Fünf mutige französische Jungs stehen an einer Hauswand. Zwei behalten die Straße im Auge, der Dritte hält einen Farbeimer, der Vierte ist mit seinem Rücken die Leiter für seinen Kumpel und der Fünfte malt das verbotene Wort Frieden auf den Putz. Um die Ecke ist eine Antikriegsdemonstration zu sehen, die gerade von der bürgerlichen Polizei auseinandergejagt wird. So sieht das Gemälde Für den Frieden! von Reschetnikow aus, ein Musterexemplar des Sozialistischen Realismus. Heute kann man sich die Szenerie genauso gut in Russland vorstellen. Für das klassische sowjetische Plakat „Frieden für die Welt“ werden Demonstranten von der Polizei verhaftet. Im Staatsfernsehen wird dafür mit Begeisterung von Nuklearschlägen gegen Amerika und radioaktiver Asche fantasiert.
Mit der Aussage, dass sich Russland unter Putin in eine zweite UdSSR verwandelt, überrascht man heute niemanden mehr. Aber die erste, die ursprüngliche UdSSR hätte sich keinen so offenen Militarismus, Chauvinismus und Fremdenfeindlichkeit erlaubt. Während der Sowjetstaat bemüht war, sich mit Friedenstauben und Olivenzweigen zu bemänteln, protzt Russland stolz mit seinen Waffen. Während die UdSSR die dunklen Seiten ihrer Geschichte verschwieg, verteidigt Russland sie und rechtfertigt die Gewaltherrschaft, die Massenrepressionen und den Tod von Millionen von Menschen. Die Feigenblätter des Pazifismus und Humanismus sind abgefallen, sie werden nicht mehr gebraucht. Alles was die Sowjetunion noch verschämt zu maskieren versuchte, stellt Putins Reich ohne jede Skrupel zur Schau.
Entgegen der weitverbreiteten Meinung arbeiten Russlands Lenker nicht an einer Neuerrichtung der Sowjetunion. War die sowjetische Ideologie ein Exportprodukt, ist Putins Werk ausschließlich für den heimischen Markt bestimmt. Dieser prinzipielle Unterschied erfordert ein anderes Vorgehen und anderen Entscheidungen. Die ruhige UdSSR strebte danach, weltweite Vorherrschaft zu erlangen und die Erde nach eigenen Vorstellungen umzugestalten. Es war unmöglich, dies ausschließlich durch Waffengewalt zu erreichen, und so stürzte sich der Kreml in einen Kampf um die Herzen der Menschen. Das sowjetische Regime war auf ein Millionenheer von Unterstützern im Ausland angewiesen. Ununterbrochen wurde betont, dass die UdSSR die Interessen der Arbeiter auf der ganzen Welt verteidigt. Das sozialistische Modell wurde als Muster zur Nachahmung angeboten, was dem Sowjetstaat reale oder angebliche Spitzenleistungen auf allen Gebieten abforderte. Obwohl die UdSSR de-fakto ein Imperium war, schreckte sie vor dem martialisch klingenden Wort „Imperium“ zurück. Aggressionen wie in der Tschechoslowakei 1968 und in Afghanistan 1979 haben dem Image des Kremls einen schweren Schaden zugefügt und rückten seine Niederlage im Wettstreit mit dem Westen näher. Bereits in den Jahren des Stillstands wurde es offensichtlich, dass die Sowjetunion den ideologischen Kampf verloren hatte. Der Rückstand gegenüber der westlichen Welt trat zu offen zu Tage, die kommunistischen Losungen klangen falsch und Unterstützer der UdSSR im Ausland wurden immer mehr zu einer marginalen Randgruppe. Der sowjetische Mythos war diskreditiert und kein adäquater Ersatz war in Sicht.
Das heutige Russland hat es nicht auf Weltherrschaft abgesehen, es gibt sich damit zufrieden, seinen Einfluss als Regionalmacht zurückzugewinnen. Zur Selbstbestätigung reicht es ihm vollkommen, seine schwächeren Nachbarn zu schikanieren und sich am eigenen Draufgängertum zu berauschen. Putins Projekt verfolgt lokale Ziele und ist nicht empfänglich für internationale Tendenzen. Moskau braucht keine internationale Unterstützung – im Gegenteil, von der ganzen Welt als Reich des Bösen angesehen zu werden, kann durchaus schmeichelhaft sein. Es ist völlig überflüssig, um irgendwelche Sympathien im Ausland zu werben: der russischen Mythologie zufolge ist die restliche Welt nicht von Arbeitenden, sondern von geistlosen Perversen bevölkert. Führende Leistungen in Wissenschaft, Technik, Wirtschaft und Gesellschaft sind auch nicht nötig. Das Zurückbleiben hinter Europa und den USA wird nicht als zivilisatorische Niederlage Russlands gesehen. Umso besser es dem verfeindeten Westen geht, desto tiefer wird der russischer Provinzler ihn hassen und sich selbst im Recht fühlen.
