Auf Chaoskurs
Sobald der Kreml davon überzeugt ist, dass Joe Biden nächster Präsident der USA wird, könnte er aufs Ganze gehen. Nicht Wahlmanipulation, sondern das Auslösen von Unruhen in den Vereinigten Staaten wird das Hauptziel der Einmischung Moskaus in die inneren Angelegenheiten der USA sein.
von Pawlo Klimkin und Andreas Umland
In den letzten 15 Jahren hat der Kreml mit Politikern und Diplomaten vor allem der Nachbarn Russlands, aber auch mit dem Westen eine Art Hase- und Igelrennen aus dem bekannten norddeutschen Märchen gespielt. Im Wettlauf in der niedersächsischen Fabel läuft der Igel nur ein paar Schritte, aber am Ende der Furche hat er seine Frau platziert, die ihm ähnlich sieht. Als der siegessichere Hase anstürmt, erhebt sich die Igelfrau und ruft: „Ick bün all hier!“ Der Hase kann sein Niederlage nicht verstehen, führt 73 weitere Läufe durch und stirbt im 74. an Erschöpfung.
Seit Russlands antiwestlicher Wende im Jahr 2005 sind Regierungsanalysten und andere Experten weltweit damit beschäftigt, die nächste Offensive Moskaus vorherzusagen. Doch in den meisten Fällen, in denen die klugen „Hasen“ der Weltpolitik – Diplomaten, Forscher, Journalisten u.a. – ihre Analysen vorstellten, hatte der russische „Igel“ längst sein Ziel erreicht. So war es der Fall bei Russlands Invasion im georgischen Abchasien und Südossetien 2008, bei den „kleinen grünen Männchen“ auf der ukrainischen Krim 2014, bei den Hackerangriffen im Deutschen Bundestag 2015, bei den Luftschlägen in Syrien seit 2015, bei den Cyber-Attacken auf die US-Wahlen 2016 oder beim „chemischen“ Attentat im englischen Salisbury 2018.
Weltweit gibt es Hunderte kompetente Beobachter, die in der Lage sind, scharfsichtige Kommentare zu diesem oder jenem neuen russischen Trick abzugeben. Trotz aller gesammelten Erfahrungen wurden solche Erkenntnisse jedoch in der Regel erst im Nachhinein gewonnen. Bislang überraschten die Planer im Kreml stets ihre westlichen und nichtwestlichen Kollegen und deren Think-Tanks mit immer neuen Vorstößen, asymmetrischen Angriffen, unorthodoxen Methoden und schockierender Brutalität. In den meisten Fällen werden der Einfallsreichtum und die Rücksichtslosigkeit Moskau erst hinreichend gewürdigt, wenn die jeweils neue russische „aktive Maßnahme“, hybride Operation oder unkonventionelle Intervention bereits abgeschlossen ist.
Gegenwärtig bereiten sich viele US-Beobachter – ob in Politik, Verwaltung oder Wissenschaft – möglicherweise wieder auf den letzten Krieg vor. Neue russische Einmischung in Wahlen und andere Einflussoperationen sind in Amerika zwar in aller Munde. Doch wie etwa die Ukraine 2014 bitter lernte, spielt der Kreml nur so lange Softball, wie er glaubt, eine Chance auf Sieg zu haben. Und er bleibt relativ moderat, solange eine mögliche Niederlage – aus Moskauer Sicht – nur mäßig unangenehm wäre. Dies war der Fall, als Russland sich 2016 in die damaligen Präsidentschaftswahlen in den USA aufseiten Trumps einmischte.
Die Erfahrungen der Ukraine in den letzten sechs Jahren lassen ein weit düstereres Szenario für die US-Wahlen 2020 und danach erwarten. Irgendwann während der Euromaidan-Revolution, circa im Januar oder Februar 2014, begriff Putin, dass er möglicherweise die Kontrolle über die Ukraine verliert. Moskaus Mann in Kyjiw, Präsident Wiktor Janukowytsch, könnte – obwohl von Paul Manafort unterstützt – vom ukrainischen Volk hinausgeworfen werden. Im Lichte dieser Möglichkeit vollzog der russische Präsident bereits vor Ende der ukrainischen Revolution einen drastischen Kurswechsel.
