24 Stunden im Leben von Wiktor Janukowytsch


Vor einer Woche (gemeint ist der 29. November 2013, A.d.R), stand Wiktor Janukowytsch vor einer Entscheidung, die sein Schicksal signifikant hätte ändern können. Wenn er an diesem Freitagmorgen, das Assoziierungsabkommen unterschrieben hätte, hätte er sich einen Platz in den Geschichtsbüchern gesichert und wäre als der Triumphierende nach Hause zurückgekehrt, der für sein Land eine bedeutende Entscheidung getroffen hatte.

Er hätte alles Negative, das die korrupten Deals seiner Familie ansammelten, überdeckt. Er hätte die Beziehungen zum Westen überholt und sich einen ruhigen Pensionsantritt im Jahr 2015 oder sogar 2020 gesichert. Im Westen hätte er sogar eine Legalisierung der Verhaftung politischer Gegner erreicht, wurde doch die Freilassung Julija Tymoschenkos zuletzt nicht mehr als Ultimatum gestellt.

Aber Wiktor Janukowytsch verwandelte sich vom launischen Kind, das der Westen zwei Jahre lang mit Verhandlungen zu erziehen versuchte, in einer Nacht in einen verhassten, blutbefleckten, wütenden Despoten.

Ehemalige US Außenminister und die weltweit einflussreichsten ukrainischen Diasporas fordern nun die Verhängung von Sanktionen gegen ihn, und europäische Regierungen sorgten schon fünf Tage in Folge für demonstrative Verhinderung.

Das Zentrum der Hauptstadt verwandelte sich mit Barrikaden und Feuern in ein Bühnenbild für einen Apokalypse-Film. Und im Sarkophag „Meshyhirja“, seiner Privatresidenz, kann er sich nur ruhig aufhalten, weil er einige hundert Einheiten Kanonenfutter mit „Berkut“-Zeichen an den Ärmeln postiert hat.

Der Zeitung „Ukrajinska Prawda“ gelang es, eine Chronologie der blutigen Nacht am Majdan, dem 30. November, zu erstellen sowie Pläne und Szenarien ausfindig zu machen, die dieser Tage in den Regierungskabinetten ausgebrütet wurden.

Während der Schreie auf dem Majdan, war Wiktor Janukowytsch auf Wildschweinjagd

Am späten Freitag Nachmittag flog Wiktor Janukowytsch nach dem katastrophalen Gipfel der Östlichen Partnerschaft in Vilnius zurück nach Kyjiw (Kiew). Er fuhr weiter nach Meshyhirja, ohne davor in die Bankowa-Straße (Sitz des Präsidialamts) zu fahren. Aber in seinem Palast, der sich über ein Gebiet so groß wie das Fürstentum Monaco erstreckt, verbrachte Janukowytsch nur einige Stunden. Danach fuhr er für eine nächtliche Jagd nach Sucholutschtschja, ein staatliches Tierschutzgebiet, das unter Kontrolle von Janukowytschs Offshore-Firmen privatisiert wurde.

Also hat Janukowytsch, wie Quellen behaupten, während des Blutvergießens am Majdan Nesaleshnosti, dem Unabhängigkeitsplatz, 70 km nördlich der Hauptstadt sich in gleicher Weise an Tierblut geweidet.

Der Euromajdan, der zu dieser Zeit in Kyjiw wütete, störte Janukowytsch sichtbar. Komplexe des Jahres 2004 machten sich bemerkbar. Mit Blick auf die nächsten Präsidentschaftswahlen, in denen Wiktor Janukowytsch ohne Begleitung durch Demonstrationen der Opposition für eine zweite Amtsperiode kandidieren wollte, hat diese – aus seiner Sicht – Eigenmächtigkeit außerdem einen gefährlichen Präzedenzfall geschaffen.

Bis heute bleibt es ein Geheimnis, inwieweit Janukowytsch in den Auftrag, den Majdan zu räumen, involviert war. Ob er anordnete, das mit brutaler Härte zu erledigen und die Einheiten der „Berkut“ nicht nur auf Lebern einzuschlagen, sondern auch den Wunsch, sich erneut zu versammeln, aus den Demonstranten herauszuschlagen hatten? Oder ordnete Janukowytsch an, die Leute, die ihn störten, mit den verfügbaren polizeilichen Mitteln wegzuschaffen, ohne an die Folgen seiner Wut zu denken?

So oder so, Janukowytsch war auf der Jagd und die „Berkut“ tränkte den Euromajdan mit Blut.

