalten, deren Gesichter rückwärts gewandt sind.

Übrigens wird die Ironie noch größer, wenn man sich der Erstquelle besinnt: der Autor der Göttlichen Komödie bereitete diese Strafe für eitle Wahrsager vor, die versuchten in die Zukunft zu blicken.

9. November 2019 // Michail Dubinjanskij

Quelle: Ukrainskaja Prawda

Übersetzer:   Andreas Stein — Wörter: 1047

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Artikel bewerten:

Rating: 6.0/7 (bei 2 abgegebenen Bewertungen)

Kommentare

#1 von Anonymous
Sehr interessanter Artikel.
Wie ein kostbarer Kreml-Komet der auf die Ukraine-Erde gefallen ist.
Seine psychologische Analyse der Micro-Memen und etc. würde aber sehr lange dauern.
Dafür fehlt mir hier die Zeit.
Aber die feindliche Ironie des Artikels ist beißend.
Das hat NICHTS mit (inner-ukrainischen) Solidarität zu tun.
Die Ära Porochenko mag wohl nicht mit Ruhm bekleckert sein.
Genauso wenig wie die sowjetischen Niederlagen in den Jahren 1941-43.
Und trotzdem verdient die Porochenko-Administration Respekt.
Es hat die faschistische Aggression (diesmal zur Abwechslung aus dem (Nord)Osten) aufgehalten wie es halt konnte.
Das ein so armes Land wie die Ukraine in Zeiten des (hybriden) Krieges nun mal
in der sozial-ökonomischen "Front" wohl auf ganzer Linie verliert ist genauso klar
wie eine Niederlage der Sowjetunion, falls auch Japan 1941 massiv in Sibirien eingefallen wäre.
Um mein WW-2-Gleichnis hier zu vollenden:...

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