80 Jahre Schande
Es nähert sich der 80. Jahrestag des Hitler’schen Einmarsches in die UdSSR und die Ukraine widmet diesem historischen Gedenktag vorhersagbar weitaus weniger Aufmerksamkeit, als das benachbarte Russland.
Im Eifer der nationalen Emanzipation erlangte der 22. Juni 1941 in unserer Gesellschaft einen etwas aufrührerischen Beigeschmack.
Oftmals wird das Datum als von Moskau aufgezwängte Täuschung wahrgenommen. Wie ein verlogener Bezugspunkt, der den wirklichen Beginn des Krieges für die Ukraine und die Ukrainer verdecken soll.
Von den Ereignissen des Sommers 1941 hörend, hält es der wohlmeinende Patriot für seine Pflicht zu unterstreichen, dass der Zweite Weltkrieg tatsächlich im Herbst 1939 entfesselt wurde.
Als Gegengewicht zum traditionellen sowjetischen Narrativ – „am 22. Juni, genau um vier Uhr, wurde Kiew bombardiert, wurde uns verkündet, dass der Krieg begonnen hat“ – versucht jemand die Bedeutung der Junitages des Jahres 1941 herabzusetzen. Doch dieses plumpe Streben ist kaum gerechtfertigt.
Erstens geht die Rede vom lebendigen Familiengedächtnis. Obgleich der große Krieg in die Ukraine 1939 kam, war der Großteil der Ukraine vom Krieg bis 1941 nicht betroffen.
Für die Zivilbevölkerung der zentralen und östlichen Regionen wurde eben der 22. Juni zum Wendepunkt, der die gewohnte Lebensweise zerstörte. Und es ist seltsam so zu tun, als ob dieser Tag keine schicksalsträchtige und tragische Zäsur der ukrainischen Geschichte war.
Und zweitens ist es sogar aus ideologischer Sicht unvorteilhaft das Jahr 41 zu missachten. Obgleich die Sowjetunion in den großen Krieg 1939 eintrat, trat eben 1941 der Krieg aus dem Rahmen des geplanten und annehmbaren für das Kremlimperium heraus.
Und was das anbelangt, so stellt der 22. Juni ein größeres Belastungsmaterial gegen das Stalin’sche Regime dar, als der 23. August, der 1. oder der 17. September.
Die einheimischen Enttarner der UdSSR ziehen es vor die Aufmerksamkeit auf die sowjetische Zusammenarbeit mit den Nazis zu richten, auf die Rolle des Kremls bei der Entfesselung des weltweiten Gemetzels, auf die vierte Teilung Polens und die Annexion der baltischen Staaten.
Doch die Sache ist die, dass die Binnenlogik des Systems nicht mit den Einschätzungen außenstehender Kritiker zusammenfällt.
Für ein totalitäres Regime ist nichts Anstößiges dabei, aggressiv und unmoralisch zu sein. Eine Diktatur kann weder ein heimliches Komplott mit einer anderen Diktatur noch das Eindringen in benachbarte Länder oder die Eroberung fremden Territoriums diskreditieren.
Das Ziel rechtfertigt angeblich die Mittel, die Aggression ist ein Beweis von Stärke und Niedertracht wird als Wirksamkeit interpretiert.
Es ist sinnlos Stalins Fürsprecher mit dem Molotow-Ribbentrop-Pakt oder anderen Ereignissen der Jahre 1939-1940 zu beschämen: genauso wie es auch sinnlos ist den modernen Putinisten die Annexion der Krim vorzuwerfen.
Eine wirkliche Schande für jede Diktatur ist es als schwach, hilflos und impotent zu erscheinen. Eben so, wie das kriegerische Stalinimperium am 22. Juni 1941 dastand.
Vor 80 Jahren brach eben der Krieg über die Sowjetunion herein, auf den sich Moskau lange Jahre vorbereitet hatte. Eben jener Krieg, mit dem der Kreml eine Vielzahl von ambitionierten Plänen und Hoffnungen verband.
Eben der Krieg, an dessen Entfesselung die UdSSR unmittelbar teilnahm und der mehr als anderthalb Jahre als steuerbar und nützlich für das sowjetische Regime erschien.
