Demokratie - die beste und gleichzeitig schwierigste Staatsform


Wir haben recht große Schwierigkeiten, die Entwicklungsrichtung der Ukraine als Staat festzulegen – denn wir sind selbst nicht sicher, ob die Demokratie ein guter Weg für uns ist. Warum denn nicht eher Monarchie, Diktatur oder Despotie?

Es ist typisch für uns, so zu denken, weil wir schlechte Individualisten sind und wir keine tiefen demokratischen Traditionen haben. Es gibt keine bessere Staatsform als die Demokratie, doch es ist auch nichts schwieriger. Weil man nachgeben können muss. Man muss politisch und kulturell sehr reif sein, um ein echter Demokrat zu sein. Erst recht in einem großen Land.

Deswegen zeigt die Demokratie auch unterschiedliche Ausformungen. England beispielsweise ist ein demokratisches Land, trotz der Existenz der Monarchie. Hier liegt die Macht des Königs oder der Königin darin, ihr Land „geistig“ zu regieren. Jedes Land sucht, entsprechend seinen Traditionen, die für sich beste Demokratieform aus. Es ist unangebracht, blind Demokratieformen zu übernehmen, die andere Demokratien für sich gefunden haben. Jeder sollte entsprechend seinem nationalen Charakter vorgehen. Uns Ukrainern fällt es nicht leicht, Demokraten zu sein. Insbesondere, weil wir nicht auf uns selbst hören, sondern lieber schauen, wie es denn die anderen gemacht haben. Wie Schewtschenko unterstreicht: Wir hören gerne den Deutschen zu, aber nicht uns. Und darin liegt die Schwäche. Daraus muss man hinauswachsen. Eine wirkliche Demokratie gibt es bei uns noch nicht. Daran müssen wir arbeiten.

Doch wenn das so schwierig ist, warum orientieren wir uns dann nicht in die Richtung eines monarchischen Systems? Dann gäbe es einen Führer – den Hetman (Oberhaupt der ukrainischen Kosaken), oder wie auch immer wir den Diktator nennen würden. Und plötzlich würde er uns mit der Peitsche regieren. Eine Diktatur ist auch eine gefährliche Sache. Wer sagt denn, dass der Diktator auch ein guter Staatslenker wird? Und ihn auf gesetzlichem Wege wieder abzuwählen, wäre gar nicht möglich – dazu braucht man dann eine Revolution. Aber eine Revolution ist für sich schon wieder eine Gefahr – es ist von hoher Wahrscheinlichkeit, durch das Blutvergießen einen vollkommen schlechten Führer zu bekommen.

Wir haben gute Chancen, in eine Demokratie hineinzuwachsen. Denn wir haben eine christliche Kultur, wir haben alle ideologischen Grundlagen, um zu Demokraten zu werden. Zur Demokratie muss man erzogen werden. Worin liegt unsere hauptsächliche Schwierigkeit? Sie liegt darin, dass wir 300 Jahre unter Besatzung lebten. Wir haben das Verantwortungsgefühl verloren. Und Demokratie bedeutet Verantwortung jedes Bürgers für das Gemeinwohl. Wir haben dieses Gefühl verloren, haben es vergessen, denn 300 Jahre haben uns mal diese, mal jene Fremde regiert, denen wir die Verantwortung für alles abgegeben haben. Und darin haben wir Trost gefunden, weil wir jemanden hatten, den wir für all die Unordnung beschuldigen konnten. Die Besatzer waren für uns tatsächlich fremd und feindlich. Doch auch jetzt fühlen wir uns nicht als bestimmender Teil am eigenen Schicksal, obwohl es jetzt unsere eigene Regierung ist.

