Über viele Jahre hinweg war der 14. Oktober in der ukrainischen Gesellschaft vor allem mit dem Thema der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA) verbunden und begleitet von heißen Diskussionen um die Vergangenheit.
Der Hybrid-Krieg mit Russland verschob die Akzente: bei uns erschien der Tag der Verteidiger der Ukraine und das klangvolle „Ruhm den Helden!“ wurde zu weiten Teilen mit unseren Zeitgenossen assoziiert, mit den Kämpfern der Antiterroroperation (ATO).
Dennoch bleiben die historischen Helden auch im Fokus der Aufmerksamkeit. Es reicht, sich an die viel beachteten Umbenennungen der letzten Zeit zu erinnern, an den ukrainisch-polnischen Konflikt um die tragischen Ereignisse in Wolhynien oder die skandalösen Vorwürfe des israelischen Präsidenten Rivlin im Zuge seines kürzlichen Besuchs in Kiew.
Von außen betrachtet mag es scheinen, dass der ukrainische Umgang mit vergangenen Helden dem russischen in vielem ähnlich ist. In beiden Ländern wird die Geschichte als Kriegsschauplatz verstanden.
Bei ihnen wird auf Schritt und Tritt von den heldenhaften Großvätern verkündet und jeder, der es wagt, von der Legende über die 28 „Panfilow-Leute“ etwas abzuknapsen, wird als „ausgemachter Mistkerl“ bezeichnet.
Bei uns wird der hauptstädtische Prospekt zu Ehren Banderas umbenannt und auf die Israelis und Polen geschimpft, die Anschläge auf das heldenhafte Bild der OUN (Organisation Ukrainischer Nationalisten – Anm. d. Übers.) und UPA verüben. Abgesehen davon gibt es zwischen den historischen Narrativen in der Ukraine und Russland einen prinzipiellen Unterschied.
Russland bewertet die Gegenwart, während es von der Vergangenheit spricht. Die Gegenwart erwächst aus verfestigten historischen Legenden, die Realitäten des XX. Jahrhunderts werden künstlich auf den heutigen Boden projiziert.
Die Russische Föderation identifiziert sich mit der Sowjetunion, Gegner der RF werden automatisch zu den „Faschisten“ gezählt, und die Zuschauer, die vor den Bildschirmen Bier trinken, testen für sich die Rolle der siegreichen Rotarmisten: „Das können wir noch einmal!“, „Wir sind nach Berlin marschiert, wir marschieren auch bis Washington!“ usw.
Der gesamte propagandistische Diskurs in Russland läuft auf Nachahmung hinaus, auf Cosplay, auf ungeschickte Versuche, sich in die Feldbluse der Vorväter zu kleiden.
Im Gegensatz dazu bewertet die Ukraine die Vergangenheit, wenn sie von der Gegenwart spricht.
Unsere historische Legende entsteht unter den Eindrücken der Gegenwart, unser Verständnis des XX. Jahrhundert hängt von den Realitäten der Gegenwart ab. Wir wählen unseren Weg nicht, indem wir uns an den Helden der Vergangenheit orientieren – wir wählen die Helden, die dem Weg entsprechen, den wir uns für die Ukraine vorstellen.
In der Ukraine gibt es und kann es keine massenhafte Nachahmung der Großväter geben: die meisten von uns sind Enkel der Soldaten Stalins, aber die patriotische Weltsicht bringt uns dazu, mit der Ukrainischen Aufstandsarmee zu sympathisieren.
Zehntausende Kiewer, die 2004 auf den Majdan hinaus gingen, haben nie von Roman Schuchewitsch gehört, dafür bedingte ihre bürgerliche Position in der Folge das positive Verhältnis zu dieser historischen Figur.
Und heute inspiriert nicht Bandera die ukrainische Gesellschaft zum Streit mit Russland, sondern die russische Politik regt die Ukrainer dazu an, wieder neu auf den Führer der OUN zu schauen.
Die Aggression des Kreml gegen die Ukraine führte zur Heroisierung der Geschichte in ganz anderer Qualität. Alle Handelnden, die sich Moskau jemals widersetzten, rückten dem modernen Ukrainer deutlich näher und wurden verständlicher.
