600 Millionen Euro statt Reformen: EU-Hilfe die der Ukraine schaden kann



In den kommenden Wochen kommt in der Ukraine die zweite Tranche der Makrofinanzhilfe der EU in Höhe von 600 Millionen Euro an. Dies erfuhr die Jewropejskaja Prawda von gleich mehreren EU-Beamten (Das Geld ist am 5. April in der Ukraine eingetroffen, A.d.R.).

Die neue Makrofinanzhilfe-Tranche der EU ist eine an sich durchaus positive Nachricht für die Ukraine. Doch die Umstände der Bereitstellung dieser Mittel lassen Fragen offen.

Man weiß bei diesen Nachrichten aus Brüssel deshalb nicht recht, ob sie als gut oder schlecht einzustufen sind.

Die EU hat nicht abgewartet, bis die Ukraine ihre Forderungen zu Wald- und Rentenreformen erfüllt. Damit wurden diese Pflichten im Grunde erlassen.

„Es wurde entschieden, die zweite Tranche vorzustrecken, ohne dass alle Forderungen für die Bereitstellung der Gelder erfüllt werden mussten. Im Moment werden technische Details für die Überweisung vorbereitet und in ein paar Wochen wird die Tranche da sein. Die nicht erfüllten Punkte verschieben sich dann auf die dritte Tranche.“ klärte einer der Gesprächspartner der Jewropejskaja Prawda.

An dieser Stelle eine kurze Zusammenfassung der Umstände zu dieser Überweisung:

Im Frühjahr 2015 wurde zwischen der Ukraine und der EU ein Memorandum über die Bereitstellung von Makrofinanzhilfe in Höhe von 1,8 Milliarden Euro unterzeichnet, die das Land in drei Schüben von je 600 Millionen Euro erhalten sollte. Es geht um Kredite, die jedoch für wesentlich längere Zeiträume und mit wesentlich günstigeren Konditionen gewährt werden, als z. B. IWF-Gelder.

Die erste Tranche wurde im Jahr 2015 an Kiew überwiesen. Damals war geplant, die zweite Tranche noch am Ende desselben Jahres zu überweisen und die dritte Finanzspritze im Jahr 2016 zu gewähren.

Die Realität sah anders aus: Im Verlauf von zwei Jahren befand sich die zweite Tranche in einem „eingefrorenen“ Zustand. In erster Linie lag das an der Unnachgiebigkeit Kiews.

Was waren die Gründe für ein solches „Einfrieren“? Und noch wichtiger: Was waren die Gründe dafür, dass die EU ihre Position änderte?

Für die Bereitstellung des Kredits musste die Ukraine gewisse „Reform-Hausaufgaben“ erledigen. Die Liste umfasst z. B. die Bekämpfung von Korruption, die Transparenz von staatlichen Einkäufen, Reformen für die Energiebranche und das Beamtenwesen und vieles andere mehr. Auf das Plus-Konto der ukrainischen Regierung kann man bereits die Wiederaufnahme der Zusammenarbeit mit dem IWF verbuchen. Natürlich war in Kiew all das auch ohne das Memorandum geplant gewesen.

Doch gab es unter den Forderungen auch solche, die für die Ukraine (genauer gesagt, für einen Teil der Beamten und Abgeordneten) zum Problem wurden. Eine davon ist das Problem mit der starken Anhebung von Ausfuhrabgabe auf Metallschrott (von 10 auf 30 Euro pro Tonne), was über dem in der WTO höchstzulässigen Niveau liegt.

Das Anheben dieser Schutzzölle, die gegen das Assoziierungsabkommen verstoßen, wurde von der heimischen Metallindustrie lobbyiert. Die EU protestierte. Schließlich reichte der Präsident sein Veto gegen das Gesetz ein, welches dann erneut, unter Berücksichtigung seiner Vorschläge, verabschiedet wurde. In erster Linie wurde die Wirkungsdauer für die erhöhten Zölle auf drei Jahre beschränkt.

Die EU forderte anfangs noch die komplette Aufhebung der Zölle, strich aber anschließend die Metallschrott-Forderung aus dem Bedingungskatalog.

In diesem Kompromiss zeigte sich die größte Schwäche der EU-Kommission, die bereit war, bei der Makrofinanzhilfe Nachsicht zu üben.

Nachdem die ersten Lockerungen in Sicht waren, gab es aus der Perspektive Kiews keine besondere Eile, die übrigen Auflagen zu erfüllen. Ein Teil von ihnen wurde nur der Form halber umgesetzt. Zum Beispiel im Falle der Schaffung einer unabhängigen Kontrollinstanz für Energiefragen. Das im Memorandum erwähnte Gesetz wurde verabschiedet, doch ohne eine Reihe von Durchführungsverordnungen ist diese Arbeit nicht abgeschlossen.