Wir haben die Chance, zu einer echten Demokratie zu werden. Wir müssen uns nur ein wenig Zeit geben und lernen, zu Demokraten zu werden, konsequent diesen Weg zu verfolgen. Wir müssen danach streben. Das ist kein einfaches Problem, weil einige zu glauben scheinen, dass das Volk nur durch die Anwesenheit eines Diktators erzogen werden kann. Von Zeit zu Zeit träumen wir von einem idealen Diktator, der die Menschen lenkt und in 50 Jahren sagen wird: So, es reicht jetzt, ihr seid erwachsen, ihr seid erzogen, es reicht mit der Diktatur, wir werden nun anders leben. Doch so etwas passiert in der Geschichte selten. Normalerweise danken Diktatoren nicht freiwillig ab – ihnen scheint immer, dass es noch nicht an der Zeit ist, dass sie ihre Aufgabe noch nicht vollendet haben. Der Mensch liebt die Macht, und es ist schwierig für ihn, von ihr abzulassen. Daraus folgt, dass die einzige übrig bleibende Möglichkeit ist, seine eigenen Fehler zu machen und sich in Richtung Demokratie zu entwickeln. Die reifste Demokratie ist die britische. Und wann begann sie? Im XIII. Jahrhundert. Kann es also sein, dass wir schon zu spät sind? Manchmal bekommt man zu hören, dass wir niemals eine Demokratie waren, dass das eine für uns fremde Tradition ist. Doch denken Sie an unsere Fürstenzeiten. Sie waren interessant. Die Fürsten waren nicht die einzigen Diktatoren – außer dem Fürsten gab es noch Bojaren und Mönche. Hier ein Beispiel aus dem Leben von Feodosij Petscherskogo: Wenn der Fürst irgendetwas nicht richtig gemacht hat, nicht auf göttliche Art handelte, schloss Feodosij hinter dem Fürsten die Klostertür. Das zeigte ihm: Fürst, du hast da was nicht gut gemacht. Kann man das etwa nicht zu unseren eigenen Demokratiewurzeln zählen?

Außerdem gab es bei uns eine Institution, die sich „Wetsche“ (Volksversammlung) nannte. Zeitweise war es nützlich, zeitweise auch nicht, doch es war eine Äußerung des Volkswillens, auf die der Fürst verpflichtet war, zu hören. Das bedeutet, dass er kein absoluter Diktator war, er musste das Einverständnis und die Unterstützung des Bojaren oder der Wetsche haben.

Danach begannen die schwierigen tatarischen Zeiten, die diese Errungenschaft der russischen Periode zerstörten. Doch erneut können wir einige Anzeichen von Volksherrschaft während der Kosakenzeit erkennen – die Wahlen des Hetmans der Setsch (Selbstverwaltungsorganisation der ukrainischen Kosaken im 16.-18.Jahrhundert) bzw. des Staates. Wir haben das Beispiel eines Hetmans wie Iwan Masepa – er war ein Mensch, der den besten Machthabern Südeuropas in nichts nachstand. Doch kurz danach begann erneut eine Besetzung – und wir haben das Erarbeitete wieder verloren.

Demokratie ist keine Ansammlung von Merkmalen irgendeiner Machtgruppe, sondern sie muss auf dem ganzen Volk aufgebaut sein. Doch wir haben derzeit noch nicht die Stufe von Verantwortung erreicht, die die Demokratie als Unterstützung braucht. Die Verantwortung des Volkes für seinen ganzen Staat, für sein Land, für sein Schicksal. Sie erinnern sich, dass wir gerade einmal herausgekommen sind aus 70 Jahren kommunistischer Herrschaft. Davor war die zaristische Selbstherrschaft. Und das Volk ist darin aufgewachsen. Und es gab auch noch die polnische Schlachta (polnischer Kleinadel) und Könige, die gemacht haben, was sie wollen. Wir sind nicht vernichtet. Aber wir brauchen Zeit, um uns zu ändern. Um besser zu werden. In uns ist noch viel zu viel so, wie es unter den Besatzern geformt worden ist. Und einen Menschen zu ändern, ist ein langer Prozess, der viel Geduld erfordert. So werden wir einige Generationen brauchen, bis unsere Kinder zu der Einsicht kommen, dass das Schicksal meines Staates auch von mir abhängt.

3. Juni 2011 // Ljubomyr Husar ist emeritierter Großerzbischof der mit Rom unierten griechisch-katholischen Kirche der Ukraine.

Quelle: Serkalo Nedeli

Übersetzerin:   Corinna König  — Wörter: 1050

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