Demo vs. Auto
Die Ukraine muss zum demokratischen Modell zurückkehren. Das findet zumindest der Vorsitzende des Europäischen Rats Hermann van Rompuy. Wenn aber für die europäischen Wohlwollenden die Vorteile der Demokratie offensichtlich sind, so sind sie für die Ukraine nicht ganz eindeutig.
Für manche Ukrainer ist die Demokratie zu einem abstrakten Fetisch ohne tatsächlichen Inhalt geworden. Für die anderen ist „Demokratie“ ein Schimpfwort, welches durch ein r und ein Weichheitszeichen ergänzt wird. (ungefähr: „Scheißokratie“ A.d.Ü.)
Viele Bürger, welche sich zum demokratischen Lager zählen, denken ziemlich autoritär und wünschen einen neuen Bandera zur Bekämpfung der Feinde herbei. Manche verdammen Politiker-Populisten und verfluchte Wähler, die bereits sind, sich für ein Päckchen Buchweizen zu verkaufen. Und der bedeutendere Anteil der Bevölkerung sieht keinen Unterschied zwischen der orangefarbenen Demokratie und dem Autoritarismus Janukowitschs, weil weder damals noch jetzt der lang ersehnte Goldregen vom Himmel fiel.
Und überhaupt, wer sind die Richter? Kämpft das uns belehrende Europa nicht selbst gerade ums Überleben in der Krise? Gibt es denn keine erfolgreichen autoritären Staaten in der Welt? Die Frage ist bei weitem nicht überflüssig. Es lohnt sich, eine vergleichende Analyse der Demokratie und der Autokratie durchzuführen, um ihre Vorteile und Nachteile kritisch zu betrachten.
Die demokratische Ordnung gilt als das effektivste politische Modell. Der Staat lebt von den Steuerzahlern und die Staatsdiener werden von Bürgern für das Ausführen bestimmter Funktionen engagiert, wobei die Demokratie es den Arbeitgebern erlaubt, die eingestellten Arbeiter zu kontrollieren und rechtzeitig auszuwechseln. Eiserne Logik!
Doch diese Logik funktionierte bei einer Demokratie, die durch Besitzverhältnisse begrenzt war. Jetzt haben wir andere Zeiten. Dank dem allgemeinen Wahlrecht wählen nicht nur wirtschaftlich aktive Steuerzahler, sondern auch Randexistenzen und soziale Schmarotzer, welche von sozialen Leistungen leben. Und das bringt so manche Schwierigkeiten mit sich.
Stellen wir uns eine demokratische Insel X. vor, welche von zehn Insulanern bevölkert ist. Vier von ihnen zahlten zehn Münzen in die Inselkasse ein, sechs andere zahlten nichts ein, sind aber zu den Wahlen auch nicht zugelassen. Die demokratische Mehrheit der Stimmen trifft die Entscheidung, den sechs armen Insulanern aus dem Budget Sozialhilfe in Höhe von fünf Münzen zu gewähren.
Der unkomplizierte Weg, Geld zu verdienen, wird populär. Mit der Zeit stellt sich heraus, dass nur drei Insulaner in die Kasse eingezahlt haben, während man an sieben Sozialhilfe auszahlen müsste. Durch die demokratische Abstimmung wir die Steuer auf 15 Münzen erhöht, doch danach bleiben lediglich zwei Steuerzahler übrig. Wie Wiktor Fjodorowitsch zu sagen pflegte, den Rest können Sie sich selbst denken…
Die Demokratie hat aufgehört, Motor der Wirtschaft zu sein, als die Wählerstimme zu einem Instrument der Umverteilung fremder Einnahmen wurde. Zwangsumverteilung ist eine sehr starke Wirtschaftsbremse. Demotiviert werden sowohl die wirtschaftlich aktiven Bürger (warum arbeiten, das Verdiente wird eher abgenommen), als auch die passiven Bevölkerungsschichten (warum arbeiten – das Notwendige bekommt man auch so). Daher rühren die jetzigen Probleme des demokratischen Europas.
Das optimale Modell scheint eine zensierte Demokratie zu sein, wo nur die Geldgeber des Budgets zum Wählen zugelassen sind. Genau das ist die Meinung der radikal Liberalen, welche die Schmarotzer-Wähler wüst beschimpfen. Und sie hätten völlig Recht, wenn sich alles nur durch wirtschaftliche Effektivität messen ließe.
In 1840-er Jahren erlebte Frankreich ein wirtschaftliches Wachstum, von welchem das zeitgenössische Europa nur träumen könnte. Premierminister war zu der Zeit der berühmte Historiker Francois Guizot, ein entschiedener Gegner der Wahlreform und der Milderung des Besitzzensus. Den unzufriedenen Landsmännern sagte er: „Bereichern Sie sich durch Arbeit und Sparsamkeiten und Sie werden zu Wählern“.
Alles scheint richtig und logisch zu sein: das Schicksal des Landes sollen ehrsame Bürger bestimmten, dieses Recht muss verdient werden, die Menschen werden zu einer produktiven Tätigkeit motiviert.
Doch die armen Franzosen hörten seltsamerweise nicht auf den weisen Herrn Guizot , sondern auf die Anführer der Opposition, welche der Masse sowohl das allgemeine Wahlrecht, als auch ein angenehmes Leben versprachen. Das Ganze endete in der Revolution 1848, die den unpopulären Guizot stürzte und Frankreich in ein Chaos führte.
Es wäre naiv, zu glauben, dass die am politischen Geschehen unbeteiligten Bevölkerungsschichten sich mit dem Stand der Dinge abfinden würden. Wenn Menschen nicht mal imaginäre Möglichkeiten der Einflussnahme auf die Situation haben, dann werden sie wahrscheinlich nach Alternativmöglichkeiten suchen. Und das Risiko eines gewaltsamen Ausgangs wäre sehr groß.
Mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts veränderte die demokratische Ordnung allmählich ihr Wesen. Deren Hauptfunktion wurde nicht die effektive Regierung, sondern das Ausgleichen gesellschaftlicher Widersprüche. Die jetzige Demokratie ist vor allem ein Ventil für das Dampfablassen. Ein Puffer für das Dämpfen empfindlicher Schläge. Ein Pendel, welches chaotische Bewegungen in ein harmonisches Hin- und Herwiegen verwandelt.
In dem die moderne Demokratie jedem ein Stimmrecht anbietet, erzeugt sie unweigerlich Fehler, aber sie dämpft die Folgen dieser Fehler. Konflikte, die Mitte des 19 Jh. in Revolutionen und auf Barrikaden ausgetragen wurden, werden in parlamentarischen Diskussionen, Manifestationen, ordentlichen und außerordentlichen Wahlen ausgetragen. Die destruktive Energie der Massen wird in eine relativ ungefährliche Bahn gelenkt.
Ja, die demokratische Rotation der Eliten bringt nicht immer die Besten empor, doch sie entfernt rechtzeitig die unpopulären und verhassten. Ja, die lumpenproletarischen Bevölkerungsschichten werden heute leicht zu einer Beute der Politiker-Demagogen. Aber bei einer begrenzten Demokratie werden diese Lumpen zu einer Waffe der fanatischen revolutionären Anführer.
Was ist schlimmer? Ich glaube, die Wahl von Herrn Hollande sieht attraktiver aus, als das Blut auf den Pariser Straßen von 1848.
Sprechen wir jetzt über die Autokratie. In der modernen Welt kann das autokratische Regieren viel effektiver sein und manchmal ein schnelles wirtschaftliches Wachstum bewirken. Wie wird das erreicht? Das autoritäre Regime kann auf das aktive Umverteilen der Einnahmen verzichten, was sich die durch den Willen der Wähler eingeschränkten Demokratien nicht leisten können. Der Vater der Singapurschen Reformen Lee Kuan Yew sagte direkt: „Wir vermieden Methoden eines sozialen Staates, da wir gesehen hatten, wie das große britische Volk als Folge des sozialistischen Gleichmachens zu einem durchschnittlichen wurde.“
Doch das erfolgreiche Singapur, Taiwan und Chile sind ziemlich seltene Ausnahmen. Gewöhnlich wird der mächtige Anführer-Autokrat selbst zu dem aktivsten Umverteiler und lässt die trägen Demokraten weit hinter sich. Die autoritäre Macht kann die Mittel aus merkantilen Gründen umverteilen, um sich zu bereichern (hallo, Wiktor Fjodorowitsch) oder aus ideellen Motiven, um dem Volk Wohltaten zu erweisen. Die Wirtschaft degradiert in jedem Fall.
Das autoritäre Singapur, welches aus einem Land der dritten Welt zu einem der ersten Welt wurde ist in aller Munde. Doch keiner erwähnt „das Programm der moralischen Gesundheit der surinamischen Nation“ von Dési Bouterse, die antioligarchische Diktatur von Germán Busch in Bolivien, den „Birmanischen Weg zum Sozialismus“ von Ne Win, „den sambischen Humanismus“ von Kenneth Kaunda, das Volksalgerien von Oberst Boumediene oder „die fünf Prinzipien“ des indonesischen Anführers Sukarno.
Diese willensstarken Anführer haben versucht, genau das in der Praxis umzusetzen, was viele gewissenhafte Ukrainer verlangen: soziale Gerechtigkeit, massenhafte Verstaatlichung, eine zwangsweise Durchsetzung einer Moral, Verbreitung einer ausgeprägten nationalen Idee. In allen Fällen folgte ein völliger Absturz, oft mit Blutvergießen.
Theoretisch erlaubt es der Autoritarismus, Fehler zu vermeiden, die einer zensusfreien Demokratie eigen sind. Aber wenn Fehler gemacht wurde, so steigt deren Preis bei einer autoritären Ordnung mehrfach. Die Autokratie besitzt keine Schutzventile, die wichtigste Errungenschaft der modernen Demokratie. Die letzten Ereignisse in Ägypten, Libyen und Syrien sind ein gutes Zeugnis dafür.
Die Ukraine, die von einer starken Hand träumte und Janukowitsch bekam, gehört auch zu der Risikogruppe. Die Probleme, die das Land zu Zeiten der orangefarbenen Demokratie verfolgten, sind nicht gelöst, sondern verstärkt worden. Die wirtschaftliche Situation ist jämmerlich, das regierende Regime äußerst unpopulär und ein friedlicher Machtwechsel erscheint ziemlich zweifelhaft.
Der Glauben an Autokratie ist ähnlich dem Roulettespiel. Der klassische Einsatz auf eine Zahl – Straight Up – erlaubt es, einen 35-fachen Gewinn zu bekommen. Es ist möglich, sich schnell zu bereichern, doch die Wahrscheinlichkeit, alles zu verlieren ist viel höher.
In Brüssel und Strasburg hofft man, dass die Ukraine zur Demokratie zurückkehren wird. Aber sowohl die Stimmung in der Gesellschaft als auch die politische Realität lassen vermuten, dass unser Land auch nach Janukowitsch das verlockende autoritäre Straight Up bevorzugen wird. Die Chancen zu gewinnen wollen wir nicht kommentieren.
18. Mai 2012 // Michail Dubinjanskij
Quelle: Ukrainskaja Prawda