Nach Informationen aus verschiedenen unabhängigen Quellen, leitete diese Operation der Sekretär des Nationalen Sicherheitsrates Andrij Kljujew, der der Bitte, der „Ukrajinska Prawda“ seine Version der Ereignisse zu schildern, nicht nachkam. Er hatte bereits Erfahrung im gewaltvollen Auflösen friedlicher Versammlungen – es reicht, an das Blutvergießen vor der Zentralen Wahlkommission eine Woche vor den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2004 zu erinnern.

Informanten zufolge, begannen die Vorbereitungen zur Räumung des Majdan schon zu Beginn jener Woche – Kljujew wählte gemeinsam mit seinem ersten Stellvertreter Wolodymyr Siwkowytsch „Berkut“-Einheiten aus, die angewiesen wurden, die schmutzige Arbeit zu erledigen.

Schlussendlich fiel die Wahl auf Einheiten aus den Regionen Dnipropetrowsk, Luhansk, Tscherkassy und der Krym (Krim).

Die ganze Zeit während der Zerschlagungs der Demonstration auf dem Majdan über, befand sich Wolodymyr Siwkowytsch im Büro des Kyjiwer Polizeichefs Walerij Korjak.

Bei den Vorbereitungen zur brutalen Räumung des Majdan legte auch die Verwaltung der Stadt Kyjiw Hand an: Um den Einsatz der „Berkut“-Einheiten gegen friedliche Demonstranten zu rechtfertigen, unterzeichnete Anatolij Holubtschenko, erster Stellvertreter des Bürgermeisters Oleksandr Popow, eine Anordnung über die dringliche Notwendigkeit und Bereitstellung von Nutzfahrzeugen am Unabhängigkeitsdenkmal.

Einer der seltsamen Umstände dieser Nacht war es, dass der Leiter der Präsidialverwaltung Serhij Ljowotschkin nicht erreichbar war. Einer Verison zufolge, wusste Ljowotschkin von der Absicht, den Majdan zu räumen, war aber an den Diskussionen über dieses Szenario nicht beteiligt, entzog sich ihnen demonstrativ und gab damit seinem ewigen Gegner Kljujew die Möglichkeit, ihn schlussendlich im Westen zu diskreditieren. Einer anderen Version nach, ging Ljowotschkin nicht ans Telefon, weil. er sich nach dem nervenaufreibenden Gipfeltreffen in Vilnius erholen wollte. Dieser Argumentationslinie folgt auch seine Begleitung, obwohl alleine der Gedanke daran, dass der Leiter der Präsidialverwaltung außer Reichweite ist, seltsam erscheint.

Was auch immer stimmen mag, Ljowotschkins Telefon wurde von westlichen Diplomaten und ukrainischen Kollegen angewählt, das erste Mal hob er aber den Hörer erst nach dem Morgengrauen ab, als ihn der US Botschafter Geoffrey Pyatt anrief. Laut seiner Begleitung, erfuhr Ljowotschkin erst vom Amerikaner vom Vorgehen am Majdan.

Daraufhin versuchte Ljowotschkin Janukowytsch zu kontaktieren, der sich aber noch auf der Jagd befand und deshalb nicht ans Telefon ging. Danach schrieb Ljowotschkin eine Rücktrittserklärung und übermittelte Janukowytsch eine CD mit Berichten aus den Weltnachrichten über den blutigen Morgen am Majdan. Darüber hinaus bereitete die Präsidialverwaltung für Janukowytsch den Entwurf für die Verkündung der Rücktrittserklärung von Innenminister Witalij Sachartschenko vor. Er lehnte jedoch ab, sie zu berücksichtigen.

Am Vormittag nach der Räumung des Majdans, kontaktierte Ljowotschkin, den Worten seiner Begleitung nach, Kljujew und warnte ihn vor seiner persönlichen Verantwortung für das Vertreiben der Demonstranten. Der Sekretär des Sicherheitsrates erklärte daraufhin, dass man im Fernsehen berichten werde, die „Berkut“-Einheiten hätten Kommunalarbeiter, die sich dort befanden, um den Christbaum aufzustellen, vor einer Attacke der Protestierenden geschützt. Von dieser Version ausgehend, begannen am folgenden Tag russische Fernsehsender über die Auflösung der friedlichen Versammlung in Kyjiw zu berichten.

Es ist kein Geheimnis, dass Kljujew ein enger Freund von Wiktor Medwedtschuk ist, dem Ukraine-Kurator aus dem Kreml. Und dass die von Putin kontrollierten Medien das Sprachrohr für Kljujews fragwürdige Version wurden, dient als ein weiterer Beweis dafür, dass er am Blutvergießen schuld ist. Wie auch das kurzfristige Briefing der von Kljujew kontrollierten Hanna Herman, die sich plötzlich dazu entschied, über seine Unschuld am Vorgehen zu berichten.

