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Einflusssphäre

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1945 vs. 1968 Prager Frühling
Vor einem halben Jahrhundert, am 18. August 1968, traf sich die sowjetische Führung in Moskau mit den Regierungschefs der Satellitenstaaten. Dabei vereinbarten die Teilnehmer, gemeinsam Truppen in die Tschechoslowakei zu schicken. So wurde das Schicksal des Prager Frühlings viele hunderte Kilometer entfernt von Prag entschieden.

Nach allem, was die Ukraine in den letzten Jahren durchgemacht hat, versteht man hier nun besser, wie sich die Tschechen damals gefühlt haben. Man will die Veränderung, man träumt von einer Reform des eigenen Landes, man ist voller Hoffnung. Doch plötzlich werden alle Hoffnungen durch eine fremde Macht dem Erdboden gleichgemacht. Und alles bloß weil den Bonzen aus dem Kreml nicht gefällt, was dort vor sich geht. Denn sie halten deine Heimat für einen Teil ihrer eigenen Einflusssphäre.

Heute fragt sich die ukrainische Gesellschaft besorgt, wie sie dieser berühmt-berüchtigten Sphäre entkommen kann. Viele von uns sind sich darin einig, dass man den Russen nicht mehr als „Brudervolk“ gelten darf. Es gilt also sich abzuwenden von der gemeinsamen Geschichte, von gemeinsamen kulturellen Eigenheiten und von der gemeinsamen Sprache. Es gilt jede Ähnlichkeit zu scheuen, wie eine ansteckende Krankheit. Es gilt den Russen fremd zu werden, dann würden sie uns schon in Ruhe lassen.

Diese Idee besticht durch ihre Einfachheit, aber inwieweit deckt sie sich mit dem historischen Erfahrungsschatz?

Tatsächlich konnte man 1968 auch die Tschechen mit gewissen Einschränkungen als Brudervolk ansehen. Der russische Soldat und sein tschechisches Opfer teilten gemeinsame slawische Wurzeln und sie sprachen verhältnismäßig ähnliche Sprachen.

Außerdem empfand ein nicht geringer Teil der tschechischen Gesellschaft für die Befreiung der Tschechoslowakei von den Nazis eine sentimentale Dankbarkeit gegenüber der UdSSR und der sowjetischen Armee.

Die Tschechen leisteten Moskau praktisch keinen gewaltsamen Widerstand. Sie gingen stattdessen mit handgeschriebenen Transparenten auf die Straße und versuchten so bei den Besatzern Scham zu wecken. Das blieb ergebnislos, wie sich unschwer verstehen lässt.

Eine mögliche Sichtweise ist, dass diese „brüderlichen Faktoren“ einen gewichtigen Anteil daran hatten, die Tschechoslowakei in den Umarmungen des Kreml verharren zu lassen.

Doch auch die Ungarn hatten zuvor versucht, dem Orbit Moskaus zu entkommen. Und in den Ungarn ein „Brudervolk“ zu sehen ist nun wirklich unmöglich.

Den russischen Panzerfahrern war das Ungarische, das zu einer ganz anderen Sprachfamilie gehört, komplett unzugänglich. Und im Zweiten Weltkrieg hat Ungarn bis zuletzt gegen die sowjetischen Truppen gekämpft. Die freiheitsliebenden Magyaren erwarteten den Angreifer im Herbst 1956 nicht mit vorwurfsvollen Transparenten, sondern mit Kugeln und Granaten. Leider überzeugte auch das den Kreml aus irgendeinem Grund nicht davon, dass es sich lohnt Ungarn in Ruhe zu lassen.

In der historischen Perspektive hat weder die augenfällige Fremdheit der Ungarn das Entkommen aus der Einflusssphäre Moskaus beschleunigt, noch hat die relative Nähe zu den Tschechen diese verzögert.

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Ungarn und Tschechien haben sich zeitgleich aus den Trümmern des in sich zusammenfallenden eisernen Vorhangs hervorgekämpft, sind 1999 zeitgleich der NATO beigetreten und sind 2004 zeitgleich Mitgliedsstaaten der EU geworden.

Damals, im Jahr 2004, wurde das Nordatlantische Bündnis bedeutend erweitert und durch die unterschiedlichsten ehemaligen Satellitenstaaten Moskaus erweitert. Darunter das nichtslawische Rumänien, das schon unter Ceaucescu eine Sonderstellung fernab von Moskau anstrebte. Aber auch Bulgarien, in dem man kyrillisch schreibt und das in der UdSSR nicht als echtes Ausland betrachtet wurde. Auch Litauen, Lettland und Estland, die mit den Russen durch eine gemeinsame imperiale Vergangenheit verbunden sind.

