Um die ganze Dramatik der Ereignisse zu verstehen, die wir im benachbarten Belarus beobachten, reicht es sich den eigenen ukrainischen Erfahrungen zuzuwenden und sich zu erinnern, wie der Maidan der Jahre 2013/2014 begann und wer am Untergang des Regimes von Wiktor Janukowitsch ein Interesse hatte.
Am Ende des Jahres 2013 hatte sich das Regime Janukowitsch endgültig überlebt, obgleich weder der ukrainische Präsident selbst, noch die Mitglieder seines Familienclans es ahnten und sich sicher waren, dass der Staatschef bei den Wahlen 2015 sicher siegen wird. Nichtsdestotrotz gab es ausreichend Unzufriedene mit den Versuchen Janukowitschs im Land ein kleptokratisches Clanregime zu errichten.
Janukowitsch wurde vom patriotisch eingestellten Teil der Gesellschaft als Verräter wahrgenommen, die ihm das Spiel mit Moskau, die Charkower Vereinbarungen, das Kiwalow-Kolesnitschenko-Sprachgesetz und die Repressionen gegen die Opposition nicht verzeihen konnten. Doch Janukowitsch wurde auch für die ukrainischen Oligarchen inakzeptabel, die begriffen, dass sie im Falle einer Stärkung des Clanregimes ihre Positionen verlieren werden. Es reicht sich des Beispiels von Igor Kolomoiski zu erinnern, der es vorzog die eigene Fluggesellschaft bankrott gehen zu lassen, nur damit sie nicht der verhassten Familie zufiel.
Gleichzeitig zweifelten sie auch in Moskau an Janukowitsch – hauptsächlich deswegen, weil sie dem Menschen, der als Kremlstatthalter wahrgenommen wurde, nicht das ständige Spiel mit dem Westen verzeihen konnten. Und die Entscheidung das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union zu unterzeichnen, hätte der Integration der Ukraine in die Eurasische Wirtschaftsunion und dem folgenden Anschluss der Territorien unseres Landes an die Russische Föderation ein Ende bereitet.
Derart waren praktisch alle an der Schwächung Wiktor Janukowitschs interessiert. Und diejenigen, die man noch mit Mühe zu seinen Anhängern zählen konnte – ein Teil der Bevölkerung des industriellen Ostens – waren zu passiv, um das Regime im Falle seines Zusammenbruchs zu retten und sie meinten in jedem Fall, dass jede derartige Unterstützung – von der Beteiligung an den Schlägerbanden, bis zur Präsenz auf alternativen Demonstrationen zur Unterstützung der Regierung – großzügig bezahlt sein müsste.
Es reichte auch der kleinste Anlass, um das Feuer der Unzufriedenheit zu entfachen. Und dieser Anlass fand sich leicht. Der Kreml bedrängte erfolgreich den ukrainischen Präsidenten, der verzichtete auf die europäische Integration des Landes, Proteste begannen, die nach der Verprügelung der Studenten in den Maidan mündeten. Und diese Proteste riefen in der ersten Etappe weder Ärger der oligarchischen Clans, noch besondere Unruhe beim Kreml hervor.
Die Oligarchen meinten, dass der geschwächte Janukowitsch einfach gezwungen sein wird mit ihnen die Macht zu teilen und die Gefahr der Errichtung einer Familiendiktatur verschwindet von ganz allein. Und in Moskau waren sie sich sicher, dass jetzt, wo hunderttausende Leute auf den Straßen Kiews und anderer Städte der Ukraine waren und Janukowitsch jeglich Möglichkeit für Manöver zwischen Russland und dem Westen verloren hatte, sich ein Fenster für die Aufnahme der Ukraine in die russische Einflusssphäre öffnet. Eben deswegen unterstützten die Oligarchen direkt oder indirekt den Maidan und Moskau drängte Janukowitsch zu möglichst härteren Reaktionen auf die Proteste, begreifend, dass eine härtere Antwort den ukrainischen Präsidenten in einen Aussätzigen verwandelt und Wladimir Putin zu seinem einzigen Verbündeten macht. Und im Ergebnis dieser gemeinsamen Energie des ukrainischen Volkes, der ukrainischen Oligarchen und des Kremls fiel das Regime, obgleich weder die Oligarchen, noch der Kreml darauf abzielten und gezwungen waren, ihre neue Taktik auf eine Situation einzurichten, auf die sie anfänglich nicht vorbereitet waren.
Putin fing anstatt an der Übernahme der Ukraine an der Operation zum Anschluss der Krim und Abhaltung der neuen ukrainischen Regierung von der Integration mit dem Westen mit Hilfe der Eröffnung der zweiten Front im Donbass zu arbeiten. Kolomoiski schützte sein Eigentum im Dnepr-Gebiet, Achmetow stellte die Sirenen an [Anspielung auf eine gegen die Separatisten gerichtete symbolische Aktion in den Achmetowfabriken im Mai 2014. A.d.Ü.] … So gerieten wir mit Ihnen in eine neue Realität und Janukowitsch nach Rostow [am Don in Russland, A.d.Ü.], so erschien für immer der Mythos der ukrainisch-russischen Brüderschaft vernichtet, der jetzt so ausgiebig mit dem Blut der Verteidiger der Ukraine vor der russischen Aggression übergossen ist. Und es begann alles mit Plänen einen Diktator zu schwächen, ihm seine Selbstsicherheit zu nehmen, ihn gesprächsbereiter zu machen.