Die Räumung des Majdans zeigte, dass der Präsident im Unterschied zum Jahr 2004 keine Kontrolle über die „TV-Box“ hat. Die Mediaholdings von Dmytro Firtasch, Wiktor Pintschuk und sogar von Rinat Achmetow beleuchten die Ereignisse fast ohne Selbstzensur und zeigten die schockierendsten Videos vom Einschlagen auf die Demonstranten in der Nacht des 30. Novembers und während des Vorfalls in der Bankowa Straße am 1. Dezember.

Der letzte Beweis für Andrij Kljujews Schuld an der Räumung des Majdan war sein Auftritt letzten Dienstag in der Morgensitzung der Partei der Regionen letzten Dienstag. Das brutale Vorgehen der „Berkut“-Einheiten in der Nacht vom 29. auf den 30. November wurde nicht von der Leitung des Innenministeriums, sondern vom Sekretär des Nationalen Sicherheitsrates erklärt.

Augenzeugenberichten zufolge, beschrieb Kljujew die Effektivität und den Mut der Ordnungskräfte so eloquent, dass man im Raum sogar zu scherzen begann: „Vielleicht sollte man Sachartschenko mal auszeichnen?“

Als Reaktion auf die direkte Frage, ob Kljujew den Plan zur Räumung des Majdan persönlich angeregt habe, schob er er die gesamte Verantwortung dem Kyjiwer Polizeichef Walerij Korjak zu und vergaß dabei sogar die Rolle Witalij Sachartschenkos zu bedenken. Das ist mehr als seltsam, ist doch jeglicher Einsatz von „Berkut“-Einheiten, besonders die Unterstellung regionaler Spezialeinheiten unter ein zentrales Kommando ohne eine Anweisung des Innenministers unmöglich.

72 Stunden nach den blutigen Ereignissen am Majdan reiste Wiktor Janukowytsch nach China, ohne einen einzigen Schuldigen zu bestrafen. Stattdessen fanden sich neun der Protestierenden im Gefängnis, deren Strafverfahren innerhalb von 24 Stunden eröffnet und bei Gericht eingebracht wurden.

Was kommt jetzt? Szenarien

In den Wochen, in denen der Euromajdan nun den Rücktritt von Wiktor Janukowytsch fordert, wurde klar, dass sich die Blitzrevolution in eine länger andauernde Pattsituation verändert hat. Nach Kyjiw reisen weiterhin Gegner des Regimes an und die Regierung fordert Sicherheitskräfte zum Wechsel im Turnus in die Hauptstadt an.

Leute errichten Barrikaden auf den zentralen Straßen und blockieren Regierungsgebäude. Am Donnerstag, dem 5. Dezember, wurde die Zufahrt zur Präsidialverwaltung in der Schowkowytsch-Straße 20 mit Müllwägen versperrt. Das ist derselbe Hintereingang, den die Beamten unter den momentanen Revolutionsumständen verwenden, um ins Regierungsgebäude zu gelangen.

Der Rücktritt von Janukowytsch bleibt das Ziel des Euromajdans, während Oppositionelle aktiv einen realistischeren Ausweg aus der Krise diskutieren, der für den jetzigen Präsidenten ein Verbleiben im Amt bis 2015 vorsieht.

Serhij Arbusow, Vizepremierminister und ein Kandidat aus dem „Familienclan“, versucht Sprecher der Regierung zu werden und war in den letzten Tagen aktiv wie nie zuvor: hat er in den letzten dreieinhalb Jahren standhaft Interviews vermieden, verschwindet er jetzt nicht von den Fernsehbildschirmen um die These über die Gespräche zu verbreiten. Er war sogar im „5. Kanal“, trotz eines langwierigen Konflikts mit dem Eigentümer des Senders, Petro Poroschenko.

Voraussetzung für die Gespräche ist die „Nullvariante“, in der die Regierung die „Berkut“-Einheiten aus Kyjiws Zentrum bringt, die festgehaltenen Aktivisten freilässt und die Opposition die Blockade der Regierungsgebäude aufhebt.

Das erste mögliche Kompromissszenario ist eine „technische Regierung“. Hier geht es um den Rücktritt von Asarow und die Bildung einer „Regierung aus Technokraten“ ohne Personen von zweifelhaftem Ruf, die dann bis zur nächsten Präsidentenwahl besteht.

Offensichtlich würde sich Arbusow in diesem Ministerkabinet selbst die Rolle des Premierministers geben. Ein Teil der Opposition hält das Szenario einer „technischen Regierung“ für möglich, ist aber gegen Arbusow am Steuer. Außerdem müsse die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der Europäischen Union die Bedingung für die Bildung dieses Organs sein.