Alle hier aufgeführten Länder unterscheiden sich auf der Ebene der kulturhistorischen Nähe zu Russland ganz elementar. Aber sie alle verließen den geopolitischen Orbit des Kremls zur selben Zeit und die schwächelnde Großmacht konnte sie nicht am zeitgleichen NATO-Beitritt hindern.

Die Hypothese „Umso weniger wir den Russen ähneln, desto weniger Ansprüche erhebt Moskau“ bestätigt sich in der Praxis nicht. Die gesamte neuere russische Imperialgeschichte von Ungarn und Afghanistan bis Angola und Syrien lässt daran Zweifel aufkommen.

Doch die im Kampf befindliche Ukraine will noch immer an dieser Idee festhalten. Dieses naive Festhalten hat viel von der kindlichen Devise, nach der es ausreicht „Stop, ich bin im Haus/Zick!“ zu rufen, um für den Verfolger unerreichbar zu werden.

„Wir sind im Haus/Zick! Wir sprechen nur ukrainisch! Wir lieben Bandera! Wir sehen euch nicht als verwandtes Volk an! Wir sind Fremde und damit ist es euch verboten, uns zu berühren!“ Viele Patrioten träumen von diesem Allheilmittel.

Sie verstehen den Unterschied zwischen Ursache und Vorwand nicht. Zwischen Motivation und Deklaration, zwischen Inhalt und Verpackung. Sie halten die Losungen Moskaus „wir sind doch Brüder“, „ein Volk“ und „zum Schutze der Russischsprachigen“ für die wirklichen Hintergründe der russischen Aggression. In Wahrheit gibt es aber ganz andere interne Motive, die unter der Propagandahülle versteckt werden.

Es ist nicht die Perspektive eines großen Bruders, die das Fundament der russischen Politik bildet, sondern die eines Spielers. Eines Spielers, der andere Länder und Völker als ihm eigene Schachfiguren betrachtet. Auf dieser Weltkarte tritt die Ukraine nicht als Verwandter auf Abwegen auf, sondern als Bauer, der sich aus unbekannten Gründen weigert von e2 auf e4 zu ziehen. Solche Weltanschauungen lassen keine kulturhistorischen Schranken zu. Auch die Tschechen mit ihrem „Dobry den!“, die Magyaren mit ihrem „Jó napot kívánok!“ und die Syrer mit ihrem „عَلَيْكُمْ اَلسَّلَامُ“ wurden unter bestimmten Umständen zu Bauern von Moskau.

Im Falle Syriens ist es besonders anschaulich, wenn man berücksichtigt, wie unbeschwert die Diskussion in Russland von Donezk und Lugansk auf Aleppo und Palmyra übergegangen ist. Man könnte meinen, der Donbass und Syrien seien so gegensätzlich wie Himmel und Erde. Die Ukraine grenzt an Russland, es wird Russisch gesprochen und die russische Orthodoxie ist stark. Syrien hingegen liegt hinter den sieben Bergen, es wird dieses unverständliche Arabisch gesprochen und dort wohnen diese geheimnisvollen Sunniten und Schiiten.

2015 aber verlor der russische Normalbürger urplötzlich das Interesse an seinen „Brüdern“ aus Neurussland und machte sich mit Eifer daran, die Operation in Syrien zu erörtern.

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Das ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass die Schachfigur „Fernes Syrien“ viel interessanter ist als der „Donbass“. Syrien schien wie eine Einladung Amerikas, weckte mehr leidenschaftliche Gefühle und spielte der imperialen Eigenliebe in die Hände. Eine Großmacht wird nicht durch reale oder herbeigeredete „Brüder“ in Aufregung versetzt, sondern durch das Spiel.

Und solang die Großmacht in Form von Panzern, Geld, Energieträgern oder anderen Ressourcen Hebel besitzt, um auf fremdes Territorium Einfluss zu nehmen, wird es dieses als Sphäre imperialer Interessen ansehen.

Die Großmacht kann sich dabei auf allgemeine Geschichtsereignisse berufen oder auf kulturelle Verwandtschaft. Sie kann auch einen ganz anderen Vorwand nutzen, denn dadurch ändert sich an der Natur imperialer Politik nichts.

Die Ukraine wird der russischen Einflusssphäre also nicht entkommen, indem sie monoethnisch und monokulturell wird. Sondern erst dann, wenn Moskau weniger wirtschaftliche und militärpolitische Optionen hat, so wie es zwischen den 1980er und den 1990er Jahren gewesen ist. Aber bis es soweit ist, wird es trotz allem guten Willen nicht gelingen, sich vor dem Kreml „im Haus/Zick“ zu verstecken.

17. August 2018 // Michail Dubinjanskij

Quelle: Ukrainskaja Prawda

Übersetzerin:   Franziska Jokisch — Wörter: 1137

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