Petro Poroschenko bei einem Arbeitsbesuch im Donbass. Quelle: Präsidialamt
Am 7. Juni 2016 jährt sich die Inauguration von Petro Poroschenko zum Präsidenten der Ukraine zum zweiten Mal. Das heutige ukrainische Staatsoberhaupt wird in der sozialwissenschaftlichen, publizistischen und Medienanalyse des Westens meist in erster Linie in seiner Eigenschaft als „Oligarch“, Großfabrikant, Milliardär (bzw. seit 2014 „nur“ noch Multimillionär), „Schokoladenkönig“, Wirtschaftsmagnat usw. wahrgenommen. Welche historische Rolle werden Geschichtswissenschaftler einst dem Politiker Poroschenko und seinem Einfluss auf das Schicksal seines Landes zuschreiben? Die Beantwortung dieser Frage wird nicht nur von seiner derzeitigen Präsidentschaft bestimmt werden.
Poroschenko war zuvor schon eine aktive, profilierte und sichtbare politische Figur. Er war als Politiker bis 2014 im Ausland nur wenig bekannt, hatte jedoch bereits erheblichen Einfluss auf die Geschicke seines Landes genommen. So war er einer der Mitgründer der Partei der Regionen, die später als die „politische Maschine“ Wiktor Janukowytschs berühmt-berüchtigt wurde. Poroschenko war zeitweise Parlamentsausschussvorsitzender, Sicherheitsratssekretär, Zentralbankchef sowie Außen- bzw. Wirtschaftsminister der Ukraine. Unter dem früheren prowestlichen Präsidenten Wiktor Juschtschenko, für dessen Töchter Poroschenko Patenonkel ist, spielte der heutige Präsident 2005-2010 einen wichtigen Part bei Juschtschenkos bizarren Scharmützeln mit der zweifachen Premierministerin Julia Timoschenko. Während sowohl der Orange Revolution 2004 als auch des Euromaidans 2013-2014 spielte Poroschenko als finanzieller Sponsor der ukrainischen Zivilgesellschaft und mit seinem Fünften Fernsehkanal als regierungskritisches Medium eine – im Sinne der ukrainischen Demokratisierung – weitgehend positive Rolle.
Falls er in seiner verbleibenden Amtszeit keine signifikante Kurskorrektur vollzieht, wird er in der Gesamtschau der ukrainischen Präsidenten jedoch lediglich eine ähnliche Position, wie sein heute weithin verschriener politischer Ziehvater Juschtschenko, einnehmen. Mitte 2016 erscheint Poroschenko als – wie auch Juschtschenko – ein von einer Massenbewegung ins höchste politische Amt gespülter Kleingeist, der die historische Chance, die sich ihm bietet, nicht begreifen kann oder will. Poroschenko hatte (und hat womöglich immer noch) die Möglichkeit, in die Geschichte seines Landes als ein Reformer einzugehen. Er wird jedoch scheinbar bestenfalls als eine ambivalente Übergangsfigur in politisch schwierigen Zeiten in die Geschichte seines Landes eingehen. Schlimmstenfalls könnte weiteres Ungeschick in seiner verbleibenden Amtszeit Poroschenko zwingen, sein Amt in Unehren aufzugeben.