Die Medaille des Kremls, die den anonymen russischen Soldaten, welche an der Krimannexion teilgenommen hatten, verliehen wurde, nennt als Anfangsdatum der Operation den 20. Februar 2014. An diesem Tag war der prorussische ukrainische Präsident Janukowytsch noch an der Macht und in Kyjiw anwesend. Seine Flucht aus der ukrainischen Hauptstadt einen Tag darauf und seine Amtsenthebung durch das ukrainische Parlament am 22. Februar 2014 war am 20. Februar 2014 noch nicht klar vorhersehbar. Der Kreml war jedoch bereits von einem Wirtschafts- und Politkrieg gegen die Ukraine zur Vorbereitung eines wirklichen Krieges übergegangen, was für die meisten Beobachter damals noch unvorstellbar war. Etwas Ähnliches mag auch in der heutigen Beschäftigung Moskaus mit den USA ins Haus stehen.
Russische Truppen werden zwar kaum an amerikanischen Ufern landen. Doch das wird scheinbar auch nicht nötig sein. Die Möglichkeit eines gewaltsamen zivilen Konflikts in den Vereinigten Staaten wird heute vor dem Hintergrund der enormen politischen Polarisierung und emotionalen Zuspitzung in der amerikanischen Gesellschaft ohnehin diskutiert. Wie in Putins Lieblingssport Judo – in dem er den Schwarzen Gürtel trägt – kann ein kurzer Moment des Ungleichgewichts des Gegners produktiv genutzt werden und ausreichen, um seinen Sturz zu verursachen. Die Vereinigten Staaten werden vielleicht nicht aus sich heraus in einen größeren zivilen Konflikt gleiten. Doch wird eine Gelegenheit, die USA etwas weiter in diese Richtung zu stoßen, von den einfallsreichen Hybridkriegsspezialisten in Moskau kaum verpasst werden. Und das Spiel, das die russischen „Igel“ spielen werden, könnte ein ganz anderes als 2016 und für die amerikanischen „Hasen“ nicht ohne weiteres vorhersehbar sein.
Hillary Clinton war 2016 eine von Moskau unerwünschte Kandidatin für das amerikanische Präsidentenamt. Heute ist ein Demokrat als Präsident – nach dem Hack der Server der Demokratischen Partei durch Russland 2016 und der bösartigen Kampagne gegen Clinton – eine geradezu bedrohliche Perspektive für den Kreml. Zudem war Joe Biden unter Präsident Obama für die Ukrainepolitik der USA verantwortlich. Er kennt und mag die Ukraine und ist daher für Moskau besonders unakzeptabel.
Nicht zuletzt könnte Moskau mehr Kontakte zu Trump und seiner Entourage gehabt haben, als es der amerikanischen Öffentlichkeit derzeit bekannt ist. Der Kreml würde in einem solchen Fall eine Biden-Präsidentschaft und mögliche Offenlegung zusätzlicher früherer Interventionen in den USA noch mehr fürchten. Für den Kreml steht im Jahr 2020 weit mehr auf dem Spiel, als es im Jahr 2016 der Fall war.
Wenn Trump keine plausible Chance mehr hat, für eine zweite Amtszeit gewählt zu werden, ist bloße russische Wahlintervention möglicherweise nicht mehr die entscheidende Gefahr für Amerika. Moskau könnte schon jetzt an weit finstereren Plänen als Wahlhilfe für Trump arbeiten. Wenn Putin glaubt, dass eine von Biden geführte US-Regierung seine Herrschaft gefährden und wenn er Biden nicht verhindern kann, wird er versuchen, die USA als relevanten internationalen Akteur auszuschalten. Womöglich wird uns der Kreml zum Jahresende wieder zurufen: „Ick bün all hier!“
Pawlo Klimkin war unter anderem in den Jahren 2012-2014 ukrainischer Botschafter in Deutschland und 2014-2019 Außenminister der Ukraine.
Andreas Umland ist Forscher am Ukrainischen Institut für die Zukunft Kyjiw und Schwedischen Institut für Internationale Angelegenheiten Stockholm.