In Belarus findet alles nach dem analogen Szenario statt. Offensichtlich ist, dass ein großer Teil der Einwohner dieses Landes müde von der langjährigen unangemessenen und ineffektiven Regierung Alexander Lukaschenkos ist. Doch mit dem belarussischen Präsidenten ist nicht nur das eigene Volk unzufrieden. Mit ihm ist man auch in Moskau unzufrieden, da die langjährigen Anstrengungen Wladimir Putins zur Übernahme von Belarus oder wenigstens zur Schaffung der institutionellen Möglichkeiten zu dessen Übernahme sich aufgrund der Hartnäckigkeit Lukaschenkos als unrealisiert erwiesen, der sich nicht vom eigenen Gutshof trennen, aber das Geld Russlands nehmen will.
Es wurde beschlossen die Wahlen in Belarus zur Schwächung der Position des belarussischen Präsidenten zu nutzen, zur Schaffung von Bedingungen zur Sicherstellung der Möglichkeiten für eine Übernahme von Belarus. Zumal Lukaschenko selbst, der im Verlaufe vieler Jahrzehnte sorgfältig das belarussische Feld von all den Politikern und gesellschaftlich Aktiven säuberte, die bereit waren die belarussischen nationalen Interessen zu verteidigen, dafür alle möglichen Voraussetzungen geschaffen hatte. Ja und bei diesen Wahlen hat sich die Situation wiederholt. Eben deswegen erwiesen sich unter den Gegnern Lukaschenkos praktisch keine Leute, die nicht nur über die europäische Ausrichtung von Belarus nachdachten, sondern zumindest die belarussische Sprache sprachen.
Moskau hat auf diese Weise nichts riskiert. Es konnte bluffen, den Oppositionskandidaten Hoffnung einflößen, die mit den russischen Eliten verbunden sind, Lukaschenko mit der eigenen Verwicklung in den Wahlkampf einschüchtern, um bereits dann, nach der unvermeidlichen Fälschung der Wahlergebnisse dem belarussischen Präsidenten zu Hilfe zu kommen und ihn zu zwingen Integrationsdokumente in einer Situation zu unterzeichnen, wenn Lukaschenko die Möglichkeit genommen wurde zwischen Russland und dem Westen zu manövrieren.
Im Prinzip entwickelt sich die Situation von außen betrachtet nach dem russischen Szenario. Doch wie in Kiew 2013, so auch in Minsk 2020 konnten die Russen die Größenordnung der nationalen Unzufriedenheit mit dem diktatorischen Regime und die Folgen der eigenen unvermeidlichen und kompromisslosen repressiven Handlungen dieses Regimes in Bezug auf das eigene Volk nicht abschätzen. Ja, die Belarussen bleiben nicht auf den Straßen ihrer Städte, wie es die Ukrainer taten. Sie schaffen keine Widerstandslager, die dem von der Sache her Lukaschenko’schen Besatzerregime Widerstand leisten. Doch sie gehen konsequent Tag für Tag auf die Straße, dabei ihr Nichteinverständnis mit dieser kritischen Situation demonstrierend, die sich in ihrem Lande im Ergebnis der Regierung eines der abstoßendsten Figuren des modernen Europa ergeben hat.
Und der Kreml unterstützt ebenso konsequent und hartnäckig die Politik dieser Figur, dabei in den Augen der Belarussen alles durch die russische Propaganda Erreichte abwertend, die jahrzehntelang in die Hirne der Einwohner dieses Landes mit Hilfe des verlogenen russischen Fernsehens eindrang, dieser Schandglotze. Und auf diese Weise findet vor unseren Augen, gegen die ursprünglichen Absichten Wladimir Putins die unvermeidliche zivilisatorische Trennung des russischen und belarussischen Volkes statt. Das heißt, es geht das vor sich, was 2014 in der Ukraine stattfand.
Und schon bald entsinnen wir uns, dass das ukrainische und das belarussische Volk mehr zivilisatorische und wertmäßige Übereinstimmungen untereinander haben und, versteht sich, mit anderen Völkern der ehemaligen Rzeczpospolita – den Polen und Litauern, als zivilisatorische und wertmäßige Übereinstimmungen mit den Russen, die im Ergebnis des unvermeidlichen Auseinanderbrechens ihres Imperiums – und wir beobachten gerade eben das – auf natürliche Weise unter den slawischen Völkern allein bleiben werden. Dafür nähern sie sich in weitaus höherem Grade den Völkern des Wolgagebiets und Asiens an, mit denen sie tatsächlich bei weitem ernsthaftere zivilisatorische und wertmäßige Überschneidungen haben.