Das sowjetische Projekt brauchte einen „neuen Sowjetmenschen“, so ein heiliges kleines Jesuskind, das zu den unterdrückten Schwarzen und den landlosen Bauern von Granada hält. Der selbstvergessene Träumer, der bereitwillig für das Glück Anderer schuftet und jede Unannehmlichkeit für eine bestimmte große Mission in Kauf nimmt, war das Vorbild. Aber die menschliche Natur lässt sich nicht so einfach umformen. Der kommunistische Homunculus ließ sich in der UdSSR nur schwer heranzüchten und sein Bestand blieb zahlenmäßig hinter den Erwartungen zurück. Nach Chruschtschow wurde die Erschaffung eines „neuen Menschen“ schließlich ganz aufgegeben, von der Bevölkerung wurde keine hohe ideologische Entwicklung mehr verlangt, sondern nur noch Anpassung. Das System begann sich von innen heraus zu zersetzen und zu zerstören, mit allen resultierenden Konsequenzen.
Putins Projekt benötigt keinen „neuen Russen“ und zwingt der Bevölkerung keine künstlichen moralischen Leitlinien auf. Es ist auf den durchschnittlichen Spießbürger ausgerichtet, so beschränkt, selbstverliebt, neidisch und aggressiv wie er ist. Es fördert ganz natürliche menschliche Eigenschaften, wenn auch nicht die allerbesten.
Der Spießer will nicht auf andere Menschen Rücksicht nehmen und sich in ihre Lage hineinversetzen. Putins Herrschaft stillt seinen Egozentrismus. Allein weil er seit seiner Geburt Russisch spricht und ein orthodoxes Kreuz auf seiner Brust trägt, kann er sich als Nabel der Welt fühlen. Und die ganzen liberalen Toleranzaffen können ihm gar nichts.
Der Spießer hat eine Abneigung gegen Menschen, die ihm nicht ähnlich sind. In Russland kann er all den Schnorrern aus der Ukraine und dem Baltikum, den Kanaken und den anderen, nicht als vollwertig angesehenen Nachbarn, seine Verachtung offen zeigen. Der Spießer ist neidisch auf die, die reicher sind als er. Seine Abneigung gegen die gut situierten Amis und Euroschwuchteln wird vom russischen Staat ganz und gar befürwortet.
Der Spießer will auf seine eigene Person stolz sein, auch ohne jeden Grund dafür zu haben. Putins Reich versorgt ihn mit den ersehnten Vorwänden für diesen Stolz. Selbst wenn du keine persönlichen Erfolge vorzuweisen hast, selbst wenn dich nichts von der grauen Masse unterscheidet, selbst wenn du schwach und glücklos bist, aber dafür sind WIR siegreich! WIR haben 2008 die armseligen Georgier geschlagen und die feigen ukrainischen Bandera-Banditen schlagen wir 2014. WIR pfeifen auf Europa und Amerika! WIR haben uns unsere Krim zurückgeholt, und jetzt holen wir uns den Donbass! Das Leben des einfachen Russen ist gelungen…
Missgünstige Kommentatoren, die Russland mit der Sowjetunion der trostlosen Stillstandsjahre vergleichen, prophezeien Putin ein noch schnelleres und schmählicheres Ende. Wie gerechtfertigt sind solche Prognosen?
Die Sowjetunion ist zusammengebrochen, gerade weil sie ihren Großmachtstatus nicht akzeptiert hat und sich bis zuletzt an internationalistischen und sozialistischen Sonntagsreden festgeklammert hat. Diese Trägheit hat verhindert, dass rechtzeitig marktwirtschaftliche Reformen durchgeführt wurden und die UdSSR sich in eine autoritär regierte kapitalistische Supermacht wie China transformiert. Und als in sowjetischen Geschäften selbst die Wurst ausging, hatte die Führungsschicht nichts mehr in der Hand, um die unzufriedene Bevölkerung abzulenken oder zu begeistern. Sie hatten nichts mehr im Vorrat außer den steinalten Idealen, die schon lange nicht mehr ernst genommen wurden und keine Verbindung zur sowjetischen Realität hatten.
In Putins Russland gibt es absolut genügend Wurst, dafür funktioniert der Markt gerade gut genug. Falls sich die Wurstsituation durch westliche Bemühungen aber drastisch verschlechtern sollte, hat der Kreml etwas, was er dem Volk als Ersatz anbieten kann. Und zwar keine seltsamen Formeln über Lenin und internationale Arbeitersolidarität, sondern Werte, die tatsächlich die Mehrheit der Bevölkerung ansprechen: unverhohlene Aggression, Fremdenhass, eine Kultur der Stärke und ein Überlegenheitsgefühl gegenüber Schwächeren.
So sehr wir auch gerne etwas anderes glauben würden, das Russische Reich der 2010er Jahre wirkt stabiler als das sowjetische der 1980er Jahre. Es ist weitaus natürlicher und deswegen lebensfähiger. Natürlich bedeutet das nicht, dass das russische Regime für die Ewigkeit gemacht ist und nicht zu stürzen ist. Einen baldigen Zusammenbruch wie den der Sowjetunion sollte man allerdings nicht erwarten.
17. April 2014 // Michail Dubinjanskij
Quelle: Ukrainskaja Prawda
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