Am späten Abend des 12. Juli trafen sich in Kiew drei Präsidenten: Pjotr Poroschenko, der Präsident der Europäischen Kommission Jean-Claude Juncker und der Präsident des Europäischen Rates Donald Tusk. Die Gäste aus Brüssel überbrachten dem ukrainischen Präsidenten eine schlechte Nachricht, die in Kiew allerdings bereits bekannt war.
Der 19. Ukraine – EU-Gipfel wurde zum zweiten Mal in der Geschichte unserer Beziehungen ohne gemeinsame Abschlusserklärung abgeschlossen. Nach den Regeln der europäischen Diplomatie ist das Fehlen einer gemeinsamen Erklärung eine Demonstration einer tiefen Krise in den Beziehungen: Die Staatsoberhäupter haben sich zwar getroffen, kamen aber zu keiner Einigung. Daher gelang es jedes Mal ein Abschlussdokument abzustimmen – sogar in den „Krisenjahren“ 2004 und 2011.
Aber jetzt ist alles anders. Ukraine hat, wie es oft bei uns geschieht, die Traditionen der europäischen Politik gebrochen.
Krise unter Freunden
Wir haben nicht umsonst die beiden „schwierigen“ Jahre erwähnt, als die Ukraine und die EU sich mit tiefem Misstrauen, beinahe feindselig, zueinander verhielten.
Im Sommer 2004 sagte die EU dem damaligen Präsidenten Kutschma ein klares “Nein“ zu seinen Bemühungen Gespräche über das Format der künftigen Beziehungen mit der Ukraine stattfinden zu lassen. Damals war Wahljahr und Wahlen standen kurz bevor, deshalb war für die EU klar, dass die Ukraine versuchen wird, die Wahl zugunsten von Wiktor Janukowitsch zu manipulieren, aus diesem Grund konnte keine Rede über Freundschaft sein. Der Gipfel im Dezember 2011 fand unter noch schlimmeren Voraussetzungen statt: Janukowitsch war schlussendlich Präsident geworden und fing mit der politischen Verfolgung der Opposition an.
Aber selbst damals konnten sich Kiew und Brüssel einigen, um eine kurze aber gemeinsame Erklärung zu veröffentlichen.
Das Jahr 2017 ist komplett anders. Jetzt geht es nicht um einen „neuen Kalten Krieg“ zwischen Kiew und Brüssel – im Gegenteil, die Zusammenarbeit ist sehr aktiv. Die „Jewropejskaja Prawda“ hatte den für den Gipfel vorbereiteten Erklärungsentwurf gesehen. Solch ein detailliertes auf sieben Seiten verfasstes Dokument hat es in der Geschichte der EU-Ukraine-Gipfel noch nie gegeben. Und alles musste wegen eines kleinen aber sehr wichtigen Problems verworfen werden.
Auf Drängen der Mitgliedstaaten (oder besser gesagt, eines Staats, dem später andere gefolgt sind), hat die Europäische Union die Tatsache in Zweifel gezogen, dass die Ukraine die Integration in die EU anstrebt. „Die Europäische Union erkennt die europäischen Bestrebungen der Ukraine an und begrüßt ihre Entscheidung für Europa, einschließlich der Verpflichtung, Demokratie und Marktwirtschaft nachhaltig weiter zu entwickeln.“ Dies ist ein Zitat aus der Präambel des Assoziierungsabkommens, das heißt aus dem Dokument, das für die Ukraine, die EU und alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union verbindlich ist.
Kiew bestand darauf, dass in der gemeinsamen Erklärung auf dieses Zitat verwiesen wird. Die EU war kategorisch dagegen (es spielt keine Rolle, dass es sich um ein Zitat aus dem Assoziierungsabkommen handelt und nicht um ein neues Dokument). Abschlussverhandlungen mit der Europäischen Union haben die Situation nur verschlimmert: Die Niederlande verlangten, neue Beschränkungen für den europäischen Traum der Ukraine in den Text aufzunehmen.
Den Haag wurde von mehreren anderen Ländern unterstützt, und schließlich wurden die Verhandlungen abgebrochen. Und der EU-Rat auf Botschafterebene entschied, dass der für den Gipfel vorbereitete Entwurf auf den Müll wandern soll.
Eben deshalb mussten sich die Präsidenten Juncker, Tusk und Poroschenko noch am Mittwochabend unverzüglich zusammenfinden und sich einigen, wie der Gipfel vom Scheitern gerettet werden kann.
Rätselhafte Niederlande
Die “Jewropejskaja Prawda“ kennt noch keine Details des Präsidententreffens, das am Mittwochabend stattgefunden hatte.
Aber es ist klar, dass sie, auch wenn sie wollten, die Entscheidung der Mitgliedstaaten darüber, dass der Gipfel ohne eine Abschlusserklärung enden sollte, nicht ändern können. Sogar in dem Wissen darüber, welche Krise in den Beziehungen zwischen der Ukraine und der EU das hervorrufen könnte. Allerdings ist es notwendig, die Ursachen des Konflikts zu verstehen und zu begreifen, wie es zu dieser Krise unter allen Beteiligten gekommen ist.
Dafür sollte man kurz in Erinnerung rufen, was jüngst geschah.
