Auszehrungskrieg



Einer der lehrreichsten Kriege in der Weltgeschichte war der Zusammenprall zwischen den Amerikas in den Jahren 1861-1865.

In der Konföderation hielt man diesen Krieg für einen Kampf um die Unabhängigkeit. Die Soldaten des Süden glaubten, dass sie ihr Land vor Eroberern schützen und hielten denen des Nordens entgegen: „Wir fechten hier, weil Ihr hier seid!“ Die aufopferungsvollen Südstaatler im Hinterland verzichteten auf das Notwendigste. Sie gaben Glocken und eiserne Statuen zum einschmelzen, bauten aus Behelfsmaterialien Kanonen- und Unterseeboote, gaben sogar der kämpfenden Heimat den Inhalt der Nachttöpfe – aus diesem sollte der defizitäre Salpeter für die Herstellung von Pulver gewonnen werden …

Mit einem Wort, wenn es zu der Zeit Twitter gegeben hätte, wäre zu dieser Zeit aus der Konföderation ein Nachrichtenstrom mit dem Hashtag #Sieg gekommen.

Im Gegensatz dazu war in den Vereinigten Staaten der sich hinziehende Krieg mit den „südlichen Aufrührern“ unpopulär. 1864 gewann der Demokrat McClellan beinahe die Präsidentschaftswahlen, der bereit war sich mit dem Süden zu einigen. Der Versuch die Wehrpflicht einzuführen scheiterte und provozierte einen blutigen Aufstand in New York.

In die Föderationsarmee schrieben sich hungrige irische Einwanderer ein, die kein Englisch redeten, dafür kauften sich wohlhabende Amerikaner vom Dienst für 300 Dollar frei. Viele New Yorker Börsianer freuten sich über die militärischen Misserfolge ihres Landes, die den Preis für Gold nach oben schraubten und sangen offen das Lied der Südstaatler „Dixie“ … Im Allgemeinen, ein einziger #Verrat.

Der Logik der ukrainischen sozialen Netzwerke nach, sollte der Sieg dem waghalsigen Süden gehören. Doch gewann trotzdem der Norden. Denn die Bevölkerung der Union lag bei 21 Millionen Menschen und die der Konföderation bei nur neun Millionen. Denn vor dem Krieg waren im Norden 85 Prozent der Industrie und 81 Prozent des Bankenkapitals konzentriert und im Süden lediglich 15 und 19 Prozent. Denn während des Krieges stiegen die Preise in den USA um 60 Prozent und in den Konföderierten Staaten Amerikas um 4000 Prozent. Die aufgezählten Faktoren erwiesen sich als wichtiger, als irgendeine Tapferkeit, irgendeine Selbstopferung und jemandes patriotische Stimmung.

Ein sich hinziehender Krieg ist vor allem ein Wettstreit der Wirtschaften. Und es siegt nicht der mutigste und edelste, sondern derjenige, der mehr Ressourcen hat. Eben daher haben die unternehmungslustigen Yankees nicht nur die Südstaatler gebrochen, sondern auch die fanatischen Japaner, die bereit waren freiwillig Kamikaze zu verüben. Daher vermochte es das kleine Israel, welches riesige finanzielle Infusionen aus den USA erhielt, jahrzehntelang den benachbarten arabischen Staaten zu widerstehen. Daher hat die UdSSR die Hitlerfaschisten niedergeworfen, die ihre Heimat und ihren Führer nicht weniger liebten, als die sowjetischen Kämpfer.

Es schien so, als ob die Rede von offensichtlichen Dingen geht. Und vor zwei Jahren hätte niemand begonnen darüber zu streiten. Doch als die Ukraine selbst in einen langwierigen Krieg gezogen wurde, haben unsere Gefühle das kühle Urteil überstiegen. Die emotionalen Argumente werden weitaus öfter eingebracht, als die logischen. Infolge dessen hat der hybride Krieg eine Reihe von Mythen geboren, die in der ukrainischen Gesellschaft auf Zuspruch stießen.

