Aschenputtel
Noch vor ein paar Jahren hätten wir das ablaufende Jahr 2012 als Zeit des absoluten ukrainischen Triumphs angesehen. Die in der Ukraine stattfindende Europameisterschaft, tausende Gäste aus verschiedenen Ländern, Stadien, Flughäfen, Schnellbahnzüge, neue Straßen und Hotels…Das alles sollte die wahre Entdeckung von unserem Land sein. Und doch, kann man nicht behaupten, dass es das alles 2012 nicht gab! Stadien, Flughäfen und Züge prangten dann auf jedem Wahlplakat der Partei der Regionen. Die Gäste kamen, die Atmosphäre der Meisterschaft beeindruckte, die Entdeckung fand jedoch nicht statt.
Nach ein paar Wochen haben wir die Europameisterschaft vergessen, als es sie nie gegeben hätte. Ja, die Kutsche hat sich sehr schnell in einen Kürbis verwandelt. Vergessen, weil wir uns nach der Abfahrt der Gäste in der erstickenden Atmosphäre eines verfallenden, autoritären und degradierenden Staates wiederfanden. In diesem Staat ist jeder für sich, und alle überleben – von dem sich an Macht und Geld klammernden „Monarchen“ bis zu dem letzten Obdachlosen im Fußgängertunnel unter dem Kreschtschatik.
Vergessen, weil wir uns daran erinnern, dass in der Steppe der nächste Hyundai einfriert, eine Entdeckung des selbstzufriedenen Europameisterschaft-Veranstalters, der vor seiner Einweihung ein festliches Interview nach dem anderen gegeben hatte. Vergessen, weil wir uns in den halbleeren und modernen Terminals erstaunt umsehen, die eigentlich unsere Tore zur Welt sein sollten, und nicht ein Denkmal für den geschlossenen ukrainischen Himmel und die versagenden Transport-Monopolisten.
Vergessen, weil wir stundenlang wenn nicht tagelang auf den vereisten und schrecklich modernen Straßen stecken bleiben. Über die Straßen, die vor der Europameisterschaft nicht repariert wurden, spreche ich erst gar nicht. Unser Land entpuppte sich zum wiederholten Mal als vertrauensseliges und zum fremden Ball gebrachtes Aschenputtel. Vergeblich, dass sie (die Ukraine) den Ball in ihrem eigenen Palast gegeben hat. Sofort nach der Abfahrt der Gäste wurde er von einem bösen Zauberer in ein unscheinbares Häuschen verwandelt, aus dem die Sachen für die Einrichtung von Meshigorje und anderen geschmacklose Residenzen entnommen werden.
Manchmal entsteht der Eindruck, dass die Ukraine das Schicksal von Aschenputtel erwartet. Die Paten bringen sie zum nächsten Ball, und wenn die Gäste von ihrer Schönheit, ihrem Charme, ihrer Güte und Menschlichkeit bis aufs Äußerste fasziniert sind, wird sie wieder in einen Kürbis eingepackt und vor fremden Augen versteckt. Das Aschenputtel hat ein zu großes, von den Paten benötigtes eigenes Gut. Sie werden dieses Gut weder mit dem romantischen europäischen Prinz noch mit dem pragmatischen Kaiser aus Moskau teilen, sie benötigen es selbst. Solange sie alles nicht aufessen, geben sie ihr keine Möglichkeit, ein schönes Kleid und kristallene Schuhe anzuziehen, sich in eine echte Kutsche zu setzen und auf den Weg zu Menschen begeben, mit Hoffnung, dass die Zeit nicht verstreicht und ein Wunder geschieht.
Das Aschenputtel braucht nicht viel, es muss lediglich verstehen, dass diese Paten genaugenommen keine Verwandten und keine Wohltäter sind. Sie sind fremde Menschen, die mit ihm unter einem Dach sind, um nichts zu machen, außer schön zu essen, tief zu schlafen und gemein zu lügen. Der scheinbare Palast erwies sich als Diebeshöhle und als ein in dem ästhetischen Empfinden der Paten nach angemaltes Nest.
Das Aschenputtel braucht kein Wunder, weil es längst über alles verfügt: reicher Erdboden, gutes Herz und himmlische Schönheit. Das Wunder für Aschenputtel verbirgt sich im Begreifen dessen, dass man mit den Paten nicht an einem Tisch sitzt. Das Wichtigste ist daher, sie aus dem Hause zu jagen und bei dem romantischen Prinzen oder dem pragmatischen Kaiser verschwinden zu lassen, falls natürlich nur, wenn sie überhaupt noch jemand benötigt. Für dieses Wunder braucht man keine Fußballmeisterschaft und nicht mal einen Weihnachtsbaum. Für dieses Wunder braucht man lediglich Vernunft.
29. Dezember 2012 // Witalij Portnikow – Chefredakteur und Fernsehmoderator des Programms TVi
Quelle: Lewyj Bereg