Andreas Umland: Eine Chance für die Ukraine
Das klägliche Popularitätsniveau von Juschtschenko bietet der Kiewer Elite eine reale Möglichkeit die junge postsowjetische Demokratie in eine parlamentarische Republik umzuwandeln.
Wie jüngste öffentliche Meinungserhebungen zeigen, ist die Popularität Juschtschenkos auf das niedrigste Niveau während seiner Präsidentschaft gesunken. Weniger als 3% der Befragten in der gesamten Ukraine gaben an, dass sie bei Wahlen dem jetzigen Präsidenten ihre Stimme geben würden.
Dies wirft Juschtschenko nicht nur weit hinter seine Hauptkonkurrenten – Julija Tymoschenko und Wiktor Janukowitsch – zurück. Es lässt seine Unterstützung im Volk auch niedriger ausfallen, als das von Politikern der „zweiten Reihe“ wie Arsenij Jazenjuk, Petro Symonenko und Wolodymyr Lytwyn.
Die meisten Analysten sind in den letzten zwei Jahren zu der Überzeugung gelangt, dass die Chancen Juschtschenkos auf eine zweite Amtszeit gering sind. Bleibt zu hoffen, dass inzwischen auch dem isolierten Präsidenten und seinen kurzsichtigen Mitarbeitern klar geworden ist, dass seine Wiederwahl unmöglich ist.
So bitter dies für den Helden der Orange Revolution auch sein mag: diese Sachlage bietet den “Orangen” auch eine Möglichkeit, jenen zweiten Demokratisierungsschub zu vollenden, den sie vor vier Jahren begonnen haben. 2009 hat die Ukraine die seltene Chance, ihr ungeeignetes semipräsidentielles System loszuwerden.
Nach dem Zerfall der UdSSR hat die Mehrheit der neu entstandenen Staaten eine adaptierte Version der sowjetischen Machtstruktur der übernommen, in welcher der Erste bzw. Generalsekretär der jeweiligen kommunistischen Partei durch einen Präsidenten ersetzt wurde – ein Modell, das zuerst von Gorbatschow auf Unionsebene 1989 eingeführt worden ist.
Im Nachhinein wurde diese Konstruktion zum Resultat einer Anwendung des „französischen Regierungsmodells“ erklärt. Tatsächlich hatte die Verteilung exekutiver Macht zwischen dem Präsidenten und dem Premierminister in der Mehrheit der post-sowjetischen Ländern wenig mit internationalen Erfahrung gemein, sondern war Ergebnis idiosynkratischer Machtkämpfe in jeder der post-sowjetischen Republiken.
Die Konfigurationen der Institutionen in den Staatsapparaten der neuen unabhängigen Länder wurden als „parlamentarisch-präsidial“ oder „präsidial-parlamentarisch“ bezeichnet, obwohl in der Mehrheit der Fälle diese politischen Systeme – weder damals noch heute – das Eine oder das Andere darstellen.
Eher repräsentierten sie damals bzw. repräsentieren sie auch heute noch Autokratien oder Oligarchien mit einem unselbständigen und/oder real machtlosen „Regierungschef“, der weder “Chef” ist noch regiert, sondern lediglich den obersten Staatsbediensteten darstellt und die Rolle eines Sündenbocks spielt, falls sich die Lage im Land verschlechtert.
Ende 2004 begann sich dies in der Ukraine zu ändern, als ausgerechnet die Opposition der Orange Revolution aufgrund kurzfristiger Machtkalkulationen die Übergabe von Präsidentenprärogativen an den Premierminister und die Werchowna Rada (an das Parlament) erwirkt hat und somit eine Ähnlichkeit mit echtem Semipräsidentialismus geschaffen hat.
Seitdem existiert in der Ukraine ein Duumvirat. Obgleich die Machtverteilungsänderung von 2004 wichtig für die Demokratisierung der Ukraine war, hat dies das Strukturproblem des Regierungssystems nicht gelöst, sondern nur modifiziert.
Um zu verstehen, dass Semipräsidentialismus für die Ukraine unzweckmäßig ist, brauchen die Ukraine kaum die Hilfe von politischen Analysten.
Seit dem Jahr 2005 hat das Land so viele qualvolle Konflikte zwischen dem Präsidenten auf der einen Seite und zwei Premierministern auf der anderen Seite durchlebt, dass wohl nur wenige heute noch der Meinung sind, dass diese politische Struktur dem Land gut getan hat.
Politikwissenschaftler (und nicht unbedingt ausländische) könnten lediglich hinzufügen, dass, trotz einer weit verbreiteten Meinung, dieses Problem kein spezifisch ukrainisches ist.
Häufig hört man sowohl unter jüngeren als auch älteren Ukrainern die Einschätzung, dass Demokratie in der Ukraine aufgrund des niedrigen Niveaus der politischen Kultur, moralischen Unzulänglichkeit oder ähnlicher Unzulänglichkeiten der Kiewer Elite nicht funktioniert.
Obwohl eine solche Beurteilung offensichtlich zutreffend ist, sind diese Mängel nicht der einzige und womöglich nicht einmal der Hauptgrund für die destruktiven Konfrontationen zwischen den ukrainischen Machtträger in den letzten Jahren gewesen.