Doch dann geriert er plötzlich außer Kontrolle: wie das magische Dämonsfeuer, das von einem ungebildeten Slytherin hervorgerufen wurde. [Bezugnahme auf Harry Potter, A.d.Ü.]
Der Stalin’sche Staat verwendete mehr als zehn Jahre alle Ressourcen für die Vorbereitung auf den zukünftigen Krieg. Warf Millionen Schicksale in das Feuerloch der Industrialisierung, schuf die mächtigsten Streitkräfte auf dem Kontinent, schmiedete Panzerkolonnen und Fliegerstaffeln.
Um im Juni 1941 den rasanten Zusammenbruch der sowjetischen Militärmaschine zu beobachten. Um die Luftwaffe bereits auf den Flugplätzen und die vieltonnigen Panzer auf dem Anmarsch zu verlieren. Um faktisch die Berufsarmee zu verlieren und das vernichtete Militärpotenzial der UdSSR wiederherzustellen.
Der Stalin’sche Staat wollte mit wenig Blut auf fremdem Territorium kämpfen. Nahm eine Reihe von unbeschwerten und siegreichen „Befreiungsfeldzügen“ in Europa vorweg.
Um im Juni 1941 überrumpelt zu werden und sich unrühmlich bis zur Wolga und dem Kaukasus zurückzuziehen. Um dem Gegner fast die Hälfte der Vorkriegsbevölkerung zu überlassen und ein Territorium zu verlieren, das drei Frankreichs entspricht.
Um im Blut zu ertrinken und für den hart erkämpften Sieg mit 27 Millionen Menschenleben zu bezahlen.
Der Stalin’sche Staat setzte auf die Klassendemagogie und plante den Feind von innen zu zersetzen. Träumte von propagierten Arbeitern, die sich weigern ihr bürgerliches Vaterland zu verteidigen und vom Zusammenbruch des verfaulenden kapitalistischen Westens.
Um im Juni 1941 mit eingezogenen deutschen Proletariern konfrontiert zu werden, die keine internationale Solidarität kennen. Um eilig Hilfe bei den anglo-amerikanischen Kapitalisten anzufragen.
Um in Panik das eigene Volk mit Geschrei von Mütterchen Russland zu motivieren.
Der Stalin’sche Staat beanspruchte für sich eine harte, doch effektive Politik. Die Alternativlosigkeit und Gnadenlosigkeit des herrschenden Regimes wurde als Unterpfand für optimale Lösungen angesehen.
Dieser eingebildete Pragmatismus bleibt der Haupttrumpf der modernen Apologeten der UdSSR.
Diese werden unfreiwillig von vielen Antisowjets sekundiert, die den bolschewistischen Hunger und den repressiven Fleischwolf der 1930er Jahre als Ergebnis eines durchdachten Plans sehen: die totalitäre Maschine wirkt unmenschlich, doch funktioniert wie eine Uhr.
Jedoch der historische Mythos über das „effektive Management“ hält die Überprüfung des Jahres 41 nicht stand. Einfach alles in der Kriegsplanung des Kremls erwies sich als haltlos. Buchstäblich alles fand genau umgekehrt statt.
Alle sowjetischen Berechnungen, die Vorbereitungen und Strategien stürzten in ein schwarzes Loch, das fieberhaft mit den unerschöpflichen imperialen Ressourcen gestopft werden musste. Und wenn das kein episches Versagen ist, was kann dann als schändliches Scheitern angesehen werden?
Jemandem mag das eine ungerechte Korrektur des sowjetischen Images sein, die nach der Invasion der Nazis in die UdSSR geschah.
Sich der Anti-Hitlerkoalition anschließend, begannen die Moskauer Herrscher als Kämpfer des Guten angesehen zu werden. Doch weitaus wichtiger ist, dass sie im Juni 1941 aufhörten, wie Genies des Bösen auszusehen.
Die Vorstellung von der furchterregenden Gerissenheit, der teuflischen Tüchtigkeit und der monströsen Effizienz des Kremls brach zusammen.
Doch für eine Diktatur und ihre Erben bedeutet das mehr, als ein abstoßender moralischer Charakter. So war es vor 80 Jahren und so bleibt es bis zum heutigen Tag.
21. Juni 2021 // Michail Dubinjanski
Quelle: Ukrainskaja Prawda