Zwei Schlüsselfragen blieben jedoch offen: Sozialhilfeleistungen an Binnenflüchtlinge und das Rückgängigmachen der neuen Handelsbeschränkungen.

Anders ausgedrückt: Renten für das Donezbecken und Rundholz.

In beiden Fragen war die EU mit den Handlungen der Ukraine unzufrieden, doch zumindest hatte Kiew Gegenargumente zum ersten Punkt: Das Memorandum spricht von Rentenzahlungen an Binnenflüchtlinge und nicht an jene, die sich für solche ausgeben, dabei aber weiterhin in den besetzen Gebieten leben.

Übrigens ist eine Einigung zwischen Kiew und Brüssel in dieser Frage nicht in Sicht. Erst letzte Woche führte ein Korrespondent der Jewropejskaja Prawda eine lange und emotionale Diskussion mit einem EU-Beamten, welcher die Ansicht vertrat, die Ukraine sei verpflichtet, Renten an alle ihre Bürger zu zahlen, und zwar auch an die, die dauerhaft in Donezk leben.

Er gestand aber gleichzeitig, dass die Bereitstellung der 600 Millionen dadurch nicht beeinträchtigt sein würde.

Schließlich blieb für die Bereitstellung des Geldes eine Bedingung der EU, wenngleich die jeweiligen Positionen für beide Parteien von prinzipieller Bedeutung sind. Es geht um die Aufhebung des Exportverbots für unbearbeitetes Holz.

In Brüssel war man lange Zeit der Ansicht, die Ukraine sei knapp davor, diese Forderung umzusetzen. Insbesondere sagte der Präsident der EU-Kommission Jean-Claude Juncker im November letzten Jahres, eine Aufhebung des Exportverbots würde innerhalb von wenigen Wochen erwartet. Damals war die Regierung der Ukraine aber erst dabei, sich auf Anhörungen zu diesem Thema im Parlament einzustellen.

Was aus den Anhörungen hervorging, war eine Erkenntnis, dass die Parlamentarier strikt gegen die Aufhebung der Schutzzölle waren.

Das Parlament wurde mit populistischen Parolen überflutet, der Preis für die Tranche der EU sei eine Entwaldung der Karpaten.

Erklärungen der Regierung blieben de-facto aus, während die Argumente der EU vor diesem Hintergrund nicht überzeugend wirkten.

Die Standpunkte waren hier scheinbar festgefahrenen.

Was war dann der Grund, dass sich die EU bereit erklärte, trotzdem Gelder an die Ukraine zu überweisen?

Viele Gesprächspartner der Jewropejskaja Prawda erklären dies ausschließlich mit der bürokratischen EU-Struktur: In diesem Jahr läuft die Frist für die Bereitstellung dieser Gelder aus. Wenn die Tranche also nicht an Kiew überwiesen wird, darf das Geld nicht für diesen Zweck aufgewendet werden und die EU muss es anderweitig ausgeben.

Dabei stellt sich die wichtigste Frage, ob die EU gut daran tut, gegen die eigenen Prinzipien zu verstoßen und mit welchen Folgen man nun rechnen sollte.

Es ist ein offenes Geheimnis, dass sich der Fortschritt bei Reformen in der Ukraine in den vergangenen Monaten wesentlich verlangsamt hat. Bislang sah es so aus, dass die EU und der IWF (bzw. deren finanzielle Unterstützung) die stärksten Anreize für die Umsetzung der anstehenden Reformen waren.

Was geschieht aber nun, wenn die EU mit ihren Handlungen eine dieser Motivationsquellen vernichtet? Besonders aktuell ist die Frage in einer Situation, in der man mit dem guten Willen der ukrainischen Regierung nicht mehr rechnen sollte.

Wird die Europäische Union in Zukunft nachdrücklich genug auf der Erfüllung aller gesetzten Auflagen bestehen können? Insbesondere, nachdem sie aufzeigte, dass die Erfüllung doch keine so harte Voraussetzung ist.

Die Makrofinanzhilfe der EU kann sich für die Ukraine letzten Endes auf einen höheren Preis belaufen, als die Weigerung, diese Gelder bereitzustellen.

Was ist dem Land wichtiger, 600 Millionen Euro oder Reformen? Die Regierung und die Gesellschaft können in dieser Frage zu prinzipiell unterschiedlichen Antworten kommen.

14. März 2017 // Jurij Pantschenko, Sergej Sidorenko

Quelle: Jewropejskaja Prawda

Übersetzung Russisch Nürnberg

Übersetzer:   Oleg Pogrebnyak  — Wörter: 1144

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