Aber das sind sozusagen die globalen Absetzbewegungen. Doch die Sache ist die, dass die gesamte sowjetische Trübheit des Lukaschenko-Regimes zurückweicht, doch nicht mit dem Inhalt der «russischen Welt» gefüllt wird, sondern eigentlich mit dem belarussischen nationalen Motiv. Wenn wir die ersten Protesttage noch beobachten konnten, wie die Leute mit den staatlichen rot-grünen Flaggen protestieren gingen, die durch Lukaschenko aufgezwängt wurde und keinerlei Beziehung zum belarussischen Volk hat, dann sehen wir jetzt einfach keinerlei andere Protestfarben, als die weiß-rot-weißen auf den Straßen von Minsk und anderen belarussischen Städten. Es gibt einfach keine anderen Banner. Und gleich nach der Symbolik beginnen sich die wertmäßigen Orientierungen, die kulturellen zu ändern und die russische Sprache Positionen aufzugeben, die bei hartem Nachdenken immer noch eine Stütze für die Russen und nicht für die Belarussen ist. Und schrittweise wird Belarus ein gewöhnliches europäisches Land. Und an die Epoche Lukaschenkos wird man sich mit Schrecken und Verärgerung erinnern.
Klar ist, dass das nicht sofort passieren wird. Dass Putin jetzt alle Möglichkeiten hat, den belarussischen Präsidenten zu zwingen, jedes Integrationsdokument zu unterzeichnen. Das Problem besteht nur darin, dass die Dokumente ein vom Volk verhasster Regent unterzeichnen wird und der Verzicht auf diese Dokumente wird sich im belarussischen politischen Bewusstsein mit der Notwendigkeit des Abgangs von Lukaschenko vereinen. Das Hindernis besteht darin, dass jeder neue Schritt Moskaus zur Unterstützung des belarussischen Präsidenten die russischen Positionen in Belarus nicht stärken, sondern schwächen wird. Und das ist schwer nicht nur mit der Situation von Janukowitsch, sondern sogar mit der Situation des armenischen Präsidenten Sargsjan zu vergleichen, den Putin praktisch zwang auf das Assoziierungsabkommen mit der EU zu verzichten und in die Eurasische Wirtschaftsunion einzutreten. Denn im Moment des Verzichts Janukowitschs und von Sargsjan auf die europäische Integration ihrer Länder hat niemand an der Legitimität der Staatsoberhäupter gezweifelt, die Gesellschaft wollte von ihnen einen Dialog und Erklärungen ihrer Handlungen. Ja und dann, als Sargsjan das Abkommen über die Eurasische Wirtschaftsunion unterzeichnete, stellte niemand in Eriwan sein Recht in Zweifel das zu tun. Eben daher wurden in Armenien die außenpolitischen Verpflichtungen der vorhergehenden Regierung weder von der neuen Regierung noch von der neuen Opposition in Zweifel gezogen. Doch die Belarussen werden die Integration und die Beibehaltung der Diktatur direkt miteinander verbinden, obgleich das nicht zu den ursprünglichen Plänen Putins gehörte.
Daher gibt es für den russischen Präsidenten in dieser Situation keine guten Züge, obgleich er auch meinen könnte, dass er gewinnt, wie er 2014 die Annexion der Krim als seine große Errungenschaft ansah. Wenn Putin Lukaschenko weiter unterstützen und ihm helfen wird an der Macht zu bleiben, dann wird er endgültig im belarussischen Bewusstsein Diktatur und Russland, Blutvergießen und Russland, Gewalt und Russland verbinden. Wenn er dem Abgang von Lukaschenko und einer Demokratisierung von Belarus zustimmt, dann wird sogar der Sieg eines prorussischen Kandidaten bei den Präsidentschaftswahlen nicht die Wahrung der russischen Interessen garantieren.
Denn es wird bereits ein anderes Belarus sein, ein Belarus, in dem ein realer politischer Kampf stattfinden wird. In dem die Wahrheit mit der russischen Propaganda wetteifern wird, in der jedes Integrationsdokument veröffentlicht und verteidigt werden muss. Und in dem hunderttausende Leute in der Lage sein werden auf die Straße zu gehen und die Unabhängigkeit des eigenen Landes zu verteidigen – es wird keinen Lukaschenko mehr geben, der in der Lage ist den Befehl zu geben, sie auseinanderzujagen.
Eben deshalb zerstört Putin in diesen Tagen mit eigenen Händen alle Möglichkeiten für eine Übernahme von Belarus durch Russland. Wie er übrigens 2014 mit eigenen Händen alle Möglichkeiten für eine Übernahme der Ukraine zerstörte. Darin besteht seine historische Rolle.
10. September 2020 // Witali Portnikow
Quelle: Lewyj Bereg
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