In einer nützlichen Übersicht im wichtigsten neuen russischsprachigen politischen Wochenmagazin der Ukraine „Neue Zeit“ (Nowoe wremja, Nr. 13 [94], 8.4.2016, S. 18-21) unter der Überschrift „Die 10 Fehler des Präsidenten“ hat die profilierte ukrainische Journalistin Chrystyna Berdynskych die schwerwiegendsten Unterlassungssünden Poroschenkos als Präsident der Ukraine prägnant aufgelistet:
- Die Kombination von Geschäftstätigkeit mit dem Präsidentenamt, obwohl Poroschenko vor der Wahl versprochen hatte, etwa seinen Süßwarenkonzern „Roshen“ zu verkaufen;
- Die Duldung der Untätigkeit der Generalstaatsanwaltschaft bei der Korruptionsbekämpfung, obwohl dieses Organ sich unter der faktischen Kontrolle des Präsidenten befindet;
- Die Kooperation mit diskreditierten politischen Figuren, wie Oles Dowhyj, ein windiger ehemaliger Gehilfe des berüchtigten früheren Bürgermeisters von Kiew Leonid Tschernowezkyj;
- Die Fortführung von Günstlingswirtschaft, wie bei der Ernennung des vormaligen Produzenten von Poroschenkos Fünftem Fernsehkanal Jurij Stez zum Minister für Informationspolitik;
- Die Fortsetzung der Praxis von Hinterzimmerdeals mit „Oligarchen“, wie Dmytro Firtasch, Rinat Achmetow und Ihor Kolomojskyj;
- Der schräge Nepotismus des neuen Präsidenten, der seinen zuvor schon offen protegierten leiblichen Sohn im Oktober 2014 zum Parlamentsabgeordneten machte;
- Der Verbleib des Fünften Fernsehkanals im Besitz des Präsidenten nach seinem Amtsantritt, was eine gewisse Ähnlichkeit Poroschenkos zu Silvio Berlusconi erzeugt;
- Die Zulassung dubioser Wahlkampfpraktiken bei den Nachwahlen zum ukrainischen Parlament in der Region Tschernihiw im Juli 2015;
- Die Deckung zweifelhafter Praktiken enger Vertrauter, wie des Parlamentsabgeordneten Ihor Kononenko, dessen Manipulationsversuche im Februar 2016 eine Regierungskrise auslösten;
- Der Skandal um das Auftauchen des Namens von Poroschenko und einiger Personen aus seinem Umfeld in den „Panama Papers“.
Man könnte eine Reihe weiterer Fehlentwicklungen und -entscheidungen unter Poroschenko hinzufügen.
Als mildernder Umstand kann lediglich gelten, dass der heutige ukrainische Präsident mit außen- und innenpolitischen Problemen konfrontiert war, welche die schon enormen Herausforderungen des ersten postsowjetischen ukrainischen Präsidenten Leonid Krawtschuk von 1991 bis 1994 noch übersteigen. Poroschenko ist zu einer Zeit und in einer Situation Präsident geworden, in welcher der ukrainische Staat durch einen neuen Typ hybrider Kriegsführung seitens Russlands massiv unterwandert und von einer ganzen Reihe damit zusammenhängender gleichzeitiger tiefer Krisen in der Wirtschaft, im Staatswesen und in der Gesellschaft erschüttert wird. Vor diesem Hintergrund kann es bereits als Erfolg gelten, dass die Ukraine als Staat überhaupt noch existiert. Es scheint jedoch zweifelhaft, dass künftige Historiker diese für sich genommen beachtliche Errungenschaft in erster Linie dem politischen Geschick Poroschenkos zuschreiben werden.
Die postsowjetische Ukraine hat im Rückblick bislang Präsidenten gehabt, von denen einer schlimmer als der andere war. Vor diesem Hintergrund sollte die Ukraine bei ihrer anstehenden Verfassungsreform das heutige Präsidentenamt durch ein gänzlich neues ersetzen. Das ukrainische Staatsoberhaupt könnte zum Beispiel in etwa demjenigen des deutschen Bundespräsidenten entsprechen, d.h. die Ukraine würde zu einem vollständig parlamentarischen System übergehen. Ein solcher politischer Strukturwandel stände im Einklang mit den Befunden vergleichender Politikwissenschaft, die jungen Demokratien empfiehlt, sich als parlamentarische Republiken zu konstituieren.
Zuerst erschienen in den „Ukraine-Analysen“ der Forschungsstelle Osteuropa Bremen und auf „Focus Online“.
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