Wir alle erinnern uns an das für Kiew und Brüssel katastrophale Referendum in den Niederlanden. Ja, es ist jetzt durchaus bekannt, dass dieses Referendum nicht nur von Populisten organisiert worden war, sondern auch, dass die Propaganda gegen die Ukraine mit Unterstützung der Russischen Föderation durchgeführt wurde (siehe dazu “Wie falsche Ukrainer das Referendum in den Niederlanden beeinflusst haben“). Allerdings ändert dieses Wissen nichts an den rechtlichen Konsequenzen. Im vergangenen Jahr war nicht nur das Assoziierungsabkommen in Gefahr, sondern auch die Beschlussfähigkeit der Europäischen Union als solche – weil Brüssel nicht wollte, dass es dazu kommt, dass 0,6 Prozent der Bevölkerung der EU das bereits unterzeichnete und von den Parlamenten verabschiedete internationale Abkommen außer Kraft setzen. Daher hat die EU im vorigen Jahr alles getan, um die niederländische Krise zu lösen.
Möglicherweise haben Sie gemerkt, was am Anfang des Artikels erwähnt ist: Dieser Gipfel war der zweite, in dem die EU und die Ukraine keine gemeinsame Abschlusserklärung abgegeben haben. Zum ersten Mal hat dies im vergangenen Jahr stattgefunden.
Im November 2016, als der letzte Gipfel stattgefunden hat, erreichte die niederländische Krise ihren Höhepunkt und deshalb haben die Ukraine und die EU gemeinsam beschlossen, keine gemeinsame Erklärung abzugeben, um dem Premierminister Rutte während seiner Gesprächen mit den Abgeordneten nicht zu schaden. “Damals wusste niemand, was in die Erklärung zu schreiben ist und deshalb hat es auch keine gegeben.“, erinnern sich Diplomaten. Aber im Dezember wurde doch noch eine Lösung gefunden.
Der EU – Gipfel hat ein interessantes Dokument genehmigt, um dem niederländischen Ministerpräsidenten zu helfen – er sollte die getroffene Entscheidung seinen Wählern und Abgeordneten als seinen Sieg vorstellen. Trotz der Tatsache, dass es absolut nichts in dem Assoziierungsabkommen ändert und die Ukraine in Zusammenarbeit und Annäherung an die EU nicht einschränkt, klingen die Phrasen in diesem Dokument nicht sehr schön für Kiew.
Beispielsweise, dass „das Assoziierungsabkommen … keinen Kandidatenstatus für die EU-Mitgliedschaft vorsieht und keine Verpflichtungen über die Vergabe des Status der Ukraine in der Zukunft schafft.“
Diese Lösung hat ihre Rolle gespielt und wurde, wie es schien, zur Geschichte. Rutte überzeugte seine Wähler, dass das „Referendum über die Ukraine“ ein Akt des reinen Populismus war. Am Ende gewann er die Wahl, und das niederländische Parlament ratifizierte mit überzeugender Mehrheit erneut das Abkommen mit der Ukraine.
Können Sie sich die Überraschung der Ukraine vorstellen, als die Niederlande wieder begannen darauf zu bestehen, dass die Thesen aus dem Dezemberdokument der gemeinsamen Erklärung hinzugefügt werden!!!
Diese Information wurde der “Jewropejskaja Prawda“ von Informanten in Kiew und Brüssel bestätigt.
Außerdem war Den Haag nicht allein. Es wurde von Deutschland und Frankreich unterstützt.
Kein wertvolles Vertrauen
In den nächsten Stunden wird bekannt werden, welchen Weg aus der Krise die Präsidenten Poroschenko, Tusk und Juncker gefunden haben, und ob der Weg überhaupt gefunden wurde. Ein Worst-Case-Szenario ist auch denkbar.
Aber es kann eine traurige Tatsache festgestellt werden: Die Frage liegt nicht nur in dem Gipfel, der erfolgreich sein sollte (es ist in der Tat so!), aber es stellte sich heraus, dass der Gipfel beinahe gescheitert ist.
Das Hauptproblem ist, dass dank unserer Freunde aus den Niederlanden, das Vertrauen zwischen der EU und der Ukraine erheblich gestört ist. Und es ist unklar, wie es repariert werden soll.
Natürlich wird die Europäische Union nun argumentieren, dass es die Ukrainer sind, die sich an Details festhalten.
Aber die EU muss irgendwann einmal verstehen:
Die europäische Wahl – ist UNSERE WAHL.
Kiew hat das Recht, selbst zu bestimmen, wo unsere Zukunft liegt, und wir haben uns bereits entschieden. Darüber hinaus haben alle EU-Staaten – ohne Ausnahme – dieser Wahl zugestimmt.
Ja, die Entscheidung darüber, ob die Ukraine eines Tages auch ein Mitglied der EU werden wird, wird nicht in Kiew, sondern in der EU gefällt, wenn sie überhaupt auf der Tagesordnung stehen wird. Aber jetzt kann von der Mitgliedschaft bei Weitem keine Rede sein! Der Stein des Anstoßes war nicht einmal eine europäische Perspektive, sondern die europäischen Bestrebungen der Ukraine.
Es bleibt zu hoffen, dass die aktuelle Situation unseren europäischen Freunden gezeigt hat: Es gibt Dinge, die nicht infrage gestellt werden können.
13. Juli 2017 // Sergej Sidorenko
Quelle: Jewropejskaja Prawda
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