Die stellvertretende US Staatssekretärin Victoria Nuland äußerte die Unterstützung eines solchen Szenarios bei einem Treffen mit der Opposition in Kyjiw.

Das zweite Szenario ist „die Rückkehr zu einer semipräsidentiellen Republik“, die während der Orangenen Revolution bestand. Dabei hätte die Instandsetzung der alten Verfassung mit einer seltsamen „politisch-legalen Entscheidung“ zu erfolgen. Folgt man der Logik der Anhänger von diesem Ansatz, müsste das Parlament dafür stimmen, die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes, mit der Wiktor Janukowytsch 2010 jene Macht erhielt, die Leonid Kutschma besaß, nicht anzuerkennen.

Dadurch, dass Janukowytsch die zusätzlichen Befugnisse auf zweifelhafte Weise erhalten hat, kann er sie auf dieselbe zweifelhafte Weise auch verlieren, so die Erklärung der Anhänger dieses Ansatzes, den als erstes der Abgeordnete Dawid Schwanja vorbrachte.

Das dritte Szenario ist das radikale. Es sieht einen anhaltenden Druck auf Janukowytsch vor, wobei sich die Situation in den Straßen verschärfen und einen „Garanten“ für einen erneuten Missbrauch durch Sicherheitsorgane provozieren würde. Parallel dazu wäre der Westen dazu aufgerufen, Sanktionen zu verhängen – keine Zeit für die Verabschiedung von Spezialgesetzen á la „Magnitski Akte“ verschwenden, sondern einfach Konten blockieren und die am meisten diskreditierten Regierungsvertreter auf eine schwarze Einreiseliste nehmen.

Druck auf Janukowytsch muss in Form einer Blockade in Meshyhirja, einem ukraineweiten Streik, eines Kollaps der Regierungsorgane und der Bildung einer alternativen Regierung erfolgen. Die Finanzkatastrophe hat ebenfalls eine Rolle zu spielen, an deren Grenzen Asarows Regierung die Ukraine schon geführt hat.

Es ist wahrscheinlich, dass eine Mischung dieser Szenarien stattfindet und gleichzeitig verschiedene Elemente zum Tragen kommen. Zum Beispiel könnte ein Element der Radikalvariante – der Blockade Janukowytsch in Meshyhirja – ihn zu einem Gespräch mit den Leuten auf der Straße und der Opposition über eine semipräsidentielle Republik zwingen.

Zudem werden immer öfter Vorschläge laut, internationale Verhandlungsführer einzuladen, die das Erzielen einer Übereinkunft zwischen Janukowytsch und seinen Gegnern garantieren sollen. Das könnten die schon bekannten Ex-Präsidenten Pat Cox und Aleksander Kwaśniewski sein, oder aber derzeitigen Außenminister von Schweden und Polen, Carl Bildt und Radoslaw Sikorski.

Ungeachtet des politischen Zeitdrucks, setzt Wiktor Janukowytsch sein Spiel an zwei Fronten fort, gibt die Hoffnung auf eine zweite Amtszeit nicht auf und sucht Geldquellen um Budgetlöcher zu schließen. Am Vorabend seines Chinabesuchs, sandte er fast zeitgleich zwei Delegationen aus: eine nach Moskau, um das Projekt eines neuen strategischen Abkommens mit dem Kreml vorzubereiten und eine nach Brüssel, um im Fall eines Verhandlungsstopps mit Russland nicht auch die Möglichkeit zu verlieren, die Verhandlungen mit der EU-Kommission weiterzuführen.

Die Mission nach Moskau leitete Jurij Bojko, den Finanzminister Jurij Kolobow begleitete. Nach Brüssel fuhr der stellvertretende Außenminister Andrij Olefirow und der stellvertretende Vorsitzende der ukrainischen Nationalbank Mykola Udowytschenko, für die ein Treffen mit Stefan Füle angesetzt war.

Dabei legt Wiktor Janukowytsch selbst alle Hoffnungen in Signale von der russischen Mission. Quellen zufolge, ist der Text für ein neues strategisches Abkommen fast fertig. Lediglich die Anhänge und Protokolle müssen fertiggestellt werden, in denen erst die finanziellen Parameter des Übereinkommens zwischen Kyjiw und Moskau enthalten sind.

Abhängig davon, wie überzeugend die Angebote von russischer Seite sind, wird das Flugzeug von Janukowytsch am Weg von China eine Tankpause einlegen. Das wiederum hängt davon ab, wo sich in diesem Moment Wladimir Putin befindet, der letzte mögliche Verbündete des derzeitigen ukrainischen Präsidenten.

6. Dezember 2013 // Serhij Leschtschenko, Mustafa Najem

Quelle: Ukrajinska Prawda

Übersetzerin:   Nina Havryliv  — Wörter: 2146

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