Wie internationale Erfahrung zeigt, sind derartige Zusammenstöße des Präsidenten mit dem Parlament bzw. Regierungschef eine typische Folge von Duumviraten generell und semipräsidentiellen Regime in Übergangsgesellschaften im besonderen.
Die chaotische Politik der Ukraine in den letzten Jahren findet ihre Hauptbegründung nicht in der Rückständigkeit der politischen Kultur der ukrainischen Elite oder Nation, sondern in der Widersprüchlichkeit des Staatsaufbaus der Ukraine.
Die halbpräsidentielle Regierungsform birgt – überall und nicht nur in der postsowjetischen Welt – die Gefahr, natürliche Auseinandersetzungen der politischen Parteien in riskante Konfrontationen zwischen den zentralen Verfassungsorganen zu verwandeln.
Eine solch alte Demokratie, wie die französische, ist imstande, derartige Problemsituationen zu lösen und nennt jene Situation, wenn die zwei wichtigsten staatlichen Posten von den Repräsentanten unterschiedlicher Parteien besetzt werden, euphemistisch „cohabitation“.
In den jungen, ehemals staatssozialistischen und postkolonialen Staaten des postsowjetischen Raumes, zu denen auch die Ukraine zählt, ist die Bedeutung politischer Beschlüsse, die von den obersten Machtträgern getroffen werden, weit höher. Bei deren Entscheidungsfindungen geht es um so fundamentale Fragen wie das Eigentum an Produktionsmitteln, die nationale Identität oder die außenpolitische Orientierung des Landes.
Hier verwandeln sich selbst kleine Schwankungen im Wahlverhalten der Bevölkerung oder Misserfolge bei der Koalitionsbildung zwischen Parteien und Fraktionen leicht in politische Sackgassen, die im schlimmsten Fall zum Bürgerkrieg führen können, wie es in Russland im September – Oktober 1993 passierte.
Im Gegensatz zu stereotypischen Ansichten in der postsowjetischen Welt, haben der Premierminister Großbritanniens oder die Kanzlerin Deutschlands in ihrem innenpolitischen Kontext mehr Macht, als der US-Präsident – zumindest in denjenigen Fällen, in denen die Partei des jeweiligen Präsidenten keine Mehrheit im amerikanischen Kongress hat.
Es sollte freilich hinzugefügt werden, dass nicht nur die „Polittechnologen“ Moskaus, sondern auch eine Reihe renommierter internationaler Politikwissenschaftler Anhänger der präsidialen Regierungsform sind und finden, dass diese Form der Demokratie der parlamentarischen Systemen überlegen ist.
Herausragendes Fallbeispiel ist hier die älteste Demokratie der Welt – die USA. Was allerdings die spezifischen Herausforderungen angeht, mit denen die jungen Demokratien konfrontiert werden, zeigt eine Studie nach der anderen, dass je stärker das Parlament der neuen Republik – desto höher die Chancen für das Überleben von politischem Pluralismus und für die Konsolidierung des neuen Regierungssystems.
Bemerkenswert ist, dass diese Schlussfolgerungen keine Resultate theoretischer Überlegungen von Experten sind, die Sympathien gegenüber der einen oder der anderen Regierungsform haben mögen. Vielmehr basiert die Schlussfolgerung, dass Parlamentarismus für eine neugeborene Demokratie besser als die präsidentielle oder semipräsidientielle Regierungsform ist, auf empirischen Erhebungen und Beobachtungen der realen Welt.
Die Schlussfolgerung hieraus für ein Land, wie die Ukraine, ist eindeutig: für die Schaffung einer stabilen und effektiven Demokratie, sollte das ukrainische politische System eher früher als später in eine parlamentarische Republik transformiert werden. Obwohl sich auch in diesem Fall die heißen politischen Konflikte der vergangenen Jahre fortsetzen dürften, werden sie innerhalb des Parlaments stattfinden und nicht zu Konfrontation zwischen Verfassungsorganen auswachsen.
Die Bildung und der Erhalt von Koalitionen würde zum Hauptinhalt des politischen Prozesses werden und Strategien wie Einschüchterungen, Starrsinn und Bluffs ersetzen, wie sie häufig bei Konfrontationen zwischen den Machtorganen in semipräsidialen Systemen Anwendung finden.
Statt Ideologen, die die Leidenschaften in ihrer politischen Lagern anheizen, werden Parlamentarier, die in der Lage sind, Brücken zwischen den politischen Gegnern zu bauen, Führungsrollen spielen.
Außerdem könnte die Ukraine die enormen Mittel sparen, welche für die Durchführung der Präsidentschaftswahlen ausgegeben werden und statt dessen, diese Ressourcen sowie die freiwerdende politische Energie der Parlamentarier und Regierungsmitglieder für weitere Reformen und die Stabilisierung des jungen unabhängigen Staates einsetzen.
Der Artikel erschien zuerst am 17.03.2009 in der Ukrajinska Prawda.
Bei der Rückübersetzung half Iryna Mosina.