Ihr Kampf, ihre Ideale, ihre Gefühle und Handlungen scheinen schmerzlich bekannt. Es ist, als wären sie zum Leben erwacht, den Seiten der Geschichtsbücher entsprungen, um sich mit uns in einem hybriden Handgemenge mit Putin zu vereinigen.
Die Kämpfer der UPA stellen sich in eine Reihe mit den unerschrockenen „Cyborgs“ (in der ukrainischen Propaganda die Verteidiger des Donezker Flughafens 2014/2015, A.d.R.), Aktivisten der OUN stellen sich mit den Himmlischen Hundertschaft gleich, selbst der archaische Masepa scheint modern genug, um zum Ärger der Feinde dem wichtigsten Flughafen des Landes seinen Namen zu verleihen.
Der historische Skeptizismus wurde in der Ukraine endgültig vom patriotischen Enthusiasmus verdrängt. Die Helden der Vergangenheit sind uns schon so nahe gekommen, dass Kritik an ihnen schon fast wie Verrat aussieht, ein Schlag aus den eigenen Reihen auf dem Höhepunkt des Krieges.
Das Problem besteht darin, dass diese Nähe trügerisch ist. Außerhalb der Effekte auf die Vorgänge in 2014 – 2015 blieben die ukrainischen historischen Persönlichkeiten Menschen ihrer Zeit mit anderen Werten und anderen Ansichten über die Welt.
Die heutigen Euro-Optimisten und die Nationalisten der 1930er Jahre trennt wie gehabt eine mentale Kluft. Eine unabhängige Ukraine in den Vorstellungen von Konowalez oder Bandera hat noch immer wenig gemeinsam mit den heutigen Idealen. Und viele Aktionen von OUN und UPA können nach wie vor von heutigem Standpunkt aus nicht gerechtfertigt werden.
Um die Illusion der Nähe zu stützen, müssen wir die vergangenen Persönlichkeiten freiwillig oder unfreiwillig unter heutige Standards stellen.
Wir müssen aus der Geschichte den inakzeptablen Teil ihres Lebens und Handelns hinauswerfen und alles unterstreichen, was in unser Wertesystem hineinpasst. In den letzten Jahren führte die ukrainische Politik des nationalen Gedenkens genau dorthin. Dafür projizieren wir auf die modernisierten Helden das, was für uns aktuell ist.
Ja, die Führer der OUN sind jetzt viel populärer als vor dem Krieg. Ja, die Umbenennung des Moskauer Prospekts in Stepan-Bandera-Prospekt hat sehr viele begeistert. Aber seien wir ehrlich: In erster Linie wurde sie als Element eines hybriden Widerstands aufgenommen, als schallende Ohrfeige für den Feind, und erst in zweiter Linie als Gedenken an einen konkreten Menschen.
Der real existierende Bandera erwies sich als praktisch völlig verdeckt von einem propagandistischen Klischee, reduziert auf die Rolle des Mittelfingers, der Moskau gezeigt wird.
So bedeutet die Glorifizierung uneindeutiger Figuren der ukrainischen Geschichte nicht nur Konflikte mit Israel oder Polen.
Am ehesten ist es die Verwässerung der berühmtesten Helden. Indem man aus dem historischen Narrativ alles entfernt, was aus heutiger Sicht unbequem oder inakzeptabel ist, löschen wir ihre Individualität aus.
Anstelle realer Persönlichkeiten bleiben leere Hüllen zurück, die mit modernen Launen und Losungen gefüllt werden. Wollen wir das wirklich?
Die schwierige und dramatische Geschichte der Ukraine ist mehr wert, als ihre Verwandlung in einen aktuellen Bilderbogen.
Es ist die Geschichte lebendiger Menschen, die gekämpft und gelitten haben, geträumt und geirrt, die Fortschritt und Verbrechen vollbracht haben, die kühn und selbstlos waren, despotisch und herzlos.
Jeder von uns hat das Recht selbst zu entscheiden, ob er den Persönlichkeiten der Vergangenheit Bewunderung oder Tadel zollt. Aber in jeden Fall verdienen sie das Recht, sie selbst zu sein und nicht unpersönliche Projektionsflächen heutiger Gedanken und Gefühle.
13. Oktober 2016 // Michail Dubinjanskij
Quelle: Ukrainskaja Prawda
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