Der erste Mythos: Der Sieg über Russland hängt ausschließlich von unserem Kampfgeist ab.

Es ist klar, dass dies nicht die Wahrheit ist. Als der Putin’sche Blitzkrieg im Donbass scheiterte und der Konflikt mit der Russischen Föderation in eine langwierige Phase überging, begann ein zweiter Krieg mit anderen Gesetzen. Der Heldenmut der ATO-Kämpfer ist sehr wichtig, doch das ökonomische Potenzial, die Widerstandsfähigkeit des Bankensystems, der Zustrom an Devisen, das Inflationsniveau sind wichtiger.

Leider Gottes muss man ehrlich eingestehen, dass die Ukraine nicht in der Lage ist, mit Russland allein zu kämpfen. Nicht daher, dass wir unzureichend tapfer oder patriotisch sind, sondern daher, dass das ukrainische Bruttoinlandsprodukt 2014 etwas weniger als 135 Milliarden Dollar betrug und das russische etwas weniger als zwei Billionen. Ob es gefällt oder nicht, es ist so.

Der zweite Mythos: Der Westen hat die Ukrainer bereits seit langem aufgegeben und erweist uns keine reale Unterstützung

Tatsächlich hält sich die Ukraine, die faktisch in den Bankrott getrieben wurde, nur deswegen oben, weil wir nicht allein sind. Dank des Westens halten die Ukrainer trotz alledem die militärische Belastung aus und können eine relativ kampffähige Armee unterhalten.

Dank des Westens hat die Ukraine bisher keine Hyperinflation, keine Hungeraufstände, keinen kommunalen Kollaps und kein vollständiges Versinken im Chaos.

Offensichtlich ist, dass wir in der Lage sind Russland zu widerstehen, lediglich als ein Teil der zivilisierten Welt, die über eine kolossale Ressourcenbasis verfügt. Andere Varianten gibt es für uns – leider oder zum Glück – nicht.

Der dritte Mythos: Die westlichen Sanktionen sind ineffektiv und Europa und die USA wollen nicht wirklich mit Putin kämpfen.

Ungeachtet der Prahlerei des Kremls sind die westlichen Sanktionen sehr ernst, sie bringen Russland einen großen Schaden und ihre Aufhebung ist die vorrangige Aufgabe der Russischen Föderation. Die Sanktionen erwiesen sich als Hauptfaktor, die Putin Neurussland mit Neusyrien austauschen ließen, sich dabei in einen Kämpfer mit dem islamischen Terrorismus umqualifizierend.

Ja, der Westen ist nicht bereit in den Schützengraben zu steigen und für eine Befriedung Moskaus auf Notrationen umzusteigen, doch von ihm werden keine Heldenopfer verlangt. Der Auszehrungskrieg gewährt demjenigen einen Vorsprung, der von Anfang an über die größeren Ressourcen als der Gegner verfügt.

Russlands Ressourcen und die der westlichen Welt sind nicht vergleichbar: Den Ergebnissen des Jahres 2015 nach übersteigt das Bruttoinlandsprodukt des Staates New York das der gesamten Russischen Föderation. Und obgleich aufgrund der Sanktionen und der Gegensanktionen beide Seiten Verluste davontragen, sind sie für den reichen Westen wenig spürbar und für die Russen ist es genau andersherum. Sogar wenn die westlichen Staaten wenig opfern, ist Russland trotzdem gezwungen sich abzumühen.

Der vierte Mythos: Die Ukraine nähert sich dem Sieg, wenn sie Russland selbst in den Auszehrungskampf zieht.

Wie bereits gesagt wurde, bringen die gegenseitigen Verluste der Seite größeren Schaden, die über weniger Ressourcen verfügt. Doch wenn der Westen Russland mehrfach übertrifft, dann ist im Fall von Kiew und Moskau das Kräfteverhältnis direkt umgekehrt.

Der wechselnde Schlagabtausch, wenn wir Lebensmittelblockaden verhängen – führen sie ein Nahrungsmittelembargo ein, wir schalten ihnen den Strom ab – sie stoppen die Verladung von Kohle für die ukrainischen Wärmekraftwerke und so weiter, wird das die Ukraine schneller auszehren, als die Russen. Denn ihre und unsere Möglichkeiten sind von Anfang an ungleich.

Dem Schlächtergeneral Ulysses S. Grant wird folgende Äußerung zugeschrieben: „Sollen die Südstaatler nur zehn meiner Soldaten umbringen – ich werde weitere zehn aufstellen. Doch wenn meine Leute auch nur drei Südstaatler töten, wird General Lee sie mit niemandem ersetzen können.“

Wozu führt die Strategie der ukrainischen Falken, die dazu aufrufen „wirklich zu kämpfen“, „keine Feiglinge und Duldsamen zu sein“, „alles blockieren“, „alle Verbindungen mit dem Aggressor abhacken“ und so weiter?

Von der Sache her ist es der Wunsch unverzüglich drei Südstaatenhelden in den Kampf zu werfen,damit sie zehn der Nordstaatler umbringen. Ja, dabei ergibt sich eine sehr schöne Attacke. Doch nach dem Kampf wird der angeschlagene Norden weitere zehn aufstellen und der ausgeblutete Süden bereits niemanden.

Man kann menschlich die Ukrainer verstehen, die von der Ungewissheit ermüdet sind und entschiedene Schritte erwarten. Doch jeder Schritt sollte wohl abgewogen sein. Andernfalls riskiert die Ukraine eher zusammenzubrechen, als der westliche Druck Russland endgültig entkräftet.

Sogar Hilfe von außen erhaltend, bleibt unser ruiniertes Land äußerst verletzbar. Naiv ist zu hoffen, dass die wirklichen Patrioten jedes Missgeschick ertragen. Das autoritäre Russland hat auch hier Vorteile: es kann leichter seine unterwürfigen Bürger in der Kasernensituation halten. Und für uns geht eine weitere Verarmung mit Massenprotesten und dem Abgleiten des Landes ins Chaos einher.

Wenn man logisch urteilt, dann sieht eine siegreiche Strategie für die Ukraine anders aus: Alle Hauptanstrengungen auf die diplomatische Front konzentrieren, keine Aufhebung der gegen die Russische Föderation verhängten Sanktionen zulassen. Mit Wort und Tat beweisen, dass die Ukraine vorhersehbar und vertragsfähig ist und Russland nicht.

Die Verteidigung halten, das Land reformieren, unser ökonomische Potenzial stärken, eine ungerechtfertigte Verfeuerung von Ressourcen vermeiden. Und den Moment abwarten, wann das Putin’sche Monster unter der Last der militärischen Abenteuer zusammenbricht, wenn die russischen Verluste für die russischen Elite unannehmbar werden. Natürlich ist das ein langer und schwieriger Weg. Er erfordert Ausdauer, Kaltblütigkeit, die Fähigkeit zu manövrieren und zu handeln. In ihm ist wenig edles und heldenhaftes.

Daher sollte die patriotische Öffentlichkeit zuerst ehrlich auf eine einfache Frage antworten: Was ist für uns wichtiger: durchhalten und siegen oder malerisch in der Schlacht mit Mordor fallen?

Schlussendlich hat die zweite Variante auch ihre Vorteile. Möglicherweise wird man irgendwann über die Ukraine irgendetwas episches und schmachtendes schreiben in der Art des unsterblichen Romans „Vom Winde verweht“.

27. November 2015 // Michail Dubinjanskij

Quelle: Ukrainskaja Prawda

Übersetzer:   Andreas Stein  — Wörter: 1406

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